Ex-Neonazi: „Eine ideale Gesellschaft gibt es nicht“

Wie ein ehemaliger Rechtsextremist zum Glauben findet und aus der Szene aussteigt.
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Stefan Rochow war früher Rechtsextremist und machte Karriere in der NPD. Heute hilft er anderen bei ihrem Ausstieg aus der rechtsextremen Szene.Foto: Dario Rochow
Von 30. Januar 2023

In jungen Jahren war er aktives Mitglied der rechten Szene in Greifswald. Später stieg er zum NPD-Funktionär auf. Stefan Rochow ist ehemaliger Rechtsextremist. Damals war er auf der Suche nach einer gewissen Ordnung. Der Wendepunkt kam 2008: Er konvertierte zur katholischen Kirche und stieg aus der rechtsextremen Szene und aus der NPD aus. Seit 2012 begleitet er andere bei ihrem Ausstieg. Er sagt: „In die Szene reinzukommen ist leicht, auszusteigen sehr viel schwieriger.“

Heute ist Rochow als freier Autor, Journalist und als Inhaber einer Medienagentur tätig. Als Ansprechpartner bei der Initiative EXIT-Deutschland unterstützt er Menschen dabei, mit dem Rechtsextremismus zu brechen und ein neues Leben aufzubauen. Wir sprachen mit dem 47-Jährigen über seine Erfahrungen.

Herr Rochow, wie kamen Sie in die rechtsextreme Szene hinein? Wie alt waren Sie zu der Zeit?

Ich war zwischen 13 und 15 Jahre. Das ist im Übrigen das typische Alter, in dem man die ersten Kontakte in diese Szene macht. Man emanzipiert sich gerade von seinem Elternhaus, sucht seinen eigenen Weg. Das war bei mir auch so.

Ich bin ein Kind der ehemaligen DDR und in Ostdeutschland, in Greifswald aufgewachsen. Bin also in dieser Wendezeit, in dieser Unordnung groß geworden, die die Wendezeit mit sich brachte. Irgendwann habe ich mich auf die Suche nach einer gewissen Form von Ordnung begeben und bin schließlich mit rechtsextremistischem Gedankengut in Berührung gekommen. Ich habe mich nach und nach radikalisiert.

Waren Sie vom Elternhaus politisch geprägt?

Nein, überhaupt nicht. Mein Elternhaus war christlich geprägt, im Grunde genommen auch sehr kritisch, was die DDR oder die Diktatur betraf. Man suchte nach einer gewissen Ordnung in dieser Wendephase. Die Menschen waren auf der Suche, sie wuchsen in ein neues System hinein. Ich kann das sehr gut verstehen.

Als junger Mensch habe ich das alles als Schwäche aufgefasst und habe gesagt: „Wir brauchen jetzt einen ganz, ganz starken Ordnungsstaat.“

Wie ging es für Sie weiter?

In den 90er-Jahren gab es die Skinheadszene, in Ostdeutschland trafen sich die rechtsextremistischen Gruppierungen und Parteiorganisationen. Das gab es so stark ausgeprägt in Greifswald nicht. Ich hatte mich damals immer mehr belesen und ideologisch in den Rechtsextremismus hineinbegeben, habe aber relativ schnell mit 16 gemerkt, dass diese Form des Zusammenschlusses nicht das ist, was ich suche.

Also habe ich mich Studentenverbindungen zugewandt. Dort gab es zwar keine Anhänger irgendeiner Partei, ich habe mich dennoch in gewisser Weise durchaus radikalisiert. Mir fehlte in dieser Umgebung aber eine gewisse Form der Aufrichtigkeit. Das war mein damaliger Kritikpunkt.

Im Grunde genommen saß man im Haus, beschwerte sich über bestimmte Vorgänge, war aber nicht bereit, den letzten Schritt zu gehen. Ich hatte mich inzwischen so radikalisiert, dass ich eine absolute Partei oder eine absolute Organisation forderte, die auch gar keine Kompromisse mehr macht.

Können Sie beschreiben, was denn einige Triggerpunkte für Sie waren, die dazu geführt haben, dass Sie ins Grübeln gekommen sind?

Das war ja ein sehr, sehr langer Weg. Wir machen jetzt einen Sprung. Zwischen dem Moment meiner Radikalisierung bis zu dem Punkt, wo ich gemerkt habe „Halt, stopp, wo hast du dich da eigentlich verrannt?“, liegt ein Prozess von 15 Jahren. Es ist nach und nach passiert, mit dem Einzug der NPD in den Landtag von Sachsen. Ich bin zwischendurch auch Funktionär der NPD geworden.

Um 2004 merkte ich, dass der Anspruch, den ich an mich hatte, und die Realität nicht richtig kompatibel waren. Das fing allein damit an, dass ich glaubte, damals in einer revolutionären Partei zu sein, die etwas verändern wollte.

Nun saßen wir dort im Landtag und spielten mit dem mit, was alle anderen auch machten. Wir wurden natürlich ausgegrenzt. Aber trotzdem, manch einer hätte gerne mitgespielt.

Das waren für mich die ersten Punkte, die das ganze Gebäude erst mal infrage gestellt haben. Ich fand das, was ich machte, noch nicht völlig schlecht oder furchtbar verkehrt. Aber es war ein allererster Punkt zu sagen „Halt, stopp! Irgendwas stimmt nicht.“ Danach wurde ich einfach hellhörig und habe viel aufmerksamer beobachtet, was dort passiert.

Was genau ist passiert? Können Sie ein paar konkrete Beispiele nennen?

Dinge, die damals für mich relativ abwegig waren. Dass man sich über die Größe von irgendwelchen Bürogebäuden oder von Büros unterhalten hat oder über die Form von Visitenkarten. Typische Dinge, die ich jetzt in so einer Partei nicht vermutet hätte. Mein Selbstverständnis war: „Wir sind eine revolutionäre Partei.“ Und jetzt handelten wir eigentlich genauso wie alle anderen. Das kann doch eigentlich nicht sein. Gerade wenn wir – und das ist eben die Ideologie des Nationalismus – den anderen, deren Gedanken und der Demokratie weit überlegen sind.

Wenn wir mit unserer Ideologie den anderen überlegen sind, müssen wir auch als Vorbildfunktion, als „politische Soldaten“ fungieren und eine ganz andere Haltung haben. So haben wir das damals tatsächlich verstanden. Ich vermisste diese Haltung. Das war für mich der eigentliche Triggerpunkt.

Aus der Radikalisierung heraus empfand ich es im Grunde genommen nicht als radikal genug. Das ist vielleicht der Widerspruch daran. Dass ich es nicht als radikal genug empfand und dadurch erst angefangen habe, darüber nachzudenken.

Gab es einen bestimmten Moment, einen Wendepunkt, als Sie beschlossen haben “So geht es nicht mehr weiter”?

In meiner Arbeit bei EXIT-Deutschland, wo ich auch Menschen unterstütze, aus der Szene auszusteigen, merke ich immer wieder: Es ist ein fließender Prozess. Es ist etwas, das nach und nach wachsen muss. So ist es auch bei mir gewesen.

2005 kam meine Beschäftigung mit dem Christentum hinzu, im Zusammenhang mit der Wahl von Papst Benedikt. Ich komme aus einem evangelischen Elternhaus, hatte damit vollkommen abgeschlossen und hatte überhaupt keinen Bezugspunkt mehr zum Christentum. Ich fand aber plötzlich bestimmte Punkte interessant, beschäftigte mich damit.

Im Nachhinein würde ich sagen, der Auslöser, der mich dazu gebracht hat zu sagen „hier stimmt etwas nicht“, war meine Beschäftigung mit dem Christentum und der Naturrechtslehre. Man sagt, der Mensch hat seine Würde dadurch, dass er eben ein Mensch ist, und nicht dadurch, dass er Angehöriger irgendeiner Klasse, irgendeiner Rasse oder einer bestimmten Nation ist. Nicht das macht ihn zu einem Menschen, sondern dass er geboren und angenommen ist als Mensch. Ich hatte damals eine Einführung in das Christentum von Joseph Kardinal Ratzinger gelesen. Noch heute geistert mir das immer wieder im Kopf herum.

Ich habe natürlich nicht von heute auf morgen meine Einstellung auf den Kopf gestellt, aber ich habe immer wieder gemerkt, dass ich mehr und mehr über diesen einen Satz nachgedacht habe. Er hat mich immer dazu gebracht zu denken „Okay, wenn das richtig ist, dann ist das, was du jetzt machst, eigentlich absolut falsch.“

Sie sagen, in die Szene hineinzukommen ist leicht, auszusteigen sehr viel schwieriger. Inwiefern hat sich der Ausstieg bei Ihnen schwierig gestaltet?

Man stößt auf eine Gesellschaft, die eben alles andere als tolerant ist. Wir reden ganz viel davon, dass wir einen Kampf gegen Rechts machen müssen. Ein Kampf gegen Rechts trifft aber auch diejenigen, die sagen: „Ich habe mich hier geirrt, bin einen falschen Weg gegangen.“. Denjenigen müsste man eine Chance geben, sich auch wieder in die Gesellschaft zu integrieren.

Unsere Gesellschaft hat bis heute einen enormen Nachholbedarf in dieser Hinsicht. Ich habe das Misstrauen der anderen zu spüren bekommen, musste gegen Vorurteile kämpfen. Ich stand zwischen den Stühlen. Die eine Tür hatte ich selber zugeschlagen, da wollte ich nicht mehr zurück. Die andere Tür tat sich nicht auf. Ich stand sozusagen im Flur und wusste nicht wohin.

Es war eine sehr schwierige Zeit für mich. Deswegen denke ich auch, dass dadurch das Problem bei diesen Personen auftaucht, wieder in extremistische Strukturen zurückzufallen. Das können rechtsextremistische Strukturen sein, genauso wie Islam-extremistische oder auch linksextremistische Strukturen.

Die Schwierigkeit Ihres Ausstieges hat also vielmehr darin bestanden, dass es hauptsächlich ein innerer Konflikt war, weil Sie zwischen zwei Welten standen und nicht weiterwussten. Oder wurde Ihnen der Ausstieg auch schwierig gemacht seitens der rechtsextremen Szene? Gab es Drohungen?

Nein, aus der Szene selber kamen überhaupt keine Drohungen. Das muss man dazu sagen. Ich war irgendwann weg und galt als Verräter, war einfach derjenige, der nicht mehr dazugehörte. Ich denke, es geht nicht so sehr darum, was in der Szene passiert. Wir sollten uns mehr darauf fokussieren, wie die Gesellschaft mit Aussteigern umgeht, Menschen, die gebrochene Biografien und Probleme haben.

Wie annehmend ist unsere Gesellschaft? Natürlich muss sie Forderungen an solche Menschen stellen. Ich erwarte nicht, dass gleich alles vergeben oder vergessen wird. Aber ich denke, es muss ein Prozess bei den Menschen einsetzen. Genauso wie ein Prozess stattfinden musste, sich mit den Ansichten, die man früher vertreten hat, auseinanderzusetzen.

Das passiert aber nur dann, wenn man als Betroffener auch die Möglichkeit erhält, darüber reflektieren zu können. Wenn man von allen Seiten nur abgewehrt oder zurückgehalten wird und zu spüren bekommt, „Mit ihm wollen wir nichts zu tun haben“, erschwert das den Ausstieg ungemein.

Bei EXIT-Deutschland unterstützen Sie Menschen dabei, aus der rechtsextremen Szene herauszukommen. Wie funktioniert das praktisch? Kommen die Leute auf Sie zu?

Ja. Es würde auch gar nicht anders gehen. Jemandem zu sagen: „Pass mal auf, du bist jetzt auf dem Holzweg, aus dem und dem Grunde“, funktioniert nicht.

Das sind oft sehr überzeugte Menschen. Sie müssten zunächst selber die Ideologie infrage stellen, kleine Stückchen Mauer einreißen und sagen „Okay, es ist doch nicht alles so ideal“. Ein Extremist glaubt aber immer an eine ideale Gesellschaft. Wir wissen, eine ideale Gesellschaft gibt es nicht.

Haben Menschen aus der Rechtsextremenszene keinen Glauben oder vertreten sie die christlichen Werte nicht?

Sie glauben an ihre Ideologie. Sie sind einer Ideologie verhaftet, die teilweise sehr missionarisch angelegt ist. Der wirkliche Glaube, sei es das Christentum oder welche Religion auch immer, hat nur wenig Platz. Im Großen und Ganzen ist es der Nationalismus, es ist der Kampf für das Vaterland, für das eigene Volk, teilweise auch für die eigene Rasse.

Sie gehen wie Priester vor und versuchen die Menschen auf der Straße davon zu überzeugen, was in unserem Land falsch läuft und was die Alternative ist. Das Entscheidende ist ja, dass diejenigen wirklich glauben, sie hätten die Alternative in der Hand und wüssten ganz genau, wie es geht.

Nur wenn man in dieser Ideologie denkt, kann man sozusagen das, was man als Missstand und als schlecht in unserem Land empfindet, auch verändern.

Worin liegen in Ihren Augen die Unterschiede zwischen Rechts- und Rechtsextrem?

Eine Gesellschaft ist gut beraten, wenn sie akzeptiert, dass es innerhalb eines demokratischen Konsenses auch rechte Meinungen geben kann. Wenn jemand meint, mit der Migrationspolitik, die wir seit 2015 erlebt haben, oder auch mit der Migrationspolitik, die wir jetzt durch den Krieg in der Ukraine erleben, dass er oder wir als Gesellschaft dadurch Probleme haben … Darüber muss man in einer Gesellschaft reden dürfen. Wer die Migrationspolitik kritisch betrachtet, macht das durchaus aus seiner rechten Position, aber ich würde sagen, schon innerhalb eines demokratischen Rahmens.

Auf der anderen Seite ist für mich ein Rechtsextremist jemand, der unsere Gesellschaftsordnung infrage stellt.

Genau die wollte ich damals überwinden. Wer diese überwindet und außerhalb des Rahmens sagt: „Wir wollen etwas vollkommen Anderes“, ist für mich extrem. Denn er ist gar nicht mehr konsensfähig innerhalb einer Gesellschaft, in der es ganz viele unterschiedliche Entwürfe, Möglichkeiten und Ansichten gibt. Das muss man integrieren können.

Gibt es Überschneidungen bei Links- und Rechtsextremismus?

Die links- und rechtsextremen Ideologien haben gemeinsam, die Gesellschaftsordnung und den demokratischen Rahmen zu überwinden. Der Linke würde wahrscheinlich sagen, entweder mit der Anarchie oder mit einer klassenlosen Gesellschaft. Die Frage ist auch, was ist links? Auch dort gibt es verschiedene Gesellschaftsmodelle, die diskutiert werden. Auf der rechten Seite ist das genauso.

Den demokratischen Rahmen muss man immer wieder neu stecken. Ich finde es schon legitim, Diskussionen über die Frage zu führen, wie demokratisch unser Land ist. Wir können aber nicht ernsthaft infrage stellen, dass wir diese Freiheiten und diese Demokratie infrage stellen. Das machen eben Extremisten.

Wo würden Sie sich denn heute politisch verorten?

Als Journalist beobachte ich im Grunde genommen nur noch die Politik. Es ist eine sehr gute Position, in der ich bin. Ich kann kritisieren, ohne tatsächlich Lösungen aufzeigen zu müssen. Als Journalist ist es auch nicht meine Aufgabe. Wenn ich mich heute in irgendeiner Form einordnen müsste, würde ich sagen, ich bin überzeugter Liberaler.

Es braucht die Vielfalt in unserer Gesellschaft. Dafür habe ich durchaus Verständnis. Wir erleben heute tatsächlich Diskussionen über eine Gleichschaltung, auch was die öffentliche politische Meinung betrifft. Das sehe ich nach wie vor sehr kritisch.

„Vielfalt“ soll jetzt kein Kampfbegriff oder eine Floskel sein. Ich meine damit die Akzeptanz und das Aushalten einer Vielfalt von Meinungen in einem demokratischen Rahmen. Wir müssen aushalten können, dass unser Gegenüber vielleicht nicht unserer Meinung ist. Hinter jeder Meinung steht ein Mensch. Man kann hinterher auseinandergehen und sagen: „Okay, wir haben uns ausgetauscht, aber wir müssen deswegen keine Feinde sein.“

Herzlichen Dank für das Gespräch.



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