Engellieder – Von Rainer Maria Rilke

Aus der Reihe Epoch Times Poesie - Gedichte und Poesie für Liebhaber
Titelbild
Er lernte das Schweben, ich lernte das Leben, und wir haben langsam einander erkannt ...Foto: iStock

Engellieder

Ich ließ meinen Engel lange nicht los,

und er verarmte mir in den Armen,
und wurde klein, und ich wurde groß:
und auf einmal war ich das Erbarmen,
und er eine zitternde Bitte bloß.

Da hab ich ihm seine Himmel gegeben, –
und er ließ mir das Nahe, daraus er entschwand;
er lernte das Schweben, ich lernte das Leben,
und wir haben langsam einander erkannt …

Seit mich mein Engel nicht mehr bewacht,
kann er frei seine Flügel entfalten
und die Stille der Sterne durchspalten, –
denn er muss meiner einsamen Nacht
nicht mehr die ängstlichen Hände halten –
seit mich mein Engel nicht mehr bewacht.

Rainer Maria Rilke (1875 – 1926)



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