Ein neues Phänomen besser verstehen: Mutlose Mädchen

Sie verweigern die Schule und oft auch den Kontakt zu anderen. Eltern und Psychologen lassen sie meist ratlos zurück. Was passiert, wenn bei einem jungen Menschen der Mut fehlt?
Mutlose Mädchen
In die Welt zu gehen und in ihr zu bestehen, erfordert Mut.Foto: iStock
Von 3. Dezember 2022

Immer mehr Mädchen erleben die Wirklichkeit als bedrohlich und überfordernd. Haben wir eine Welt geschaffen, die für einen Teil unserer Kinder nicht mehr attraktiv ist? Sind wir die falschen Vorbilder? Haben wir keine lebenswerten Perspektiven geschaffen?

Diesen Fragen geht der renommierte Kinder- und Jugendpsychiater Michael Schulte-Markwort nicht nur in seiner praktischen Arbeit, sondern auch in seinem kürzlich erschienenen Buch „Mutlose Mädchen“ nach. Epoch Times hat ihn zu seinen Erkenntnissen befragt.

Herr Schulte-Markwort, in Ihrem Buch „Mutlose Mädchen“ widmen Sie sich einem „neuen Phänomen“, der psychischen Symptomatik junger, heranwachsender Mädchen. Sie sind im Teenager-Alter und bleiben offenbar in ihrer Entwicklung stecken. Bitte erklären Sie, in welchem Zustand befinden sich die Mädchen und wie macht sich der Zustand bemerkbar?

Die Mädchen sind – wie der Name schon sagt – ausgesprochen mutlos. Sie sind in einem Zustand von zunehmender Ratlosigkeit, sozialem Rückzug, Verschlossenheit und Antriebslosigkeit. Unter Umständen nehmen sie keinen Schulbesuch mehr wahr.

Im Kontakt mit ihnen erlebt man ein Achselzucken auf Fragen, manchmal können sie vor Entsetzen viele Fragen auch nicht beantworten. Im Kern drücken sie aus, dass sie sich da draußen in der Welt von nichts gelockt fühlen.

Ihrem Buch nach zu urteilen, leiden die Mädchen nicht unter einer Depression, aber unter einer Regression. Was ist damit gemeint?

Regression ist immer ein Zurückfallen auf eine frühere Entwicklungsstufe. Wenn beispielsweise ein achtjähriges Mädchen sagt: Ich weiß nicht genau, wie das geht, und ich weiß auch gar nicht, was ich werden will. Ich habe auch gar keine Pläne und ich spiele so gerne. Da würde niemand auf die Idee kommen zu sagen, das muss aber anders sein. Wenn es aber ein 15-jähriges Mädchen ist, dann passt das nicht mehr zusammen. Das ist damit gemeint.

Anfangs dachten wir, dass wir es hier mit einer Form von Depressionen zu tun haben, mussten dann aber zur Kenntnis nehmen, dass alle unsere klassischen anti-depressiven Handlungsstrategien einschließlich der neueren so überhaupt nicht gegriffen haben.

Man spürt nicht wirklich den depressiven Affekt bei diesen Mädchen, sondern es ist wirklich eher wie ein bisschen leer und mutlos. Es gibt sicher Überschneidungen und wenn der Zustand lange anhält, können sich auch reaktive Depressionen daraufsetzen, vor allem dann, wenn die Mädchen zunehmend verzweifeln, weil sie sich selbst für ihr Leben eigentlich auch was ganz anderes wünschen.

Hatten diese Mädchen schon als Kleinkinder bestimmte Auffälligkeiten?

Auffälligkeiten ist ein bisschen zu viel gesagt. Sie sind von ihrer Persönlichkeit her eher ängstlich, schüchtern, aber nicht so, dass man sie als kleines Mädchen hätte behandeln müssen.

Handelt es sich hier um Einzelfälle, oder kann man durchaus schon von einem gesellschaftlichen Phänomen sprechen?

Als gesellschaftliches Phänomen würde ich es nicht beschreiben, das würde gerade zu weit gehen. Was mich allerdings umtreibt bei den mutlosen Mädchen, ist die Tatsache oder diese Beschreibung der Mädchen, dass ihre Mütter keine Vorbilder für sie sind. Und damit legen diese Mädchen nach meinem Verständnis den Finger in eine gesamtgesellschaftliche Wunde.

In diesem Sinne hat es dann auch gesamtgesellschaftliche Relevanz, weil ich über die Beschäftigung mit den Mädchen verstanden habe, dass die Gewinner der Emanzipation die Jungs und die Männer sind. Jungs haben mehr Möglichkeiten gewonnen. Ein Junge darf heute sagen: Ich werde Hausmann und wird dafür sogar noch gefeiert. Die Mädchen haben diese Option heute nicht mehr.

Ein Mädchen kann nicht sagen: Ich möchte Hausfrau werden – sofern das Wort als solches überhaupt noch eine Bedeutung hat. Das heißt, Frauen dürfen sich nur im Leistungsbereich emanzipieren. Und in genau diesem Leistungsbereich erleben diese Mädchen dann ihre Mütter, die das alles schaffen, die auch erfolgreich sind, aber die eben auch erschöpft sind. Die Mädchen sagen dann, so erschöpft möchte ich nicht sein.

Sie schreiben in diesem Zusammenhang auch von „unseren historischen Wurzeln. Wie hängt das zusammen?

Das hängt mit der emanzipatorischen Entwicklung zusammen. Ich habe mich schon immer darüber gewundert oder auch daran gestört, dass Mutterschaft in Deutschland ein belastetes Wort ist, obwohl Mutterschaft eigentlich etwas ganz Wunderbares und Einzigartiges ist. Das sehe ich als Teil unseres nationalsozialistischen Erbes, wodurch wir so viel Schuld mit uns herumtragen, dass wir nicht unbefangen mit so Begriffen wie Mutterschaft oder Muttersein umgehen können.

Ich glaube, dass wir auf diese Weise versuchen, die Schuldgefühle auszumerzen, indem sich die Mütter noch mehr anstrengen müssen.

Wir wissen nun, die Mütter sind kein ideales Vorbild, aber welche Rolle spielen die Väter bei diesen Mädchen? 

Die Väter glänzen eher durch Abwesenheit und nehmen in Anspruch, dass sie an der Familienarbeit kaum oder wenig beteiligt sind. Von daher sind sie für die Mädchen auch weniger spürbar. Aber das gleichgeschlechtliche Vorbild ist viel bedeutsamer und von daher sind die Mütter für die Mädchen wichtiger als die Väter.

Gilt das grundsätzlich für alle Mädchen, oder gibt es auch Papa-Mädchen, für die es anders ist?

Natürlich mischt sich das immer ein bisschen. Ein selbstbewusstes, gesundes Mädchen hat mehr innere Freiräume, sich zu orientieren und kann dann auch für sich selbst was zusammenbasteln: Das gefällt mir an meinem Vater gut und das gefällt mir an meiner Mutter gut. Daraus entsteht dann was Eigenes. Das können diese ganz auf sich zurückgeworfen Mädchen allerdings nicht.

Wie steht es um die Mädchen alleinerziehender Mütter? Die Mehrheit Ihrer Patientinnen müssten doch aus diesem Modell kommen, denn da sind die Väter definitiv weniger präsent und die Mütter oft überfordert.

Ich habe damit weniger Erfahrung, aber es gibt viele Untersuchungen, die zeigen, dass Kinder von alleinerziehenden Müttern generell ein erhöhtes Risiko haben, psychisch auffällig zu werden.

Das bedeutet nicht, dass diese Mütter schlecht oder krank sind, sondern dort steht oft eine nachvollziehbare Überforderung dahinter. Insofern könnte ich mir vorstellen, dass diese Mütter es noch mal doppelt schwer haben im Kontakt mit solchen Mädchen.

Welche Rolle spielt die Familie? Sie schreiben im Buch, „wenn ein Mitglied der Familie nicht weiterkommt, betrifft es alle“, es habe Auswirkungen auf die ganze Familie. Inwiefern?

Mit Blick auf die mutlosen Mädchen reagiert die Familie tendenziell enttäuscht oder vorwurfsvoll. Wenn dann noch andere Kinder im Haushalt leben, was bei unserer Gruppe von Mädchen meistens so ist, dann sind das in der Regel erfolgreichere Geschwister. Das macht es für die Mädchen besonders schwer, eine eigene Position zu finden.

Im Grunde verschärft sich die Dynamik dann. Wenn so ein Mädchen stecken bleibt, dann fangen alle an, gut gemeinte Vorschläge zu machen. Das erhöht bei den Mädchen den Druck, Hilflosigkeit und die Mutlosigkeit, sodass sie sich immer mehr zurückziehen. Allerdings kann man der Familie auch nicht vorwerfen, dass sie die Dynamik noch befeuert, weil es kaum auszuhalten ist, wenn die eigene Tochter stecken bleibt.

Wie wichtig für die gesunde Entwicklung der Kinder ist eine gesunde Familie?

Die Familie ist nach wie vor der soziale, emotionale Kern unserer Gesellschaft. Darauf baut sich alles auf. Sie ist der Ort der Entwicklung, des Wachsens, des Behütet- und Umsorgt-Werdens. Familien sind das Nest, in dem wir groß werden. In der Familie ist Schonraum und gleichzeitig Platz für das Üben.

Üben heißt nicht nur, kontinuierlich groß zu werden, sondern auch klein sein zu dürfen, manchmal auch sehr klein. Wie gut man sich innerhalb der eigenen Familie entwickeln kann, entscheidet auch darüber, wie gut oder weniger gut man später eine eigene Liebesbeziehung meistern kann.

Ein sehr markantes Symptom der mutlosen Mädchen ist, dass sie nicht mehr zur Schule gehen. Heißt das, dass sie sich dort nicht gut aufgehoben fühlen? Oder ist es eher als eine Art von Protestverhalten zu verstehen?

Nein, es ist kein Protest, sondern ein Gefühl von unglaublicher Überforderung. Und zwar sowohl im sozialen Kontext – die Schule ist ja ein täglicher sozialer Catwalk, den die Mädchen bestehen müssen – als auch die Anforderungen im kognitiven Bereich, im Wettbewerb und im Vergleich. Die Mädchen sind sich sicher, dass sie das nicht bestehen, weil sie so große Selbstzweifel haben. Sie haben eine große Angst, sich zu zeigen.

Was können wir gesellschaftlich tun, um den mutlosen Mädchen wieder Mut zu machen?

Ich denke, wir müssen wirklich unseren Begriff von Emanzipation überdenken. Wir müssen darüber nachdenken, wie Lebenszufriedenheit für alle einzelnen Mitglieder entstehen kann. Wir müssen darüber nachdenken, wie wir Arbeit anders definieren, anders aufteilen.

Und da sind natürlich noch globale Themen wie der Krieg und die Klimakrise, mit denen wir kollektiv weltweit unter Beweis stellen, dass wir des Friedens nicht fähig sind und nur destruktiv unterwegs sein können.

Das ist etwas, was uns Erwachsene tief berührt, beschämt und belastet. Dagegen kann man erst mal so nichts Konkretes tun. Nichtsdestotrotz kann man natürlich versuchen, in kleinen Schritten Mut zu fassen, indem man die eigenen Ressourcen aktiviert und mehr ins Miteinander kommt anstatt ins Gegeneinander.

Das heißt also, wir Erwachsenen müssen zuerst einmal bei uns selbst anfangen.

Das ist sowieso immer das Wichtigste und das Kennzeichen von Elternarbeit. Wenn die Eltern mit ihren Kindern zu mir kommen, dann muss ich natürlich auch mit den Eltern an ihrer Haltung arbeiten.

Am Ende des Buches sind „90 Sätze für Eltern“ aufgeführt. Könnten Sie bitte das Wichtigste in wenigen Sätzen zusammenfassen?

Es geht nie um eine Schuldfrage oder eine Schuldzuweisung, sondern ich möchte Eltern entlasten zu einerseits bei sich zu bleiben, andererseits mit großer Aufmerksamkeit, ohne Vorwürfe und ohne Entwertung auf das eigene Kind zuzugehen und darauf zu achten, dass es eine wertschätzende, respektvolle Beziehung ist.

Das sind eigentlich die wesentlichen Begriffe, die mich immer umtreiben. Wertschätzung und Respekt sind die beiden wichtigsten Beziehungsgrundlagen. Wenn man das beherzigt und authentisch kann, dann sind schon erste Schritte getan.

Vielen Dank für das Gespräch.

Michael Schulte-Markwort, „Mutlose Mädchen – ein neues Phänomen besser verstehen“, erschienen am 5. Oktober 2022 im Kösel-Verlag, Hardcover, 259 Seiten, Preis: 22 €

Über den Autor des Buches:

Prof. Dr. med. Michael Schulte-Markwort ist Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie. Nach vielen Jahren als Leiter der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie im Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf ist er heute Ärztlicher Direktor Oberberg Fachklinik Marzipanfabrik sowie Ärztlicher Leiter der Praxis Paidion-Heilkunde für Kinderseelen in Hamburg und Berlin.



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