Stillsitzen als Volkssport: 51 Stunden auf einem Eisblock

Schlafmangel, Langeweile, Kälte und Schmerzen im Körper sind nur einige Herausforderungen beim Eisstocksitzen im schwedischen Wilhelmina. Wie man damit mental umgeht, erklärte einer der sechs diesjährigen Teilnehmer vorab unseren schwedischen Kollegen.
Eisstocksitzen in Wilhelmina
Beim Eisstocksitzen verharrten die Teilnehmer in der Vergangenheit bis zu 66 Stunden auf über zwei Meter hohen Eissäulen. Dieses Jahr reichten „nur“ 51 Stunden.Foto: Eva Sagerfors, Epoch Times Schweden
Von 9. März 2023

Es sind -2 Grad Celsius, als die sechs Teilnehmer in Wilhelmina am 16. Februar ihre Plätze für das jährliche Eisstocksitzen einnehmen. Kevin Karlsson wohnt in der Gegend und erzählte der schwedischen Epoch Times vor dem Wettbewerb, warum er teilnehmen wollte.

Es ist eine lustige Herausforderung. Die Kälte ist kein Problem, würde ich meinen, aber zwei Tage lang auf einem Pfahl sitzen?“

Nach einer kurzen Pause ergänzte der Schwede: „Wenn du dort sitzt, wirst du wahrscheinlich merken, dass es eine lange Zeit ist.“ Die größte Herausforderung bestehe darin, zu sehen, ob man es mental bewältigen kann.

Karlsson hat außerdem Angst, herunterzufallen. Das sei anderen schon passiert. Aber es gibt rund um die Uhr Freiwillige, die sich um die Teilnehmer kümmern. Doch für ihn gibt es noch einen anderen Grund. Seine Schwester hatte zuvor teilgenommen – und war eine von drei, die bis zum Ende durchgehalten haben.

Weil keiner aufstehen wollte, wurden die Regeln geändert

Beim Eisstocksitzen verharren die Teilnehmer 51 Stunden lang auf ihren frei stehenden, über zwei Meter hohen Eissäulen. Sie haben weder Rücken- noch Armlehnen und bekommen nur ein paar kurze Pausen. Immerhin haben sie eine Leiter für den Auf- und Abstieg – und ein Fell, auf dem sie sitzen.

Vor über 20 Jahren organisierte das Fremdenverkehrsamt Wilhelmina erstmals den Wettbewerb. Lotta Charlesdotter vom Fremdenverkehrsbüro hat selbst Erfahrung mit der Teilnahme. Sie sagt, dass viele Leute vielleicht nicht verstehen, was für eine Herausforderung das ist.

Man hat überall Schmerzen, halluziniert und im Körper passieren viele Dinge. Wenn man lange Zeit auf der Säule sitzt, würgt man den natürlichen Kreislauf des Körpers ab. Außerdem ist es kalt und man hat viel Kleidung an. Mehrere Faktoren machen es ziemlich schwer. Man wird sehr steif.“

Eine Gefahr für die Gesundheit bestehe jedoch nicht, denn die Organisatoren und Betreuer können entscheiden, dass ein Teilnehmer pausieren muss. Denn die Pausen seien wichtig für ihre Gesundheit.

In der Vergangenheit gab es alle drei Stunden eine obligatorische zehnminütige Pause. Aber viele Teilnehmer blieben die ganze Zeit sitzen, also wurden die Regeln geändert. Seit 2020 wird ihnen nicht mehr gesagt, wann sie absteigen müssen, so Charlesdotter. Dann wurde es mental viel schwieriger. Auf der Eisstange sitzend gerate man in eine Situation, in der man nichts mehr kontrollieren kann. Man habe kein Zeitgefühl mehr, auf das man sich beziehen kann – alles fließt zusammen.

Am Ende winkt – neben der Gewissheit der eigenen geistigen Stärke – ein Preisgeld von 35.000 schwedischen Kronen, das unter den erfolgreichen Teilnehmern aufgeteilt wird. Bricht jemand ab, bekommen die übrigen Gewinner einen größeren Anteil.

Und wie geht es den Eisstocksitzern dieses Jahr?

Nach der ersten Nacht bricht einer der Teilnehmer aus gesundheitlichen Gründen ab. Die übrigen fünf haben unterschiedliche Schwierigkeiten. Einige haben nur ein paar Stunden geschlafen. Vor allem der Rücken schmerze, während das Gefühl, dass die Zeit immer langsamer vergeht, psychisch anstrengt. Als das Dorf aufwacht und wieder mehr Leute vorbeikommen, wird es einfacher.

Für Karlsson ist alles wie erwartet verlaufen. Er hat in der Nacht ein paar Nickerchen gemacht und fühlt sich am zweiten Tag munter.

Kevin Karlsson auf seiner Eissäule. Er ist extra zum Eisstocksitzen nach Wilhelmina gekommen.

Kevin Karlsson auf seiner Eissäule. Er ist extra zum Eisstocksitzen nach Wilhelmina gekommen. Foto: Eva Sagerfors, Epoch Times Schweden

Sein Konkurrent Anton Engström aus Östersund hat die Nacht nicht ganz so gut weggesteckt. Um sich keine Sorgen machen zu müssen, wann die nächste Pause kommt, hatte er die Taktik, lange Zeit nichts zu trinken. Doch das erwies sich als Problem: Um 4 Uhr morgens hatte er Halluzinationen.

Ich dachte, der Schnee sähe aus wie Eiscreme, und ich konnte nicht lesen, was auf dem Schild auf der anderen Straßenseite stand. Es sah aus, als ob es auf Polnisch wäre“, sagte der mit 17 jüngste Teilnehmer dieses Jahr.

Weiter stillsitzen oder duschen und hinlegen?

Nicklas Ulvnäs aus Uppsala ist indes körperliche und geistige Herausforderungen gewohnt. Beim „Walk of Pain“ im Jahr 2019 lief er 36,5 Stunden ohne Pause. Die Tatsache, dass es beim Eisstocksitzen keinen Schlaf gebe, sei kein Problem für ihn: „Man muss sich nur zusammenreißen.“

Manchmal kämen ihm Gedanken aufzugeben, aber er habe sich angewöhnt, zu unterscheiden, welche Gedanken seine eigenen sind und welche nicht. Mit seinem starken Willen ignoriere er den Drang abzusteigen. Und wenn die Langeweile zu groß wird? Dann denkt er sich Geschichten aus.

Das Wetter während des diesjährigen Wettbewerbs ist ruhig und mild. Dadurch können sich die Teilnehmer mit ihren Nachbarn unterhalten, das helfe ihnen sehr. In anderen Jahren war es manchmal windig, sodass man einander nicht hören konnte. Aber nach der zweiten Nacht sehnen sich alle nach der gleichen Sache: „Das ist die größte Sehnsucht: duschen und sich hinlegen“, fasst Karlsson die Gedanken aller Teilnehmer zusammen.

Maja Engstrom beim diesjährigen Eisstocksitzen in Wilhemina.

Maja Engström beim diesjährigen Eisstocksitzen in Wilhelmina. Foto: Eva Sagerfors, Epoch Times Schweden

Auf dem Eis lernt man sich selbst besser kennen

Der Schnee der Nacht macht die Aussicht auf eine warme Dusche noch verlockender. Mark Brosché aus der Region Wilhelmina fror in der Nacht, der Schnee war eiskalt und seine Stiefel nicht warm genug. Aber er hat die Nacht überstanden: „Man muss sich zusammenrollen und an etwas Positives denken.“

Auch der jüngste im Bunde hat eine schwere Nacht hinter sich, die zweite. Er hat nicht mehr als zehn Minuten Schlaf bekommen. Als er aufwachte, wusste er nicht, wo er war, und als er sich erinnerte, musste er herausfinden, was er dort tun sollte. „War es Schneeschaufeln oder etwas anderes?“, fragte Engström. Sein Sitznachbar erklärte es ihm.

Dabei stellte Engström fest, dass der Schlafmangel ihm zu schaffen macht. „Es ist, als stünde man unter Alkoholeinfluss.“ Rückblickende sagte er: „Ich habe gelernt, den Schlaf ernster zu nehmen. Das Gleiche gilt für Flüssigkeiten. Sonst verliert man leicht die Konzentration.“

Vor der zweiten Nacht ist die Stimmung der Teilnehmer gut, aber alle haben einen schmerzenden Rücken. Die meisten schlafen nur kurz auf den Eisstangen sitzend. Foto: Eva Sagerfors, Epoch Times Schweden

Ein paar Stunden vor dem Ziel sagte Ulvnäs: „Man ist so müde, dass man ständig darüber nachdenkt, wie anstrengend es ist, und dann vergeht die Zeit noch langsamer.“ Still an einem Ort zu sitzen, ist eine andere Herausforderung als lange zu laufen, ergänzte er. „Es ist viel eintöniger. Ein gutes Training gegen die Langeweile, Training für den Kopf.“

Fünf Sieger unter sechs Gewinnern

Nach mehr als zwei Tagen mit kalten Füßen, Halluzinationen und Rückenschmerzen haben alle Teilnehmer etwas gewonnen und sich selbst besser kennengelernt. Fünf von ihnen durften sich zusätzlich über ein Preisgeld von umgerechnet etwa 630 Euro freuen.

Lotta Charlesdotter vom Fremdenverkehrsamt Wilhelmina präsentiert die Gewinner: Maja Engström, Nicklas Ulvnäs, Anton Engström, Mark Brosché und Kevin Karlsson.

Lotta Charlesdotter vom Fremdenverkehrsamt Wilhelmina präsentiert die Gewinner: Maja Engström, Nicklas Ulvnäs, Anton Engström, Mark Brosché und Kevin Karlsson. Foto: Eva Sagerfors, Epoch Times Schweden

„Man muss schon eine gewisse Psyche haben. Und ich würde sagen, es hat funktioniert“, sagte Anton Engström nach Ablauf der 51 Stunden. Seine Mitstreiterin und Namensvetterin Maja Engström leistet im normalen Leben ihren Wehrdienst ab. „Auch wenn man dort an Grenzen stößt, hier ist das anders“, sagte sie. „Es ist eher mental. Man macht gar nichts.“ Auch sie hat etwas über sich selbst gelernt: „Selbst wenn der Rücken höllisch wehtut, kann man mehr tun, als man denkt.“

Außerdem berichtet sie, dass das Sitzen auf dem Eis in Schweden als eine lustige Sache angesehen wird und dass einige Leute genau wissen, wer gesessen hat und wer nicht. Alle fünf werden für den Rest ihres Lebens Teil dieser Gruppe sein.

Auch Karlsson ist zufrieden: „Ich kann mehr ertragen, als ich dachte“, sagte er. „Aber“, fügte er hinzu, „ich glaube, man hat doch ein bisschen Kopfschmerzen“.

Eisstocksitzen in Wilhelmina

1999 wurde das Eisstocksitzen erstmals organisiert. Dieses Jahr dauerte der Wettbewerb 51 Stunden. Ein Jahr zuvor waren es 66 Stunden – zwei Tage und 18 Stunden, was zwei von sieben Teilnehmern schafften. Der Abstieg vom Eis kann freiwillig geschehen oder von den Betreuern aus gesundheitlichen Gründen angeordnet werden.

Auf den 2,45 Meter hohen Eisstöcken befinden sich eine Styroporplatte, ein Brett und obenauf ein Rentierfell, auf dem die Teilnehmer sitzen. Aufstehen dürfen sie nur während weniger Pausen von zehn Minuten. Wann die nächste Pause kommt, wissen sie jedoch nicht. Mitunter müssen sie fünf bis sechs Stunden am Stück ausharren.

Essen und Trinken wie Hamburger, Kuchen oder Suppe wird den Teilnehmern auf den Eisstangen serviert. Getränke wie Kaffee, Tee, Saft oder Wasser werden ihnen auf Wunsch jederzeit gereicht. Nicht erlaubt sind Ablenkungen wie Handys, Schnupftabak, Zigaretten oder andere Gegenstände.

Bis 1804 hieß das Dorf im Bezirk Västerbotten „Volgsjö“, auf Sami „Vualtjere“, was so viel wie Abreise und See bedeutet. Vor über 220 Jahren erhielt es von Königin Friederike Dorothea Wilhelmine von Baden seinen heutigen Namen.

Neben dem Eisstocksitzen gibt es am „Wilhelmina-Winterwochenende“, das in Wirklichkeit mehr als eine ganze Woche gefeiert wird, weitere Wettbewerbe wie Angeln und Motorschlittenfahren, Ausstellungen, Konzerte, Märkte und Gottesdienste in der Dorf- und einer Eiskirche. Im Jahr 2022 gab es 25 Naturschutzgebiete in der 6.700-Seelen-Gemeinde. Sie ist bekannt für ihre Natur, die sie umgebenden Berge, eine von 16 schwedischen Kirchenstädten und das jährlich am zweiten Februarwochenende stattfindende Winterfest.

Neben dem Eisstocksitzen finden beim Winterfest in Wilhemina weitere Wettbewerbe, Ausstellungen, Konzerte, Märkte statt sowie Gottesdienste in einer Eiskirche (Symbolbild). Foto: Untravelledpaths (CC BY-SA 3.0)

(Mit Material der Epoch Times Schweden)



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