„Schnapp sie dir, solange sie noch jung sind!” – Welche Musik erzieht unsere Kinder? (Teil 1)

Die meisten heutigen Musikstile haben aggressive Klangeigenschaften. Musik drückt Emotionen aus und ruft sie auch hervor – wenn aber Musik das kann, dann kann sie es natürlich auch in Bezug auf negative und schädliche Emotionen. Eine Analyse von Dr. Miehling, Musikwissenschaftler – Teil 1 von 4.
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Singen oder schreien?Foto: iStock
Von 2. Dezember 2018

Die meisten Kinder und Jugendlichen, aber auch die meisten Erwachsenen, hören vor allem sogenannte Unterhaltungsmusik oder populäre Musik. Sie dominiert unsere Musikkultur nicht nur in den Radioprogrammen und CD- oder MP3-Sammlungen, sondern auch als (Begleit-)Musik im Fernsehen, als Zwangsbeschallung im Supermarkt und in Gaststätten, ja sogar als anheizende Zutat bei Sportveranstaltungen.

Gab es aber in den ersten Jahrzehnten nach dem zweiten Weltkrieg noch einen gewissen Konsens, dass die Aggressivität populärer Musik ebensowenig für Kinder geeignet ist wie der Konsum von Alkohol und Nikotin, so wurden im Laufe der Zeit immer jüngere Zielgruppen von der Unterhaltungsindustrie ins Visier genommen: „Schnapp sie dir, solange sie noch jung sind, und mach dir ihre Gedanken gefügig”, so zitiert John Rockwell einen namentlich nicht genannten Musiker (Literaturangaben siehe unten). Der Artikel besteht aus insgesamt vier Teilen: Teil 1, Teil 2, Teil 3. sowie Teil 4.

Aggressive Musik für kleine Kinder und im Kinderfernsehen

Und das ist die Lage heute: Das Kinderfernsehen schlägt den kleinen Zuschauern aggressives Geknalle um die Ohren. Tanzschulen bieten Kurse speziell für Kinder in HipHop, Streetdance und Breakdance an. In einem Spielzeugkatalog wird eine „Star Party Konsole” beworben, mit der die Kleinen (empfohlen ab 5 bzw. 6 Jahren!) die eigene Stimme zu „peppigen Soundeffekten” aufnehmen und mit einem speziellen Mikrofon verfremden können.

Ein Kindergarten wirbt auf seiner Netzseite: „Im Freiburger Kindernest wird Musik gelebt – vielfältig, rhythmisch (von Samba bis Rap), natürlich und unspektakulär.”

Aber auch das ist die Lage heute: Die registrierte Kriminalität in Deutschland hat sich seit den 1950er Jahren verdreifacht; Umfragen zufolge billigen heute doppelt so viele Menschen wie früher strafbares Verhalten wie Steuerhinterziehung, Sozial- und Versicherungsbetrug. Neun von zehn Jugendlichen werden früher oder später zu Straftätern. In vielen Schulen herrscht ein Klima der Gewalt.

Bildung und Kultur zählten zumindest bis zum PISA-Schock wenig, und auch heute noch geht es für weite Bevölkerungsgruppen in erster Linie um „Spaß haben”. Unter der Oberfläche unserer „blühenden Landschaften” herrscht die Anarchie.

Wer beseitigt das Chaos in den Schulzimmern?

Die umfangreiche kriminologische, soziologische und psychologische Forschung der letzten Jahrzehnte hat kein Rezept dagegen gefunden, die Politik keine wirksamen Maßnahmen vorzuweisen. Schulgebäude werden saniert; doch wer beseitigt das Chaos innerhalb der Mauern?

„Wir sind ratlos.” Das stand 2006 in dem vieldiskutierten Hilferuf der Berliner Rütli-Schule: Pädagogen, also Fachleute in der Erziehung von Kindern und Jugendlichen, wissen nicht mehr, wie sie Disziplinlosigkeit, Leistungsverweigerung und Gewalt begegnen können. Dort soll sich zwar die Situation inzwischen gebessert haben, doch die Meldungen über unfassbare Zustände an unseren Schulen reißen nicht ab.

Augen auf, Ohren zu!

Schon immer gab es Stimmen, welche die Hauptschuld an dieser Entwicklung in den Massenmedien gesehen haben. Doch während die Gefahren von Gewalt in Film und Fernsehen sowie von gewalthaltigen Videospielen zumindest diskutiert werden, wird der Frage, welche Auswirkungen das Hören aggressiver Musik auf junge (und ältere) Menschen hat, praktisch keine Bedeutung beigemessen.

„Schau hin, was deine Kinder machen”, hieß eine Kampagne des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. 50 „Tipps zur Medienerziehung” wurden da geboten unter den Stichworten „Fernsehen”, „Computer”, „Internet”, „Handy”, „Lesen”. – Musik? Fehlanzeige.

Wenn einmal Kritik an Musik geäußert wird, betrifft dies nur die Texte, wie die Diskussionen um Rechtsrock und um sogenannte Pornorapper zeigen. Aber es ist gerade die Verbindung mit dem aggressiven Charakter der Musik, der die Texte so gefährlich macht.

Tatsächlich dürften die meisten populären Musikrichtungen der Gewalt in Filmen und Videospielen an Wirkung kaum nachstehen, und das auch unabhängig von den Texten. Doch warum ist das nicht längst allgemein bekannt?

Zum einen erleben wir subjektiv meist keine Wirkung externer Einflüsse auf unsere Persönlichkeit bzw. unseren Charakter, sondern sehen uns als aus sich selbst heraus in Freiheit handelnde Individuen; dabei ist in der Wissenschaft umstritten, ob wir überhaupt einen freien Willen haben. Unbestritten ist jedenfalls, dass dieser Wille bzw. das, was wir als diesen wahrnehmen, zu einem nicht geringen Anteil von der Umwelt beeinflusst wird. Träfe das nicht zu, so wäre ja auch jede Erziehung, die über das Vermitteln von Wissen hinausgeht, sinnlos.

Nichts prägt Kinder so wie Musik – auch in Bezug auf negative Emotionen

Heute erziehen aber nicht nur Eltern und Lehrer die Kinder, sondern auch die Medien. Ja, sie sind sogar zum mächtigsten Erzieher überhaupt geworden: Der durchschnittliche Jugendliche verbringt mehr Zeit mit Musikhören als in der Schule, und gewiss auch mehr als im direkten Kontakt mit den Eltern, der sich meist auf die gemeinsamen Mahlzeiten (wenn überhaupt) beschränkt. Schon rein quantitativ also prägt nichts die Mehrheit der Kinder und Jugendlichen so sehr wie Musik.

Musik drückt Emotionen aus und ruft sie auch hervor – das entspricht der Lebenserfahrung und ist allgemeiner Konsens. Wenn aber Musik das kann, dann kann sie es natürlich auch in Bezug auf negative und schädliche Emotionen.

Und der musikalische Ausdruck negativer und schädlicher Emotionen wiederum führt zu genau solchen musikalischen Ausdrucksparametern, wie wir sie in den verschiedenen Stilen populärer Musik wiederfinden: Schläge des Schlagzeugs bzw. des Rhythmuscomputers („Beat”), verzerrte Klänge, eine je nachdem aggressive, oder vulgäre, oder auch lüsterne, sexuell auffordernde Gesangsstimme. Hinzu kommt die große Lautstärke, in der diese Musik meist gehört wird.

Um die Parallele zu den visuellen und audiovisuellen Gewaltmedien deutlich zu machen, bezeichne ich Musik, die aggressive Klangeigenschaften besitzt, als „Gewaltmusik”. Dieser Begriff ist zwar nicht völlig, aber doch weitgehend deckungsgleich mit dem der sogenannten populären Musik: Jazz, Blues, Soul, Pop, Rock, Metal, Techno, Rap, um nur die wichtigsten Stile zu nennen.

Der Artikel besteht aus insgesamt vier Teilen: Teil 1, Teil 2, Teil 3. sowie Teil 4.

Zitierte Literatur:

Anderson, Craig A. u. Gentile, Douglas A. u. Buckley, Katherine E.: Violent Video Game Effects on Children and Adolescents, Oxford 2007.
Denselow, Robin: When the music’s Over. The Story of Political Pop, London und Boston 1989.
Figdor, Helmuth u. Röbke, Peter: Das Musizieren und die Gefühle. Instrumentalpädagogik und Psychoanalyse im Dialog, Mainz u.a. 2008.
Hopf, Werner H.: „Mediengewalt, Lebenswelt und Persönlichkeit – eine Problemgruppenanalyse bei Jugendlichen“; in: Zeitschrift für Medienpsychologie 16/2004/3, S. 99-115.
Larson, Bob: Larson’s Book of Rock, Wheaton/Ill ²1988.

Rockwell, John: Trommelfeuer. Rocktexte und ihre Wirkungen, Asslar 1983, 71990.
Roe, Keith: „The School and Music in Adolescent Socialization“; in Lull, James: Listener’s Communicative Uses of Popular Music, S. 140-174.
– ders. (Hg.): Popular Music and Communication, Newbury Park/Calif. u.a. 1987, S. 212-30.
Rötter, Günter: „Musik und Emotion“; in: Motte-Haber, Helga: u. ders. (Hg.): Musikpsychologie, Laaber 2005 = Handbuch der Systematischen Musikwissenschaft 3, S. 268-338.
Schneider, Mark: Vandalismus. Erscheinungsformen, Ursachen und Prävention zerstörerischen Verhaltens sowie Auswirkungen des Vandalismus auf die Entstehung krimineller Milieus, Diss. Würzburg 2001, Aachen 2002.
Schwind, Hans-Dieter: Kriminologie. Eine praxisorientierte Einführung mit Beispielen = Grundlagen 28, Heidelberg 1986, 132003.
Selfhout, Maarten H. W. et al., „Heavy Metal and Hip-Hop Style Preferences and Externalizing Problem Behavior. A Two-Wave Longitudinal Study“, in: Youth & Society 39/2008/4, S. 435-52.
Spitzer, Manfred: Vorsicht Bildschirm! Elektronische Medien, Gehirnentwicklung, Gesundheit und Gesellschaft = Transfer ins Leben 1, Stuttgart, Düsseldorf u. Leipzig 2005.
Schumann, Siegfried: „Mit der Persönlichkeit der Bürger wandelt sich die Republik“; in: Psychologie Heute, Okt. 2005, S. 28-31.
Tame, David: Die geheime Macht der Musik. Die Transformation des Selbst und der Gesellschaft durch musikalische Energie, Zürich 1991 (orig.: The Secret Power of Music, o.O. 1984).

Zur vertiefenden Lektüre:

Miehling, Klaus: Gewaltmusik – Musikgewalt. Populäre Musik und die Folgen, Würzburg 2006. Kompakt und aktualisiert als Gewaltmusik – Populäre Musik und Werteverfall sowie Lautsprecher aus! Zwangsbeschallung contra akustische Selbstbestimmung, Berlin 2010.

Dr. Klaus Miehling (geb. 1963 in Stuttgart) promovierte 1993 an der Universität Freiburg i.Br. in Musikwissenschaft, Kunstgeschichte und Historischen Hilfswissenschaften. Er ist sowohl Autor von verschiedenen Büchern wie „Gewaltmusik – Musikgewalt“ als auch Komponist. Er lebt als freiberuflicher Musiker und Musikwissenschaftler in Freiburg im Breisgau. Der Artikel wurde 2009 geschrieben und im Dezember 2018 aktualisiert.

Mit freundlicher Genehmigung von Dr. Klaus Miehling.

 



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