Selbstdiagnose auf TikTok: Jugendliche im ADHS-Irrtum

Die chinesische Video-Plattform TikTok kommt wie ein unschuldiger Social-Media-Kanal daher, der Unterhaltung durch Amateurvideos bieten soll. Die Gefahren für Kinder und Jugendliche werden dabei oft unterschätzt.
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TikTok ist für Kinder und Jugendliche nicht ungefährlich.Foto: Kiichiro Sato/AP/dpa
Von 12. November 2022


Auf TikTok ist ein regelrechter Hype der Selbstdiagnose vermeintlich psychischer Erkrankungen bei Jugendlichen ausgebrochen. Erst kürzlich ging ein Video viral, bei dem ein Teenager-Mädchen pantomimisch reale oder angebliche Symptome einer ADHS-Erkrankung vorspielt. Angstschübe, mangelnde Selbstbeherrschung, Ärger über Kleinigkeiten – vor drei bis vier Jahrzehnten hätte man in diesem Zusammenhang noch von „Pubertät“ gesprochen und dem allen wenig Beachtung geschenkt. Die meisten nehmen an, dass durch die Veränderung des Hormonhaushalts beim allmählichen Eintritt ins Erwachsenenalter die Nerven schon manchmal blank liegen. Doch das gibt sich wieder.

Seit einigen Jahren scheint ADHS jedoch zur Volkskrankheit unter Kindern und Jugendlichen geworden zu sein. Wenn das Kind schnell aufbraust oder nicht stillsitzen kann, haben Erwachsene den Verdacht auf ADHS schnell zur Hand.

ADHS ist die Abkürzung für Aufmerksamkeitsdefizit- / Hyperaktivitätsstörung und bezeichnet eine Verhaltensstörung von Kindern, Jugendlichen oder Erwachsenen, die sich durch starke Aufmerksamkeits- und Konzentrationsstörungen, starke Impulsivität und ausgeprägte körperliche Unruhe (Hyperaktivität) kennzeichnet.

Das Krankheitsbild kam vor etwa 40 Jahren auf und wird mehrheitlich bei Schulkindern diagnostiziert. Laut Experten betrifft es weniger als zehn Prozent aller Schüler, Jungen sind häufiger betroffen als Mädchen.

Soziale Medien verstärken Trend

Die sozialen Medien haben dazu geführt, dass sich Jugendliche gegenseitig alles viral verkaufen können, keiner prüft die Videos auf Wahrheitsgehalt. Wer alles glaubt, was er sieht, wird schnell mal in die Irre geführt. Besonders gefährlich ist dabei die starke Anziehungskraft der unzähligen Clips auf TikTok, die sogar schon zum Tod von zwei jungen Mädchen geführt hat.

Videos auf der sozialen Plattform verstärken den Eindruck, dass Jugendliche offenbar zunehmend unter psychischen Symptomen leiden und hier Antwort auf ihre Fragen suchen. Unter den Hashtags #ADHS und #ADHD sammeln sich zahlreiche Videos zu Depressionen, Angststörungen oder Autismus. Inzwischen haben sich dort zahlreiche sogenannte „Mental Health Communitys“ gebildet, in denen sich die Nutzer über ihre psychische Gesundheit austauschen.

Doch nicht nur das. Eine mögliche Therapie wird auch gleich mitgeliefert. So sind aktuell Videos im Trend, die ein Geräusch namens „Brown Noise“ teilen, dass Menschen mit ADHS helfen soll, zur Ruhe zu kommen und sich zu fokussieren. Es hört sich in etwa wie das Rauschen des Zuges in einem U- oder S-Bahntunnel an. Unzählige Nutzer, vornehmlich junge Mädchen, posteten daraufhin unter dem Hashtag #brownnoise Videos, in denen sie zeigten, wie beruhigend der Sound auf sie wirke. Bei über 88 Millionen Aufrufen erscheint es, als hätten sich die Jugendlichen hier ihre eigene virtuelle Therapiewelt erschaffen.

Das Magazin „BuzzFeed“ befragte den Psychologen Johannes Steif, ob das Anhören des eintönigen Geräusches tatsächlich beruhigend auf das Gehirn einwirken könne. Dieser erklärte, dass ADHS-Patienten Geräusche nutzten, um andere Reize auszublenden. In der Regel sei das aber Musik, die nicht ablenke, zum Beispiel Klassik. Der Sound „Brown Noise“ könne solch eine Funktion zwar auch einnehmen, aber es sei nicht bekannt, dass das Geräusch im Gehirn besondere Reaktionen auslöse.

Was ist wahr, was ist unwahr?

In der virtuellen Welt von TikTok, die in Europa etwa 100 Millionen und weltweit 1 Mrd. monatliche Nutzer haben soll, zeigt sich, dass Jugendliche immer mehr Gefahr laufen, Wahrheit und Unwahrheit zu vermischen, ja bald schon nicht mehr voneinander unterscheiden zu können. „In vielen Clips mischen sich vage Alltagsbeobachtungen mit tatsächlichen Diagnosekriterien“, schreibt Marit Langschwager in der „NZZ“. „Was für die einen zu einer bestärkenden Selbsterkenntnis führt, kann bei anderen die unbegründete Furcht auslösen, an einer psychischen Erkrankung zu leiden.“

Wie bei so vielen Inhalten in den sozialen Netzwerken würden TikTok-Videos über ADHS oft falsche oder irreführende Informationen enthalten. Jüngste Forschungsergebnisse hätten dies bestätigt. Langschwager führt eine im Februar im „Canadian Journal of Psychiatry“ veröffentlichte Studie an, die ergab, dass von den hundert am häufigsten angesehenen und gelikten ADHS-Videos etwa die Hälfte irreführende Informationen enthielt.

Laut den Studien-Autoren würden die meisten dieser Videos den Anschein erwecken, dass bestimmte Symptome mit psychiatrischen Störungen wie ADHS in Verbindung gebracht würden. Diese Symptome würden in Wirklichkeit aber auch häufig bei vielen anderen Erkrankungen auftreten.

TikTok kann süchtig machen

Auf der Website „arztphobie.com“ schreibt die Journalistin und Medizinautorin Julia Dernbach, dass immer mehr Menschen süchtig nach TikTok werden. „Die unterhaltsamen Videos packen die Aufmerksamkeit der Nutzer und bombardieren sie durchgehend mit Entertainment. Da die Videos genau dem Geschmack der jeweiligen Nutzer entsprechen, entsteht eine Videosuchtspirale, in der Nutzer wie Fliegen im Spinnennetz kleben bleiben.“

Die Plattform, auf der man selbstgedrehte Videos hochladen kann, sorgt dafür, dass der Feed ständig dem individuellen Geschmack des Nutzers angepasst wird. „Scrollen die Nutzer durch den Feed, lernt das System die Präferenzen der Nutzer nach und nach immer besser kennen und passt diesen stetig mit neuen ähnlichen Videoempfehlungen an“, schreibt Dernbach. „Wer einmal damit beginnt, sich Videos im individualisierten Feed anzuschauen, kommt nur schwer wieder davon los.“

Das Posten von Inhalten und die daraus resultierenden Likes und Kommentare hätten zudem Einfluss auf das menschliche Gehirn. Das Belohnungszentrum im sogenannten ventralen Striatum wird aktiviert, wie aus einer Studie der FU Berlin von 2013 hervorging. „Das Gefühl, das dabei entsteht, verleitet die Nutzer immer wieder dazu, die App ständig zu öffnen und nach neuen Benachrichtigungen ausschauzuhalten.“

Problematisch wird es, wenn es den Alltag negativ beeinflusst. Wenn schulische Leistungen ins Wanken geraten oder der reale Kontakt zu Familie und Freunden vernachlässigt wird, spätestens dann sollte man achtsam werden.

Rituale im Schulalltag

Von Achtsamkeit spricht in diesem Zusammenhang übrigens auch der Publizist und Philosoph Christoph Türcke. In seinem 2012 erschienen Buch Hyperaktiv!: Kritik der Aufmerksamkeitsdefizitkultur“ sieht er es als gesellschaftliche Aufgabe an, den heutigen Kindern „Gegenmaßnahmen“ zu bieten, „um den Schwund an Fähigkeit zu ungeteilter Aufmerksamkeit aufzuhalten“. Fernsehen und Computer würden die Aufmerksamkeit „absorbieren und zermürben“. Er plädiert für die stärkere Verankerung von Ritualen im Schulalltag. Ritualkunde, so seine These, muss zu einem regulären Schulfach werden.



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