Volksmärchen der Brüder Grimm: „Kann ich das meinen Kindern noch vorlesen?“

Sind die klassischen deutschen Märchen zu grausam? Die Debatte beschäftige schon Wilhelm Grimm im Jahr 1813. Er antworte darauf: „Das Märchen […] hab ich in der Jugend von der Mutter erzählen hören, es hat mich gerade vorsichtig und ängstlich beim Spielen gemacht.“ 
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Sind Märchen zu hart? Sie haben lange Zeit als moralische Richtschnur gedient.Foto: iStock
Von 11. Dezember 2022

Würden Sie an einem lauschigen Adventsnachmittag, mit einer „guten Tasse Tee“ auf dem Sofa gekuschelt, ihren Kindern solch ein Märchenende vorlesen?

„Und wie sie hereintrat, erkannte sie Schneewittchen, und vor lauter Angst und Schrecken stand sie da und konnte sich nicht regen. Aber es waren schon eiserne Pantoffeln über Kohlenfeuer gestellt und wurden mit Zangen hereingetragen und vor sie hingestellt. Da musste sie in die rot glühenden Schuhe treten und so lange tanzen, bis sie tot zur Erde fiel.“

Laut einer ZDF-Umfrage aus dem Jahr 2011 ist das beliebteste Märchen der Deutschen „Schneewittchen“. Die Geschichte von der „Schönsten im ganzen Land“ ist wie andere gesammelte Märchen der Brüder Grimm von grausamen Bestrafungen nur so durchdrungen.

„Kann ich das meinen Kindern noch vorlesen?“

Ein Konsens in der Streitfrage „Sind Märchen zu grausam?“ zeichnet sich laut dem Märchenpädagogen Oliver Geister kaum ab. Die „Grausamkeit“ resultiere vor allem aus den in den Märchen dargestellten Bestrafungen.

Achim von Arnim tadelte die Brutalität von Grimms gesammelten Märchen „Wie Kinder Schlachtens miteinander spielten“: „Schon habe ich eine Mutter darüber klagen hören, […] sie könnt es ihren Kindern nicht in die Hand geben.“

Wilhelm Grimm rechtfertigte sich zunächst und schrieb am 28. Januar 1813:

Das Märchen […] hab ich in der Jugend von der Mutter erzählen hören, es hat mich gerade vorsichtig und ängstlich beim Spielen gemacht.“ 

Dennoch erschienen manche Märchen wie dieses in den folgenden Auflagen nicht mehr. Oder sie besaßen einen deutlich milderen Ton, besonders auch hinsichtlich von Strafdarstellungen. 200 Jahre später schreibt Katrin Rönicke, dass Märchen aufgrund „alter, furchtbarer Rollenklischees, Gewalt und schwarzer Pädagogik“ überholt seien.

Demgegenüber arrangiert man sich jedoch mit dem „Bösen“ in den Märchen; beginnend bei Bruno Bettelheim sehen Psychologie und Pädagogik das Böse bis heute als versöhnende Momente der Selbstbegegnung: „Das Böse und Grausame ist nicht nur Teil der Welt, sondern auch ein Teil von uns selbst. Das sagt zumindest die Psychoanalyse. Die Pädagogik sollte das Grausame an sich deshalb nicht totschweigen und verdrängen. Im Gegenteil: Gerade die Konfrontation mit dem Bösen und Grausamen im Märchen kann Kindern helfen, bestimmte Entwicklungsphasen und -krisen erfolgreich zu bewältigen“, so der Märchenpädagoge Oliver Geister.

Vom Geschöpf zum Schöpfer

Seit Beginn der neuzeitlichen Aufklärung emanzipiert sich der Mensch vom göttlichen Gebot. Die menschliche und nicht mehr die göttliche Vernunft schaffe nun das Gesetz. Nach Immanuel Kant könne eine überzeitliche Gerechtigkeit nur spekulativ sein.

Der so souveräne Mensch ließe sich damit gleichsam keine überweltlichen Schuldscheine mehr ausstellen. Das Geschöpf definiere jetzt selbst, was gut und schlecht sei. Es unterwirft sich nicht mehr überzeitlichen Gesetzen. Seine souveräne Selbstwirksamkeit erhöhe ihn zum Schöpfer. Strafe schaffe Opfer und widerspreche so dem Schöpfer Mensch.

Die kosmologischen Gesetzmäßigkeiten in den Volksmärchen beschreibt die Märchenforschung vorrangig als „Stereotype“. Überzeitliche Werte wie Tugenden relativierten sich im Laufe der Neuzeit. Sie gelten heute als säkularisierter Richtwert für den wirtschaftlichen und auch gesellschaftlichen Umgang. Diese in sich sehr komplexen Deutungsmuster der Aufklärung prägen die heutige Befremdung gegenüber der Darstellung von Strafe in den Märchen.

Abspaltung vom Guten

Die Weitergabe von Volksmärchen ist eine der ältesten Kulturinstrumentarien in der Menschheitsgeschichte. Hier galt das Gute als Synonym für das Göttliche. Das Böse spaltet sich vom Guten, vom göttlichen Ursprung. Diesbezüglich leitet sich unter anderem die Herkunft des Wortes „Sünde“ von „Spaltung“ und  „Sonderung“ ab. Die Grausamkeit der Volksmärchen ergibt sich vor allem durch seine ungeschönte Darstellung dieser Konsequenz.

Heribert Ostendorf formuliert Strafe als eine vom Menschen ausgehende „Absicht, Übel zuzufügen“. Das Geschehnis von Strafe in den über Jahrtausende gewachsenen Volksmärchen hingegen entstand vor dieser strafrechtlichen, allgemeingültigen Definition der Neuzeit. Es beschreibt vielmehr überzeitliche Gesetzmäßigkeiten.

Diese sind gleichsam einfache Rechnungen mit mathematisch genauen Ergebnis von Tat und Wirkung: Gutes zieht Gutes, Schlechtes zieht Schlechtes nach sich.

Wie es in den Wald hinein ruft …

Das physikalische Gesetz der Resonanz „auf gleicher Welle“ klingt hier an. Es beschreibt das Phänomen „Gleiches schwingt mit Gleichem“. Diese Ideen bilden eine Parallele zur Lehre von karmischen Ursachen: Die Schwingung von Gedanken und Taten zeigen sich auch außerhalb der irdisch sichtbaren Räume. Diese funktionieren wie der Resonanzkörper eines Instruments.

Sie lassen Gedanken und Taten wie eine bestimmte Frequenz auf den Verursacher zurückklingen: „Wie es in den Wald hineinruft, so kommt es wieder hinaus.“ Hier erleben Religion und Wissenschaft wie Musik und die Quantentheorie nicht nur begriffliche Überschneidungen.

Auch der Soziologe Hartmut Rosa beschreibt, dass die Resonanztheorie der Physik durchaus auf alle Lebensbereiche des Menschen anwendbar sei; so auch auf die Volksmärchen. Das kosmologische Geschehnis von Resonanz und Karma stellt das Motiv der Strafe in den Volksmärchen in ein neues Licht. So erhalten diese für den Leser eine neue Wertigkeit.

Karma: Gute Taten, schlechte Taten

Der südkoreanische Film „Frühling, Sommer, Herbst, Winter, Frühling“ beispielsweise stellt diese mathematische Gleichung von Resonanz und Karma dar. Nachdem der kindliche Novize Steine auf den Rücken von Tieren gebunden hat, bürdet ihm sein Meister ebenfalls einen Stein auf den Rücken. Die Prophezeiung des Meisters lautet: Der Tod der Tiere laste auf seinem Herzen wie ein Stein. Unter den Tränen des Jungen wird seine Missetat zu einem Stein auf seinem Herzen. Die ruhig vollzogene, geradezu rituelle Konsequenz des Meisters ist gänzlich ohne bestrafende Aggression oder erzieherische Unterdrückung.

In den verschiedenen Religionen und Kulturen des Buddhismus, Hinduismus, im Urchristentum sowie in den Anfängen der Wissenschaften wird von Karma gesprochen: Jede Handlung und jeder Gedanke hat eine Folge. Auch die Medizin weist „Karma“ als allgemein wirkende Gesetzmäßigkeit für ein gelingendes Leben nach. Es baue sich als helle Substanz durch gute Taten und Gedanken auf. Dunkle Materie bilde sich demgegenüber durch schlechte Taten und Gedanken. Als eine leidvoll zu durchdringende Masse verursacht sie Leid bei der Rückkehr zum Guten, zur göttlichen Natur. Sie entsteht also nicht aufgrund einer Beurteilung durch einen Weltenrichter.

Karma als Materie formt sich beispielsweise wie das „Gold“ und das „Pech“ in „Frau Holle“ oder wie die eingangs erwähnten rot glühenden Schuhe aufgrund der Fehltritte der bösen Königin. Das kosmische Gesetz von Ursache und Wirkung beschreibt insofern kein Prinzip von Belohnung und Strafe als Kategorien menschlicher Bewertung. Im oben genannten Film erkennt der Novize seine Missetat durch seinen eigenen Schmerz.

Der Meister weist ihn zurecht, indem er den Schüler wieder auf den rechten Weg setzt, in die rechte Frequenz fügt. Zurechtweisung ist die ursprüngliche Bedeutung von „Strafe“ und beschreibt so vielmehr ein Geschehnis von Güte, was der Lesart der neuzeitlichen Aufklärung schwer ankommt: „Denn wen der Herr liebt, den züchtigt er“ (Hebräer 12, 6ff.). Die gärtnerische Beschneidung wilder Triebe bei Pflanzen bildet hierbei einen Bezug.

Negative Märchenhelden

Der negative Märchenheld steht durch seine „Auswüchse“ nicht mehr im Gesetz, unter dem Schutz des harmonisch Guten. Er klingt in der Dissonanz von Leid, Pech und Unglück. So ist er gleichsam aus der musikalischen Ordnung kosmischer Gesetzmäßigkeit herausgefallen und dem Missklang des Bösen „vogelfrei“ ausgeliefert. Daher strafen sich durch ihre Untugenden die negativen Märchenfiguren selbst. „Taugen“ ist das Herkunftswort für „Tugend“. Was dem kosmischen Plan des Guten nicht entspricht, „taugt“ nicht und wirft sich selbst aus diesen heraus.

Die Strafen in den Märchen erscheinen Kindern in dieser Konsequenz von Ursache und Wirkung nicht so grausam wie Erwachsenen: Schulden werden schmerzhaft ausgeglichen. Diese mathematische Logik einer alles durchwirkenden, auch schützenden Gerechtigkeit erfassen sie instinktiv. Der Märchenpädagoge Oliver Geister:

Kinder können diese Bildsprache oft besser entschlüsseln als Erwachsene.“

Advent – eine Zeit der Bewusstwerdung

Parallel zu der Forderung, die Volksmärchen in ihrer Grausamkeit quasi abzuschleifen, soll Kindern und Jugendlichen wiederum nichts vorenthalten werden, was sich in der Akzeptanz des Bösen an sich zeigt. Das gemeinsame Experimentieren und Aushandeln solle vielmehr Vorgaben in der Erziehung ersetzen.

Die Bestseller-Autorin und Pädagogin Susanne Mierau meint hierzu in einem Interview, dass Eltern daher auf Konsequenzen gänzlich verzichten sollten: „Kinder sollten selbst und frei entscheiden können, und zwar so ziemlich über alles.“ Ähnlich betrachtet die bekannte Pädagogin Katharina Saalfrank „Wenn-dann-Sätze“ als Nötigung im juristischen Sinn. Strafe und Belohnung als manipulative Erziehungsmethoden würden verhindern, „dass ein Kind aus sich selbst heraus agiere. […] Auch Eltern dürfen Ideen entwickeln und Vorschläge machen und mit diesen dann im Alltag experimentieren.“

Der Druck auf Eltern und damit auch auf Kinder wachse und münde im Alltag in oft nicht lebbare Überforderungssituationen, beschreibt demgegenüber Christine Henry-Huthmacher.

Schutz und Heimat bieten hier traditionelle Werte wie die Rückbesinnung auf die Tugenden, die sich in den überlieferten Volksmärchen zeigen. „Gutes zieht Gutes, Schlechtes zieht Schlechtes nach sich“ stellen universelle Zusammenhänge dar, die das gesellschaftliche Miteinander und den eigenen Seelenhaushalt stabilisieren.

Hier klingt der alte Adventchoral „Macht hoch die Tür, die Tor macht weit“ an: Der Advent öffnet als sprichwörtlich besinnliche Fastenzeit Türen: insbesondere durch die „ungemütlichen“ Stellen in den Volksmärchen können wir wieder „zur Besinnung“ kommen. Kinder können in ihrer Unbefangenheit hierbei gute Begleiter sein.



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