Der Spagat zwischen Corona-Prophylaxe und kindgerechter Bildung

Seit der Corona-Krise hat sich vieles in den Schulen verändert. Vor allem im sozialen Bereich hat es tiefe Einschnitte gegeben. Täglich müssen Lehrkräfte die Corona-Maßnahmen mit den echten Bedürfnissen der Kinder und Jugendlichen abwägen, die teilweise in Depressionen verfallen sind. Trotz aller Probleme sieht die Vorsitzende des Allgemeinen Schulleitungsverband Deutschland  Gudrun Wolters-Vogeler jedoch eine große Chance.
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Blick in ein Klassenzimmer.Foto: iStock
Von 19. November 2021

Hygienekonzept, Maskenpflicht, Corona-Tests. Seit mehr als eineinhalb Jahren sind die Corona-Maßnahmen zentraler Dreh- und Angelpunkt für die Bildung an deutschen Schulen. Dabei haben vor allem der Lockdown und der ständige Wechsel zwischen Präsenz- und Online-Unterricht Spuren bei den Kindern und Jugendlichen hinterlassen. Epoch Times sprach mit Gudrun Wolters-Vogeler, Vorsitzende des Allgemeinen Deutschen Schulleitungsverbands und Schulleiterin der Hamburger Grundschule „An der Haake“.

Epoch Times: Welche Veränderungen konnten Sie seit dem Lockdown bei den Kindern und Jugendlichen an den Schulen wahrnehmen?

Gudrun Wolters-Vogeler: Fangen wir bei den Kleinen an. Bei den Schulanfängern fehlen vor allem soziale Fähigkeiten, weil die Gruppenprozesse in den Kitas oft unterbrochen wurden. So etwas wie Warten, sich in einer Reihe aufstellen, zum Teil auch sich selbstständig beim Sport an- und umziehen, sind Dinge, die deutlich weniger ausgeprägt sind. Das geht weiter bis zu der Frage, wie man eine Schere halten muss – also ganz klassische Sachen, die Kinder im Kindergarten lernen, können wir jetzt nicht mehr als selbstverständlich voraussetzen.

Bei den größeren Schülern gestaltet sich der Wechsel in Klasse 5 in die neue Schulform schwieriger. Die Kinder müssen sich ohnehin in die neuen Gruppen einfinden. Dazu kommt jetzt aber noch die Frage, inwieweit die Schüler in der Zeit digital gearbeitet haben. Mit den Kindern wurde zwar der Unterrichtsstoff erarbeitet, aber gleichzeitig haben sie während der Schulschließungen auch sehr viel Zeit allein vor dem Computer verbracht.

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Dadurch haben sie teilweise ein sehr merkwürdiges Selbstbild entwickelt. Gerade Mädchen, die sich in der Pubertät und damit auf Identitätssuche befinden, schauen dann auf verschönte Bilder von anderen Mädchen oder Frauen. Wenn sie sich mit ihnen vergleichen, zweifeln sie, ob sie überhaupt noch richtig sind. Wenn man sich falsch fühlt oder meint, dem Anspruch nicht zu genügen, wirkt sich das auch auf die Lernsituation aus. Auch aus der letzten OECD-Studie geht hervor, wie wichtig es für die Lernfortschritte ist, dass die Schülerinnen und Schüler sozialen Anschluss in der Schule finden. Es gibt Schüler, die an Depressionen leiden. Laut der Studie sind Mädchen dreimal so häufig betroffen wie Jungen. Wenn sie depressiv sind, können sie natürlich den Lernstoff gar nicht erfassen oder abrufen.

ET: Wie können Lehrer unterscheiden, ob die Kinder depressiv sind oder einfach nur keine Lust haben?

Wolters-Vogeler: Natürlich sind Lehrkräfte keine Psychologen. Aber die Anzeichen und Tendenzen, gerade wenn man die Kinder vorher schon gekannt hat, können wir Lehrer schon sehen. Wenn wir merken, dass es besorgniserregend ist, schalten wir andere Professionen mit ein, damit man den Kindern helfen kann. Was ihnen im Rahmen der Schule dann wirklich hilft, sind reale Gruppenerfahrungen. Es geht nicht nur darum, dass sie Deutsch, Mathe, Englisch lernen. Sie müssen sich als selbstwirksam erfahren, beispielsweise auf Klassenreisen oder in Projekten.

ET: Ist das in den klassischen Schulen momentan umsetzbar?

Wolters-Vogeler: Das ist ein Spagat zwischen dem, was medizinisch als Corona-Prophylaxe gilt, und dem, was pädagogisch sinnvoll ist. Das ist aber eine Abwägung, die überall und immer wieder stattfinden muss. Vor allem im Sport sehe ich die Möglichkeiten, Gemeinschaftserlebnisse zu vermitteln und Gruppenprozesse zu stärken. Das kommt letztendlich auch dem Lernen zugute. Auch gemeinsame Konzerte oder Theaterprojekte sind etwas, das das Selbstbewusstsein ganz maßgeblich beeinflusst, wenn Kinder auf der Bühne stehen. Das hebt das Selbstwertgefühl. Sie müssen sich jenseits der Digitalität erleben. Ich will überhaupt nichts gegen digitale Bildung sagen, aber man muss auch immer die Auswirkungen im Blick haben.

Auf der anderen Seite haben es die älteren Schüler leichter gehabt in den Lockdown-Phasen, weil sie die Grundfertigkeiten Lesen, Schreiben, Rechnen schon beherrschten und sich viele Sachen selbstständig erarbeiten konnten. Das ging bei unseren ganz kleinen Schülern nicht. Da mussten die Eltern mithelfen. Man kann nicht pauschal sagen, dass hier nur die sozial Schwachen oder Migranten benachteiligt waren. Auch Kinder aus anderen Schichten konnten betroffen sein, wenn ihre Eltern weiterhin ihrer Arbeit nachgehen mussten, während die Kinder zu Hause mehr oder weniger auf sich allein gestellt waren.

Für Schüler, die Deutsch als Zweitsprache sprechen, bedeutete der Lockdown Rückschritte, weil sie zu Hause kein Deutsch gesprochen haben. Wenn man eine neu erlernte Sprache nicht spricht, dann geht das Erlernte erst mal wieder teilweise verloren und man muss wieder an das Gelernte anschließen.

Auch bei den Schulabgängern gab es Unterschiede. Es gab durchaus Jugendliche, die es sehr genossen haben, im eigenen Tempo zu arbeiten. Das wurde durch das digitale Lernen plötzlich möglich. Wir hatten einige Schüler, die exorbitante Fortschritte gemacht haben, einfach weil sie an Sachen gearbeitet haben, die sie interessierten und wo sie Erfolgserlebnisse hatten. Man kann also nicht pauschal sagen, das war gut oder das war schlecht. Also es gab auch Kinder, die den Lockdown genutzt haben, sodass sie ihr Potenzial entfalten konnten.

ET: Hat man durch die ganze Corona-Krise also neue Mittel und Wege gefunden, das Potenzial der Kinder zu fördern?

Wolters-Vogeler: Jein. Die Zeit der Lockdowns hat uns gezeigt, dass wir als Schulsystem eigentlich nicht das bringen, was wir bringen müssten, nämlich jedem Lerner ein angemessenes und herausforderndes Lernangebot offerieren.

Anstatt jetzt die Differenzierung der Lernangebote für die Kinder und Jugendlichen voranzutreiben, damit sie ihre Aufgaben aussuchen und ihre Potenziale voll entfalten können, gibt es Aufholprogramme. Da geht es darum, dass alle den Unterrichtsstoff schnell aufholen. Das ist die große Schwierigkeit, vor der wir jetzt stehen.

Es besteht aber auch die Chance, dass man schaut, was die Kinder jetzt an Wissen und Fähigkeiten mitbringen, was man daraus macht und wie man die Schulbildung wirklich verändern kann. Das wird im Moment aber noch nicht als Chance wahrgenommen; jedenfalls in den meisten Bundesländern nicht.

ET: Was bräuchte es dazu?

Wolters-Vogeler: Den Kindern und Jugendlichen müssten mehr Themen zur Auswahl stehen, die sie interessieren und an denen sie kompetenzorientiert arbeiten können. Dafür brauchen sie aber auch Rückmeldungen, ob sie auf der richtigen Spur sind. Wie geht es weiter? Wie ist mein nächster Schritt? Dafür brauchen sie Beratung und Unterstützung. Wir müssten also ein Stück weg von dem einen Unterricht für alle gleichzeitig und stattdessen eine Lernbegleiter-Situation aufbauen, wo die Kolleginnen und Kollegen die Schüler individuell durch die Prozesse begleiten und gleichzeitig die soziale Situation in der Gruppe im Blick haben. Das würde jetzt helfen.

Aber leider haben wir einen extremen Fachkräftemangel. Selbst wenn wir sagen, dass der Staat ein paar Stellen zur Verfügung stellt, wird es unheimlich schwierig, diese mit wirklich qualifiziertem Personal zu besetzen. Im Moment haben wir insgesamt in der Bundesrepublik auch sehr viele unbesetzte Lehrerstellen. Weil es nicht genügend Lehrkräfte gibt, werden Anstrengungen unternommen, Quereinsteiger einzustellen und die Leute nachzuqualifizieren.

Diese beiden Sachen – also der Bedarf an Potenzialentwicklung der Schüler einerseits und der Lehrermangel andererseits – stellen eine sehr große Herausforderung dar.

ET: Wie sind die Erfahrungen mit den Quereinsteigern?

Wolters-Vogeler: Sehr unterschiedlich. Häufig bringen sie keine didaktisch-methodischen Kenntnisse mit, sodass die unterrichtenden Lehrer ihnen bei der Qualifikation helfen sollen und wollen. Durch den Personalmangel arbeiten aber die Lehrkräfte ohnehin schon am Limit. Sie sind aber die Einzigen, die das Wissen weitergeben können. Es gibt in einigen Bundesländern richtige Programme, wo die Quereinsteiger ein oder zwei Tage berufsbegleitend in Landesinstituten weiterqualifiziert werden, das ist aber nicht überall so. Die Adaption auf Unterricht bleibt aber an den Kollegen „hängen“, die ohnehin schon an ihrer Grenze sind.

ET: Ist diese Grenze in manchen Schulen überschritten?

Wolters-Vogeler: Ja. Schon vor zwei Jahren haben wir als Schulleitungsverband eine Presseerklärung herausgegeben mit der Frage: Was können wir als Bildungssystem eigentlich noch leisten? Damals gab es in Sachsen und Berlin mehr Quereinsteiger, die in den Schuldienst gekommen sind, als Studienabgänger. Das hat seine Auswirkungen.

ET: Woran liegt das?

Wolters-Vogeler: Einerseits besteht ein Imageproblem, der Lehrerberuf ist nicht mehr so attraktiv wie früher. Andererseits gehen die Lehrkräfte aus den geburtenstarken Jahrgängen langsam in Richtung Rente. Es gibt auch keine Werbung für den Beruf oder eine Steuerung, wie viele Lehrkräfte gebraucht werden. Jetzt werben sich sogar die Bundesländer gegenseitig die Lehrer ab. Das kann nicht im Sinne des Erfinders sein!

Formal können die Quereinsteiger Stunden erteilen, aber was dahinter steht, sieht man nicht. Die Qualität des Unterrichts ist aufgrund der fehlenden pädagogischen Qualifizierung auch eine andere. Natürlich gibt es auch Naturtalente, die einen richtig guten Job machen, denen die Arbeit wirklich liegt. Das sind dann Leute, die eigentlich schon früher Lehrer werden wollten, es aber aus irgendwelchen Gründen nicht gemacht haben. Das sind aber eher Einzelfälle.

Wenn ein Physiker an eine weiterführende Schule kommt, und die Materie mit einer anderen Tiefe erklärt und Experimente mit den Schülern macht, dann ist das durchaus reizvoll und ertragreich für die Schüler. Die Schüler im Sekundarbereich wägen schon sehr genau ab, inwieweit der Unterricht sie bereichert und voranbringt. Auf der anderen Seite geht es aber auch hier wieder um die Gruppenprozesse, die man im Blick haben muss.

ET: In den vergangenen Monaten mussten sich die Schulen vor allem um Hygienemaßnahmen und digitale Bildung kümmern. Wie sieht es aber mit dem Sanierungsstau an den Schulen in Deutschland aus?

Wolters-Vogeler: Hamburg ist relativ gut dran. Aber bundesweit ist das immer noch ein großes Thema. Während Corona wurde natürlich weniger gebaut, weil häufig Kurzarbeit bestand oder auch Lieferketten abgebrochen sind. Dadurch ist der Sanierungsstau schlimmer geworden.

Es besteht auch die Herausforderung, dass wir andere Räumlichkeiten brauchen, wenn wir eine neue Pädagogik einführen. Das geht dann nicht mehr mit dem Omnibus-System, wo alle Tische zur Tafel ausgerichtet sind, da brauchen wir neue Ausstattungen für eine neue Unterrichtsform.

ET: Was wünschen Sie sich für die Zukunft – für die Schulen, für die Kinder, für die Lehrer?

Wolters-Vogeler: Ich wünsche mir die Freiheit, den Unterricht entsprechend der Situation vor Ort für und mit den Kindern zu gestalten. Wenn die Schüler gerade etwas Bestimmtes brauchen, wie zum Beispiel Gemeinschaftserlebnisse, dann möchte ich das auch machen. Dann will ich nicht sagen müssen: „Wir müssen aber so und so viel Stunden Mathe machen.“ Wir können nur auf die aktuelle Situation reagieren, wenn wir auch die Freiheit haben, sie als Schulleitung und Schulgemeinschaft gestalten zu können.

Das ist durch die Schulgesetze in vielen Bundesländern aktuell nicht gegeben. Stattdessen gibt es die Vorgaben, wann und wie viele Arbeiten geschrieben werden. Dieses Beispiel ist ein bisschen kurz gegriffen, aber die Regelungen sind Länderhoheit. Insoweit sind wir in Hamburg privilegiert. Wir haben seit etwa 2006 das Konzept der „Selbstverantworteten Schulen“, da werden schulinterne Lernpläne abgestimmt und so weiter. Es gibt natürlich auch bei uns verbindliche Bildungsstandards. Die Lehrer haben aber – im Gegensatz zu anderen Bundesländern – sehr viel mehr Freiheiten zu gestalten, wie man die Ziele erreichen kann. Es wäre ein Anfang, wenn auch andere Bundesländer in diese Richtung denken und handeln würden.

Das Interview führte Susanne Ausic.

Dieser Artikel erschien zuerst in der Epoch Times Wochenzeitung, Ausgabe Nr. 18, vom 13. November 2021.



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