Weihnacht – Von Ernst von Wildenbruch
Weihnacht
Es tönt herüber – weit her, weit her –
wie ein Wipfelwehen, wie ein Lispeln süß
aus dem alten Garten, dem Paradies:
Ein Stern ging auf, wie kein Stern je war,
da wurde die Nacht wie der Tag so klar.
Eine Stimme kam aus des Himmels Höh’n:
»Selig die Augen, die solches sehn!
Selig das Ohr, dem die Stimme erklingt!
Selig alles, was Odem trinkt!
Denn das Wunder der Wunder geschah,
Gott wurde Mensch! Gott ist euch nah!
Der sein Kleid sich webt aus dem Sonnengold,
den der Sternenmantel der Nacht umrollt,
er stieg hernieder aus Macht und Gewalt,
zog an des Menschen Leib und Gestalt,
um selbst zu fühlen in Leib und Geist,
was das Menschenleben auf Erden heißt.«
Da wurde süß das bitter Blut,
alles, was böse, das wurde gut.
Kein Hochmut war, kein Neid der Welt,
nicht mehr herrscht das schlimme Geld,
das Herz des Menschen ging liebenden Schlag,
der Mensch war glücklich für einen Tag,
vom Übel erlöst und vom Leib befreit –
das war Weihnacht, die selige Zeit. –
Weihnacht, du strahlender Weltenbaum!
Weihnacht, du sehnender Gottestraum!
Verklungen die Mär – der Stern ist verblaßt,
wiedergekommen sind Leid und Last.
Gut war böse – Liebe entwich –
Haß und Neid in die Herzen schlich.
Giftig das Blut – in den Adern der Welt
rollend geht um das rollende Geld. –
Sehnsucht schleicht an die Tür und weint,
blickt und blickt, ob kein Stern erscheint,
horcht und horcht, ob kein Laut sich regt,
der Himmelsbotschaft herniederträgt. –
Sehnsucht steht schon viele hundert Jahr,
warten und warten noch immerdar.
Störet die heilige Sehnsucht nicht!
Gott versteht, was sie lautlos spricht.
Einmal erinnert vielleicht er sich noch
seiner Menschheit und neigt sich doch;
einmal vielleicht uns vom Himmel her
einmal, noch einmal die Wundermär:
»Frieden auf Erden! Ende dem Haß!
Freude den Menschen ohn‘ Unterlaß!
Von euch genommen ist Bosheit und Neid,
zu euch gekommen Glück ohne Leid!
Seligkeit! Seligkeit!
Weihnacht – Weihnacht, die selige Zeit!«
Ernst von Wildenbruch (1845 – 1909)
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