Ein Wort – zwei Welten: Solidarität

„Ein Wort, zwei Welten“ beleuchtet ein einzelnes Wort, dass in hitzigen Diskussionen verwendet wird, meist ohne die jeweilige Wortbedeutung zu hinterfragen. Im heutigen Teil geht es um das Wort Solidarität.
Ein komplett zerstörtes Haus in Marienthal im Ahrtal. Das kleine Dorf wurde weitestgehend zerstört.
Ein komplett zerstörtes Haus in Marienthal im Ahrtal. Der Verfassungsschutz nannte die privaten Hilfsmaßnahmen für die Opfer der Flutkatastrophe als Beispiel für die Delegitimierung des Staates.Foto: Boris Roessler/dpa
Von 4. März 2023

Debatten über Politik, Wirtschaft und Gesellschaft werden zunehmend verbitterter geführt. Eine gewisse Sprachverwirrung hat daran einen großen Anteil. Je größer diese Sprachverwirrung wird, umso kleiner wird die Chance auf eine Verständigung.

Nutzen zwei Gesprächspartner dasselbe Wort, verstehen darunter aber etwas anderes, kann eine Diskussion sich ewig im Kreis drehen oder zügig eskalieren, ohne dass damit etwas gewonnen wäre. Wird den Gesprächspartnern die unterschiedliche Wortinterpretation bewusst, kann ein erhellender Dialog entstehen.

Ein unterschiedlicher Blick auf den Menschen bildet den Hintergrund der unterschiedlichen Weltanschauungen und findet sich auch in den unterschiedlichen Wortinterpretationen wieder.

Die „idealistische Welt“ verdankt ihre Bezeichnung dem Umstand, dass ein „höheres Ideal“ beziehungsweise eine Idee wichtiger ist als der einzelne Mensch und dessen individuelles Streben nach Glück. Kollektivistisch, planwirtschaftlich oder sozialistisch-kommunistisch sind einige Stichworte, welche diese Welt kennzeichnen. Weitere Merkmale sind Marktfeindlichkeit und die Befürwortung weitgehender politischer Eingriffe zulasten individueller Entscheidungsfreiheit.

Die „praxeologische Welt“ verdankt ihre Bezeichnung dem Umstand, dass praktische Handlungen einzelner Menschen, den Dreh- und Angelpunkt darstellen und die jeweiligen Weltanschauungen zurücktreten. Der Begriff „Praxeologie“ wurde vom bedeutenden Ökonomen und Sozialphilosophen Ludwig von Mises (1881 – 1973) geprägt. Individualistisch, marktwirtschaftlich, klassisch liberal sind einige Stichworte, welche diese Welt kennzeichnen. Weitere Merkmale sind die Befürwortung von Dezentralität und die Ablehnung weitgehender politischer Eingriffe.

Solidarität in der ideologischen Welt

Aus ideologischer Perspektive ist Solidarität eine Kollektivaufgabe. Anders ausgedrückt, aus dieser Sicht erfolgt Solidarität über den Umweg staatlicher Umverteilung. Werkzeuge dafür sind beispielsweise die Kranken-, Renten- und Arbeitslosenversicherung, Sozialhilfe, Wohngeld oder Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz.

In dieser ideologischen Welt wird ein Teil des Arbeitslohns der Erwerbstätigen politisch vorgegebenen Solidaritätszwecken zugeführt, also der Verwendung in eigener Verantwortung entzogen. Anschließend übernehmen bürokratische Institutionen die Umverteilung an regelbasiert definierte Bedürftige.

Eine Konsequenz dieser Form der Solidarität sind eine Vielzahl von Einrichtungen für politisch definierte solidarische Zwecke. Zu solchen Institutionen gehören beispielsweise Krankenhäuser oder Altenheime mit unmittelbarem Kontakt zu den Bedürftigen.

Darüber hinaus gibt es eine große Zahl von Einrichtungen, die entweder keinen direkten Kontakt mit den Bedürftigen haben oder deren Kontakt sich auf Mittlerfunktionen beschränkt. Hierzu zählen beispielsweise diverse Beratungsstellen, die selbst keine Leistungen genehmigen und daher wie andere Stellen lediglich indirekt in die Solidaritätsprozesse eingebunden sind.

Diese Form der kollektivistischen Solidarität wird in der ideologischen Welt unter anderem befürwortet, weil die eigene Lebensgestaltung der sonst moralisch Verpflichteten (beispielsweise Eltern für ihre jungen Kinder oder erwachsene Kinder für ihre alten Eltern) beeinflusst wäre.

Auch außerhalb der Familie verliert die Verantwortung füreinander durch die Kollektivierung an Gewicht. Leben, unbeschwert von der Last persönlicher Verantwortung, scheint so möglich.

Solidarität in der praxeologischen Welt

Aus praxeologischer Perspektive ist Solidarität individuelles menschliches Tun mit dem Ziel, Bedürftigen zu helfen – es ist eine Herzensangelegenheit und kein Job für Andere. Aus dieser Sicht ist Solidarität ein Begriff, der sich sinnvoll nur auf den direkten Kontakt und freiwillige Vereinbarung zwischen Menschen anwenden lässt. Solidarität in diesem Sinne beinhaltet Verantwortung füreinander und ist mit der Nächstenliebe vergleichbar, sie bedarf keines Vermittlers und kommt ohne Zwang aus.

Trotzdem kennt auch die Solidarität der praxeologischen Welt organisierte Unterstützung Bedürftiger. Sofern solche Zusammenschlüsse ohne Zwang (auch bei der Finanzierung) erfolgen, beispielsweise in Form von Genossenschaften oder generell auf freiwilliger vertraglicher Basis, steht dies nicht im Widerspruch zur Solidarität in diesem Weltbild.

Aus praxeologischer Perspektive ist die Beibehaltung persönlicher Verantwortung wichtig, um die Menschlichkeit zu wahren und Fehlanreize zu vermeiden. Unhaltbare Zustände in Altenpflegeeinrichtungen oder Kinderheimen sowie die unwürdige bürokratische Behandlung von Antragstellern sind Beispiele für den Verlust von Menschlichkeit bei kollektivistischer Solidarität.

Ganze Familienverbünde, die teilweise über Generationen Empfänger von Sozialleistungen sind und diese für einen einkommensgleichen Anspruch halten, sind Beispiele für Fehlanreize bei kollektivistischer Solidarität.

Auch der teils geringe Unterschied der finanziellen Möglichkeiten von erwerbstätigen Menschen mit solchen Menschen, deren Lebensunterhalt von anderen gewährleistet wird, verdeutlichen Fehlanreize, die bei Solidarität aus praxeologischer Perspektive nicht auftreten.

Das rechte Maß

Bei solch unterschiedlichem Verständnis von Solidarität fällt es schwer, das rechte Maß zu finden. Wenig überraschend, ist Angemessenheit im Zusammenhang mit Solidarität ein strittiges Thema. Regelmäßig kommt es zu heftigen, teils hochemotionalen Debatten, wenn beispielsweise die Beitragssätze, die Regelaltersgrenze oder die Höhe der Rente verändert werden soll.

Auch bei Diskussionen zur Ausgestaltung der Sozialhilfe oder der Asylbewerberleistungen verlässt die Auseinandersetzung nicht selten den Rahmen zivilisierter Debatten. Die unterschiedliche Sicht, beziehungsweise das unterschiedliche Verständnis von Solidarität, macht dies leichter verständlich.

Vertreter der ideologischen Perspektive auf die Solidarität werden in der Regel ein Höchstmaß an Ansprüchen befürworten und auch den dauerhaften Leistungsempfang selbst grundsätzlich leistungsfähiger Menschen nicht problematisch sehen.

Vertreter der praxeologischen Perspektive auf die Solidarität werden in der Regel nur ein Mindestmaß an Leistungen befürworten, auf Freiwilligkeit bestehen und den Empfang von Solidarleistungen bei gegebener Leistungsfähigkeit, kritisch beurteilen.

Der für die praxeologische Welt typische direkte Kontakt zwischen jenem Menschen, der Solidarität ausübt und jenem, der diese freiwillige Solidarität erhält, schafft eine Möglichkeit der Kontrolle und wirkt ausufernden Entwicklungen entgegen.

Kollektive Solidarität ist regelgebunden und vermittelt den Eindruck, die Hilfsmöglichkeiten wären nahezu unbegrenzt – die Aufnahme immer neuer Sachverhalte macht dies deutlich. Doch die für die ideologische Welt notwendige bürokratische Umverteilung verursacht zusätzliche Kosten – Geld, welches den Bedürftigen nicht mehr zur Verfügung steht.

Solidarität – ein Wort, zwei Welten

In der ideologischen Welt ist Solidarität eine Aufgabe des Kollektivs und bedarf entsprechender Institutionen. Aus praxeologischer Perspektive ist Solidarität individuelles menschliches Tun, um Menschen in Not zu helfen. Ersteres schwächt, letzteres stärkt die persönliche Verantwortung.

Das Wort Solidarität hat in der ideologischen und der praxeologischen Welt unterschiedliche Bedeutung und ist mit einem anderen Menschenbild verbunden. Bevor ein Streit zum Thema Solidarität eskaliert, lohnt es sich, den Begriff zu hinterfragen und einen Blick auf den Menschen hinter dem Wort zu werfen.



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