Sich massiv zu verlieben war früher eine Art Geisteskrankheit
Sie hat dieselbe Wirkung auf den menschlichen Körper wie Kokain und kann fatale Folgen haben: Es ist kein Zufall, dass fanatische Verliebtheit bis zum 19. Jahrhundert als eine Art Wahnsinn galt. Heute würden die modernen Ärzte hingegen kaum noch Gegenmittel empfehlen. Doch das war nicht immer so.
„Fanatische Verliebtheit“ wurde als Krankheit in der Geschichte durchaus ernst genommen – sie hinderte ja die Patienten oft an den grundlegendsten Aktivitäten des täglichen Lebens.
„Liebeskrankheit war eine ernste Krankheit, denn der Verliebte ignoriert die sozialen Regeln. Er begeht alle möglichen Sünden, sogar Mord oder Selbstmord, wenn es keine Hoffnung für sein Begehren gibt“, so Dr. András László Magyar, Medizinhistoriker.
Der „Wahnsinn der Verliebten“ galt nicht nur für den Betroffenen, sondern auch für die Gesellschaft als äußerst gefährlich. Obwohl es nicht viele medizinische Aufzeichnungen gibt, haben sich einige Medizinhistoriker in die Forschung gestürzt, um dieses Phänomen aufzudecken. Zu finden ist in diesen Dokumenten vieles über die positive und romantische, sogar himmlische Darstellung der Verliebtheit – weniger jedoch über das Phänomen „Liebe als lebensgefährliche Krankheit“.
Was sagt die Antike über Liebessüchtige?
Schon in der Antike wurde die Frage der Liebe viel diskutiert. Von Platon wurde die „Krankheit der Liebe“ als eine „heilige Krankheit“ bezeichnet, während Aristoteles die Ursache hierfür in der „Fixierung auf eine zwanghafte Vorstellung“ sah.
Forschungen der amerikanischen Historikerin Mary F. Wack haben gezeigt, dass sowohl die Griechen als auch die Römer leidenschaftlicher Liebe gegenüber „sehr misstrauisch“ waren. Der Grund für das allgemeine Misstrauen gegenüber Verliebtheit war demnach, dass die erotische Liebe „die kulturellen Ideale von Rationalität und Selbstbeherrschung“ bedrohe. Dieser starke emotionale Einfluss stelle „die rationale Steuerung von Körper und Geist infrage“ – und forderte damit die Grundstrukturen der Gesellschaft heraus.
In ihrer Untersuchung des Themas stellte die Historikerin auch fest, dass „die Bibel, exegetische und mystische Schriften, die klassische Literatur, Volksgeschichten und der Volksglaube alle mit der Diagnose der Ärzte aus dem 12. Jahrhundert übereinstimmten“. Demnach könne „leidenschaftliche Liebe Krankheiten an Körper und Seele verursachen“.
Paracelsus (um 1493–1541), der Schweizer Arzt, stufte die Krankheit eindeutig als eine Art Vergiftung ein, vermerkt Medizinhistoriker Dr. Magyar in seinem Beitrag in der Kulturzeitschrift „Képmás“.
Bischof von Paris: „Eine heftige und höchst intensive Krankheit“
Die „Krankheit der fanatischen Liebe“ hat in den verschiedenen Kulturen unterschiedliche Namen bekommen. Forscherin Adelheid Giedke veröffentlichte eine Zusammenstellung von über 100 synonymen und historischen Bezeichnungen der Liebeskrankheit. Sie hat das Phänomen in arabischen, lateinischen, französischen, englischen und deutschen Texten nachgewiesen. Medizinhistoriker Dr. Magyar erwähnte in seiner Studie einige der Bezeichnungen: „Die Griechen bezeichneten sie als ereos, hereon, erotos, die Araber alas, kuturub, al-isk. Die mittelalterlichen lateinischen Autoren nannten das Phänomen unter anderem hiereos, ilisci, epilepsia amatoria oder furor eroticus.“
Sie soll im Laufe der Geschichte auch viele Menschen getötet haben, erinnert Dr. Magyar. Die Opfer wurden „in ihrem Kummer zermürbt, sie haben sich vergiftet, erstochen oder sind verhungert“.
Gerade weil sie es für so gefährlich hielten, versuchten die Weisen auch, Unheil zu verhindern und die Menschen zu warnen. So sagte zum Beispiel Wilhelm von Auvergne, Bischof von Paris (1228–49) und Theologieprofessor, zu seinen Studenten an der Sorbonne:
„Ihr müsst euch an einige Dinge erinnern, die ihr selbst ständig erlebt. Ihr seht, dass die Liebe ein gewisser Wahnsinn ist, genau wie das, was man ‚morbus eros‘ nennt. Das ist eine heftige und höchst intensive Krankheit. Derjenige, der verliebt ist, befindet sich in einem solchen Hochgefühl, dass er kaum an etwas anderes denken kann als an die Frau, die er so sehr liebt.“
Die Bemerkung des Bischofs zeigt nach Ansicht von Wack deutlich, dass im Mittelalter die „Liebe als medizinisch definierte Krankheit sowohl Allgemeinwissen als auch allgemeine Erfahrung“ war. Bei ihren umfangreichen Archivrecherchen entdeckte Wack mehrere Beschreibungen hierzu. Sie hat diese in ihrem Werk „Liebeskummer im Mittelalter – das Viaticum und seine Kommentare“ beschrieben.
Viaticum: Wissenschaftliches Buch über „Liebessucht“
Die früheste bekannte medizinische wissenschaftliche Arbeit, die das Phänomen der „Liebeskrankheit“ beschreibt, stammt aus der arabischen Kultur. Sie wurde Ende des 11. Jahrhunderts von einem nordafrikanischen Mönch nach Süditalien gebracht. Ein Mönch namens Konstantin hat das Werk zusammen mit einer Reihe anderer medizinischer Texte übersetzt.
Dieses sogenannte Viaticum war ursprünglich als ein medizinisches Handbuch für Reisende gedacht. Später wurde das Buch zu einem Schlüsselwerk in der Geschichte der medizinischen Wissenschaft zum Thema. Es bezeichnete die ungezügelte Liebeskrankheit als eine Art Sucht:
„Liebe, auch ‚Eros‘ genannt, ist eine Krankheit, die das Gehirn berührt. Es ist eine Krankheit, die Gedanken und Ängste hervorruft, da der Leidende danach strebt, das zu finden und zu besitzen, was er begehrt.“
Die Veröffentlichung des Werkes in Europa brachte neue Ansätze in die westliche medizinische Ausbildung. Gleichzeitig sind die Kommentare des Viaticums auch die früheste Sammlung europäischer medizinischer Schriften, die „versucht haben, die griechischen und arabischen Vorstellungen von erotischer Liebe in die mittelalterliche christliche Kultur zu integrieren“, schreibt Historikerin und Forscherin Laura Kalas.
Laut der Historikerin Mary Wack gab Konstantin mit dem Viaticum „westlichen Ärzten, Patienten und Lesern einen theoretischen Rahmen und ein Vokabular, mit dem sie über leidenschaftliche Liebe sprechen konnten“. Weiter fügte sie hinzu, dass das Vokabular selbst und die dahinterstehende Theorie „zwar nicht sehr ausgereift, aber dennoch viel zugänglicher waren als frühere Übersetzungen griechischer medizinischer Werke über das Liebesleid“.
„Ishq“ als Hintergrund der „Krankheit“
Ausgangspunkt für die arabische Medizin, um die Hintergründe der Liebeskrankheit zu erforschen, war ein Begriff: „Ishq“ (arabisch: عشق). Es bedeutet so viel wie „Leidenschaft“ oder „ein unwiderstehliches Verlangen, ein geliebtes Objekt oder Wesen zu besitzen“.
Der Begriff deutet auf ein Gefühl des Mangels hin. Ein quälender Mangel, den derjenige, der ihn empfindet, um jeden Preis ausfüllen muss, um Vollkommenheit zu erreichen. Wack zitiert den Gelehrten Ibn al-Jawzi (13. Jahrhundert), der feststellte, dass nach arabischem Verständnis „aus diesem intensiven Denken die Liebeskrankheit geboren wird“.
Dieser Begriff hat eine religiöse Dimension, die in der arabischen Kultur sogar viel bedeutender ist. Es ist derselbe Mangel, der die Seele zur Vollkommenheit antreibt. So kann dasselbe Bedürfnis die Wurzel der leidenschaftlichen Suche nach Gott sein, wenn man „von der Suche nach dem Ewigen, Transzendenten und Heiligen besessen ist“.
Der Begriff ishq wird in der Sufi-Dichtung verwendet, um die „selbstlose und brennende Liebe“ zu Allah zu beschreiben. In der Tat ist es ein grundlegendes Konzept in der islamischen Mystik, da es als Schlüssel für die Beziehung zwischen Mensch und Gott angesehen wird.
Vorstellungen der westlichen Welt entsprechen ishq. Platons Begriff des Wahnsinns und die damit verbundenen westlichen Ansichten über die Liebe (in der Welt der Philosophie und Literatur) ließen sich alle mit dem arabischen Konzept in Einklang bringen, so Wack.
Mittelalterliche medizinische Diagnosen
Dass die Ursache der „Krankheit“ geistiger beziehungsweise seelischer Natur war, darüber herrschte beinahe allgemeiner Konsens. Selbstverständlich gab es auch andere Vorstellungen. So glaubten einige zum Beispiel, dass die fanatische Liebe durch eine Krankheit der Hoden oder andere körperliche Ursachen hervorgerufen wurde. Die medizinische Fachliteratur konzentrierte sich jedoch hauptsächlich auf die körperlichen Symptome und ihre Behandlung.
Dokumentierte Symptome der Liebessucht waren im Mittelalter vielfältig: Appetitlosigkeit, unregelmäßiger Blutfluss, eingefallenes Gesicht, unruhige und oft tränende Augen. Hierzu kommen auch Orientierungslosigkeit, trockene Zunge und verschwitzte Handflächen.
Gefährlich für die sozialen Beziehungen und Angelegenheiten war ein auffälliges Symptom: Gleichgültigkeit in Bezug auf alles, was nicht konkret mit dem Objekt der Liebe zu tun hatte. Der Medizinhistoriker Dr. Magyar erwähnt zudem auch abnormalen Gewichtsverlust, trüben Urin und die ungewollte Ejakulation oder Orgasmen als verdächtige Anzeichen der „Krankheit“ für die Ärzte der damaligen Zeit.
In der arabischen Schrift Viaticum wurde außerdem ein Zusammenhang zwischen übermäßiger schwarzer Galle im Körper und amourösem Unwohlsein beschrieben. Eine Reinigung der Galle wurde durch Erbrechen, Erbrechen von Blut und intensive Bewegung erreicht. Seelisches Unwohlsein und Befreiung von der Sucht der Liebe sollte zudem behoben werden, indem man die Ängste und Sorgen des Patienten besänftigte und ihm Zuversicht gab.
Die Heilmittel waren vielfältig
Das Hauptelement des Heilens war also, den Patienten von der „Besessenheit“ abzulenken und ihm dabei zu helfen, wieder Hoffnung und Güte im Leben zu erkennen.
Die erste Aufgabe war, dafür zu sorgen, dass die körperliche Kraft des Patienten wiederhergestellt wird. Das wurde vor allem durch Methoden wie Bäder, gutes Essen, Wein und viel Schlaf erreicht.
Die Ablenkung des Denkens wurde anderweitig erreicht. So zum Beispiel durch die Erinnerung des Patienten an geschäftliche Angelegenheiten oder an echte oder erfundene rechtliche Schwierigkeiten. Zu den Methoden gehörte auch die Ablenkung durch verschiedene Sport- und Spielarten; für wohlhabendere Leute etwa Reiten oder Schachspielen. All das diente einem einzigen Zweck: Den Patienten so weit wie möglich vom Fantasieren abzubringen.
Daneben gab es jedoch auch heute seltsam anmutende Methoden. Dr. Magyar schreibt in seinen Aufzeichnungen, dass einige arabische Ärzte sogar das Beschimpfen des Geliebten oder das Beobachten des Partners in enttäuschenden Situationen (zum Beispiel beim Toilettengang) als Heilmittel empfahlen.
Patienten erhielten eine Behandlung, die ihrem sozialen Status entsprach. Kranke der oberen Schicht konnten sich eine professionelle medizinische Versorgung durch einen Arzt mit Universitätsabschluss leisten. Diese Ärzte waren bereits während ihrer Ausbildung in der Diagnose und Pflege des Liebestollen geschult worden.
Die große Mehrheit der Bevölkerung konnte sich hingegen nur auf die Hilfe von Weisen aus dem Volk oder auf lokal übliche Heilpraktiken verlassen, erinnert die Forscherin Laura Kalas.
Eine Interpretation und Behandlung der Liebe als buchstäbliche Krankheit ist in der Neuzeit verblasst und heute fast unvorstellbar geworden. In einigen wenigen Zweigen der Psychologie wird noch dazu geforscht. Hier sind es jedoch in der Tat verschiedene Entartungen der Liebe oder andere damit verbundene psychologische Probleme, die eingehender behandelt werden.
Literarische „Fantasie“ über dämonische Besessenheit
Über den medizinischen Ansatz hinaus spielt auch die Fantasie eine größere Rolle. So wurde die Liebeskrankheit als typische Erscheinungsform dämonischer Besessenheit im Laufe der Geschichte immer wieder in der Literatur aufgegriffen.
Berühmte Schriftsteller haben mehrere warnende Beispiele gegeben. „Die Gedichte von Sappho und Ovid beschreiben die körperlichen und geistigen Störungen der Liebe, während die tragischen Geschichten von Medea, Hippolytus und Phaedra die Bedrohung der sozialen Ordnung durch die Liebe thematisierten“, so Forscherin Wack.
Als „Experten für die Liebe“ haben sich auch französische Schriftsteller mit dem Thema beschäftigt. So zum Beispiel in den frühen 1900er-Jahren die beiden klassischen Autoren der französischen Phänomenologie, Sartre und Merleau-Ponty.
Der ungarische Schriftsteller Péter Bence Marosán formulierte in seiner Analyse der Werke der französischen Klassiker sogar ein Rezept für drei Schritte der dämonischen Besessenheit. In „Über die Liebe und andere Dämonen“ fasst er die wesentlichen Phasen der Besessenheit kurz und bündig zusammen:
- Invasion: Diese Art von Liebe ist ein invasives Phänomen, sie ergreift Besitz über die ganze Person.
- Totale Mobilisierung: Diese Liebe mobilisiert jedes Element, jede Schicht und verborgene Kraftreserve der Person.
- Dezentralisierung: Diese Liebe dezentralisiert. Wir werden aus dem Zentrum unserer Lebensgeschichte entfernt, der Held unserer Lebensgeschichte ist nicht mehr wir selbst, sondern die Geliebte.
Auch im 20. Jahrhundert war die Vorstellung von Liebe als eine Art Besessenheit den Menschen damit noch nicht fremd gewesen. Ganz zu schweigen von einigen Werken der heutigen Filmindustrie. Viele Sprichwörter warnen vor der Liebessucht, so wie dieses aus der griechischen Antike:
Wenn das Verlangen verdoppelt wird, wird es zur Liebe; wenn die Liebe verdoppelt wird, wird sie zum Wahnsinn.“
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