Sind wir freiheitsmüde?
Im Westen weht ein linksgrüner Zeitgeist. Im medialen und politischen Mainstream erscheinen Prinzipien wie Freiheit und Selbstverantwortung zunehmend als unverlässlich und unsolidarisch. Populärer ist die Rede vom Staat als Wertegemeinschaft und kollektiver Solidarität. Ob Klimakrise, Pandemiekrise, Demokratiekrise oder Geschlechtergerechtigkeit: statt auf mündige Menschen setzt man lieber auf den Staat als Umweltschützer, Krankenschwester und moralische Instanz. Gesetze, Steuern, Quoten. Sind wir freiheitsmüde geworden? Oder hatte die Freiheit des Einzelnen schon immer einen schweren Stand, weil sie anstrengender ist als der Herdentrieb?
Eine Kultur der Mündigen und Selbständigen setzt lebenslange Arbeit an sich selbst voraus, ein Wille zur Selbstverantwortung. Das entspricht nicht dem menschlichen Instinkt. Der Mensch sucht nicht die Risiken der Freiheit auf der Wildbahn, wenn er nicht muss, sondern die Nestwärme. Der Mensch will behütet sein. Er will, dass jemand sich kümmert und Verantwortung übernimmt. Das erklärt die anhaltende Anziehungskraft sozialistischer Modelle mit dem Versprechen, dass der Staat sich kümmert. Dass der Staat die Gefahren von Freiheitsmissbrauch und Willkür zu bannen vermag, kraft einer höheren Autorität. Nestwärme und Herdentrieb kommen aus dem Wunsch des Menschen auf ein bequemes, abgesichertes Leben. Diesen Wunsch machen sich verschiedene Formen des Kollektivismus zunutze, ob in grüner, roter oder brauner Verpackung.
Im Gegensatz dazu leben freie Gesellschaften von einer Kultur der individuellen Reife. Der katholische Kirchenlehrer Thomas von Aquin (1225–1274) definiert Freiheit als „steigenden Selbstbesitz“. Frei werden bedeutet nach Thomas, sich selber immer mehr besitzen zu lernen. Um eines Tages so zu handeln, wie man es vor sich selbst wahrhaft verantworten kann, statt nur der Herde zu folgen, oder den Trieben zwischen Angst und Lust.
Wenn die Menschen weniger an die erlösende Kraft der Herde oder des Staates glauben, dafür wieder mehr an die sittliche Kraft der Selbstverantwortung, dann dienen sie damit nicht nur der Entfaltung der eigenen Person, sondern dem gesellschaftlichen Raum für Kreativität und Fortschritt. Freiheit und Verantwortung sind nicht Prinzipien der Vergangenheit, sondern der Zukunft. Der Einzelne macht den Unterschied, nicht das Kollektiv. Der Einzelne kann sich selbst besitzen, nicht das Kollektiv.
Giuseppe Gracia (55) ist Schriftsteller und Kommunikationsberater. Sein neues Buch «Die Utopia Methode» (Fontis Verlag, 2022) beleuchtet die Gefahren utopischer Politik
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