Das große Problem Lehrermangel: Mehr Schüler und weniger Lehrer verschärfen die Notsituation

Nach Einschätzung des deutschen Lehrerverbandes fehlen zum Schulbeginn 2022/23 an deutschen Schulen bis zu 40.000 Lehrer. Inklusion und ein Zuwachs an Schülern verschlimmern das Problem. Lösungen müssen schnell her.
Titelbild
Schulklassen werden immer größer und Lehrer werden immer weniger.Foto: iStock/tiero
Von 5. Januar 2023

Laut Verbandspräsident Heinz-Peter Meidinger habe sich der Lehrermangel an deutschen Schulen deutlich verschlechtert. „Bundesweit gehen wir von einer echten Lücke von mindestens 30.000, vielleicht sogar bis zu 40.000 unbesetzten Stellen aus“, so Meidinger.

Vor allem würden voll ausgebildete Lehrkräfte fehlen. Laut Vorsitzender der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW), Maike Finnen, habe sich die Situation im Vergleich zum Vorjahr verschärft. In Berlin sind beispielsweise nur 60 Prozent der ausgeschriebenen Lehrstellen besetzt. Bereits zum Beginn des Schuljahres gebe es deutschlandweit Unterrichtsausfall, Lerngruppen müssen vergrößert werden.

Das Problem ist die Lehrerausbildung

Der Bildungsexperte Mark Rackles fordert in Anbetracht des Personalmangels eine engere Zusammenarbeit der Länder – in Form eines Staatsvertrags. Die Länder würden insgesamt 18 Prozent weniger Lehrkräfte ausbilden, als sie Lehrkräfte einstellen. Er schlussfolgert daher: „Wir haben kein Versorgungsdefizit, wir haben eine Versorgungskrise.“

Rackles kritisiert, dass jedes Land seinen eigenen Weg gehe, um den Personalmangel zu beheben. Daher fordert er, dass die Länder den Ausbau der Studienplätze mit einem gemeinsamen Staatsvertrag mit oder ohne den Bund fixieren.

Das Problem entstehe laut Ties Raabe (SPD), Hamburger Senator für Schule und Berufsbildung, allerdings bereits vor der Lehrerausbildung: Es gebe nicht genügend Bewerber an den Universitäten. Selbst wenn die Ausbildungskapazitäten aufgestockt würden, fehlen Personen für das Studium. In den vergangenen zehn Jahren sind die Lehramtsabsolventen um 13 Prozent zurückgegangen – obwohl die Studienplätze erhöht wurden.

Im Jahr 2030 soll es laut einer Prognose der Kultusministerkonferenz (KMK) ein Defizit von 2.180 ausgebildeten Lehrkräften geben. Lediglich die gymnasialen Oberstufen, berufsbildende Schulen und Weiterbildungsschulen für Erwachsene sollen in den kommenden Jahren ein Überangebot haben.

Die Situation an den Schulen verschärft sich zudem durch eine Zunahme an Schulkindern. Bis zum Jahr 2035 soll es laut KMK knapp eine Million Schüler mehr geben. Geflüchtete Kinder und Jugendliche sind in der Modellrechnung nicht berücksichtigt.

Ukrainische Flüchtlingskinder: Es braucht 24.000 Lehrer

Im April 2022 äußerte die Präsidentin der KMK, Karin Prien: „Die Bundesregierung geht davon aus, dass eine Million Menschen aus der Ukraine nach Deutschland kommen könnten. Davon werden sicherlich 40 Prozent Schülerinnen und Schüler sein. Das wären dann bis zu 400.000 junge Menschen.“

Nach Berechnungen der KMK werden ungefähr 60 Lehrkräfte pro 1.000 Schüler gebraucht. Das würde einen Bedarf von 24.000 zusätzlichen Lehrkräften bedeuten. Für 400.000 Kinder und Jugendliche aus der Ukraine wären das 24.000 Lehrer.

Tatsächlich waren nach Angaben des Bundesinnenministeriums unter den registrierten Geflüchteten von April bis Dezember 2022 rund 355.000 Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren. Die Lehrer für eine entsprechende Betreuung fehlen.

Lehrermangel ist hausgemacht

Der OECD-Bildungsdirektor Andreas Schleicher mahnt zu Reformen im deutschen Schulsystem, um den Lehrerberuf attraktiver zu machen. Damit meine er allerdings nicht mehr Gehalt, sagte er der „Stuttgarter Zeitung“ und den „Stuttgarter Nachrichten“.

„Geld verdienen die Lehrer in Deutschland genug. Finanziell ist der Beruf hier sehr attraktiv, auch und gerade im internationalen Vergleich.“ Das Problem seien die Arbeitsbedingungen.

„Der Lehrerberuf ist in Deutschland intellektuell zu unattraktiv, und die Lehrer haben viel zu wenig die Gelegenheit, das zu tun, wofür sie eigentlich in den Beruf gegangen sind: nämlich jungen Menschen zu helfen, ihren Weg zu finden, und sie auf diesem Weg zu begleiten“, sagt Schleicher. „Der Lehrermangel in Deutschland ist hausgemacht. Da muss sich viel ändern“, schlussfolgert er.

Der Bildungsdirektor vergleicht Schulen mit einem Fast-Food-Restaurant und sagt, dass Schüler häufig nur Konsumenten seien, die den Lernstoff serviert bekommen. „Die Lehrer sind Service-Dienstleister, die das vorgefertigte Essen aufwärmen und herüberreichen sollen. Eltern sind Kunden, die sich gelegentlich beschweren, wenn etwas nicht in Ordnung ist. Diese Abläufe frustrieren alle.“

Lösung: Ein-Fach-Lehrer

Ein Lösungsvorschlag gegen den Fachkräftemangel ist, das Prinzip der Zwei-Fach-Lehrkräfte durch Ein-Fach-Lehrkräfte zu ersetzen. Der Erziehungswissenschaftler Wolfgang Böttcher befürwortet das Ein-Fach-Lehrsystem:

Ich plädiere für die systematische Einführung des Ein-Fach-Lehrers für die Sekundarstufen. Die Ein-Fach-Lehrkraft studiert ein Fach bis zum Bachelor-Abschluss: Für die Studierenden, die das Berufsziel Lehrerin oder Lehrer fest im Blick haben, ist der Raum für begleitende Fachdidaktik groß. Wer Schülerinnen und Schüler in der Sekundarstufe II unterrichten will, müsste das Masterstudium im Fach absolvieren, wer mit der Fixierung auf ein Fach unzufrieden ist, kann selbstverständlich ein zweites Fach studieren.“

Der Bildungsexperte Klaus Klemm entgegnet allerdings, dass beispielsweise für Grundschulen die Ein-Fach-Lehrerausbildung nicht denkbar ist, „weil für den Grundschulunterricht die Regel gilt, dass die Lehrerinnen und Lehrer nach dem Klassenlehrerprinzip den Unterricht einer Klasse in mehreren Fächern erteilen sollen.“

Lediglich für gymnasiale Schularten der Sekundarstufe I seien die Voraussetzungen für Ein-Fach-Lehrer erfüllt. Dort sei nach Einschätzung von Klemm diese Regelung allerdings nicht realistisch.

Zahlreiche Unterrichtsfächer (Biologie, Chemie, Geografie, Geschichte) seien in den Klassen fünf bis zehn mit maximal zwei Wochenstunden je Jahrgangsstufe vertreten. Somit wären Lehrer, die eines dieser Fächer in einer Ein-Fach-Ausbildung studiert hätten, in keiner Klasse mehr als zwei Wochenstunden vertreten.

Dies würde eine pädagogisch zu verantwortende Klassenleitung nahezu ausschließen – unter anderem mit der Folge, dass Klassenleitungen nur noch von den Lehrkräften übernommen werden könnten, die Vier-Stunden-Fächer studiert haben, also in erster Linie von Lehrkräften mit einer Lehrbefähigung für Deutsch, Mathematik oder eine Fremdsprache.“

Zudem befürchtet der Bildungsexperte, dass die Regelung von Ein-Fach-Lehrkräften Auswirkungen auf die Besoldung hätte. Die Studienzeit würde sich verkürzen, sodass es nicht lange dauern werde, „bis Finanzpolitiker Konsequenzen für die Besoldung fordern würden“.

Kernfächer abdecken, Klassen vergrößern

Klemm befürwortet dafür, dass das Staatsexamen im zweiten Fach nachgeholt werden kann. „Dieser Weg böte auch in unseren Tagen die Möglichkeit, Mangelsituationen zumindest für eine begrenzte Zeit abzuschwächen. Mehr aber auch nicht“, betont er.

Die Erziehungswissenschaftlerin Felicitas Thiel ruft zu einer Priorisierung auf: „Es muss sichergestellt sein, dass die Kernfächer abgedeckt sind. So könnte ein Lehrer, der Sport und Mathe unterrichtet, seine Mathestunden aufstocken.“

Weitere Sofortmaßnahmen gegen Unterrichtsausfall sind für Thiel: weniger Teilzeitoptionen für Lehrer und eine Erhöhung der Klassengröße. „Schon ein Schüler mehr pro Klasse würde viel bringen. Auch wenn das oft bezweifelt wird: Aus Sicht der Unterrichtsforschung ist die Klassengröße in den meisten Fächern nicht relevant für die Lernergebnisse der Schüler.“

Auf lange Sicht müssten allerdings vor allem die Arbeitsbedingungen in den Blick genommen werden. Schleicher fordert daher, dass Lehrer Freiräume haben, eigene Ideen zu entwickeln und kreative Unterrichtskonzepte zu erproben. „Sie brauchen Gelegenheiten für den Austausch und für die gemeinsame Arbeit im Team.



Kommentare
Liebe Leser,

vielen Dank, dass Sie unseren Kommentar-Bereich nutzen.

Bitte verzichten Sie auf Unterstellungen, Schimpfworte, aggressive Formulierungen und Werbe-Links. Solche Kommentare werden wir nicht veröffentlichen. Dies umfasst ebenso abschweifende Kommentare, die keinen konkreten Bezug zum jeweiligen Artikel haben. Viele Kommentare waren bisher schon anregend und auf die Themen bezogen. Wir bitten Sie um eine Qualität, die den Artikeln entspricht, so haben wir alle etwas davon.

Da wir die Verantwortung für jeden veröffentlichten Kommentar tragen, geben wir Kommentare erst nach einer Prüfung frei. Je nach Aufkommen kann es deswegen zu zeitlichen Verzögerungen kommen.


Ihre Epoch Times - Redaktion