Was ist Narzissmus?

Selbstverliebt war er, der Jüngling Narziss. Doch was wird heute alles unter Narzissmus verstanden? Der Begriff bezeichnet im Allgemeinen die Entwicklung des Selbstwertes einer Person.
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Oftmals auch selbstverliebt: Selfies für die Sozialen Medien.Foto: iStock
Von 19. August 2023

Der Begriff des Narzissmus kommt aus dem Griechischen und bedeutet soviel wie Krampf, Lähmung, Erstarrung. Der Mythos um den Jüngling Narziss ist in seiner symbolischen Bedeutung recht komplex, deshalb hier zum besseren Verständnis unserer heutigen Verwendung des Narzissmus-Begriffs in der Psychologie nur soviel: Narziss war ein schöner Jüngling, den viele Menschen, Männer wie Frauen, begehrten.

Alle Avancen wies er brüsk zurück, bis eines Tages ein Verschmähter ausrief, er möge selbst einmal lieben und diese Liebe nie gewinnen können. Schließlich erblickte Narziss im Wasser einer idyllischen Quelle sein Spiegelbild und verliebte sich unsterblich. Er konnte sich diesem Bild zwar nähern, es spiegelte sogar seine Gesten, doch erreichen und berühren konnte er es nicht.

Schließlich erkannte er sich selbst in diesem Spiegelbild und verging mit der Zeit vor Kummer über die unerreichbare Liebe zu seinem eigenen Spiegelbild. An seiner Stelle fand sich jedoch kein Leichnam, sondern eine Narzisse, die sich im Wasser spiegelte.

Sigmund Freud schreibt in seinem Aufsatz „Zur Einführung des Narzissmus“: „Der Terminus […] ist zur Bezeichnung jenes Verhaltens gewählt worden, bei welchem ein Individuum den eigenen Leib in ähnlicher Weise behandelt, wie sonst den eines Sexualobjekts […].“

Narzissmus und Selbstwert

Die Psychoanalyse versteht den Begriff des Narzissmus aber nicht nur auf den Körper bezogen, sondern erheblich um die psychische Dimension erweitert. Der Begriff des Narzissmus ist nicht nur negativ belegt, sondern bezeichnet im Allgemeinen die Entwicklung des Selbstwertes einer Person.

Die gesunde narzisstische Entwicklung braucht Bezugspersonen, die sich in das Kind einfühlen und seine Emotionen anerkennen und wertschätzen können. So entwickelt das Kind mit der Zeit ein realistisches Selbstwertgefühl, das grundsätzlich positiv, aber nicht übersteigert ist.

So entwickelt das Kind die Fähigkeit, andere Menschen in ihrer Unterschiedlichkeit zum eigenen Selbst und auch den eigenen Bedürfnissen anzuerkennen. Interessen können dann ausgleichend miteinander verhandelt und Kompromisse zu beiderseitigem Wohl gesucht und gefunden werden. 

Davon wird der pathologische Narzissmus unterschieden, bei dem sich das Individuum in seinen vitalen seelischen Interessen ausschließlich auf die eigene Person konzentriert und eben nicht auf die Mitmenschen.

Der andere wird nicht als eigenständiges Wesen in seiner Andersartigkeit wahrgenommen, sondern ausschließlich im Hinblick auf seinen Einfluss auf die Befindlichkeit des Narzissten erlebt und beurteilt. Die Schweizer Psychoanalytikerin Jeannette Fischer spricht in diesem Zusammenhang auch von einer Auslöschung der Differenz zwischen dem narzisstischen Ich und dem anderen Menschen. 

Zwischen Großartigkeit und Unwert

Der pathologisch narzisstische Mensch ist mehr oder minder ausschließlich auf sich selbst bezogen. Er ist dadurch kaum in der Lage, sich in die Sichtweisen anderer Menschen einzufühlen. Seine Gefühle schwanken häufig zwischen extremer Großartigkeit und totalem Unwert. Oft kehrt er die Großartigkeit nach außen, während er sich insgeheim oder unbewusst durchgehend wertlos fühlt.

Daher rührt auch seine erhebliche Kränkbarkeit, wenn jemand ihn kritisiert oder er auch nur das Gefühl bekommt, nicht ausreichend wertgeschätzt und bewundert zu werden. Wird der pathologisch narzisstische Mensch gekränkt, reagiert er im Wechsel entweder depressiv und zieht sich zurück (zum Beispiel im Gefühl des verkannten Genies) oder er reagiert mit erheblicher Wut und Rachebedürfnissen.

Diese sogenannte narzisstische Wut muss nicht zu Gewaltausbrüchen führen, sie kann auch innerlich ausgelebt werden und zu tiefstem und kaltem paranoiden Hass auf die Mitmenschen werden.

Mit Verlust der Jugendlichkeit und nachlassenden Kräften im Verlauf des Lebens kommt es beim narzisstischen Menschen immer wahrscheinlicher zu einer depressiven Dekompensation: Er kann die Äußerlichkeiten, die den verwundeten Selbstwert stabilisieren sollen, einfach nicht mehr aufrechterhalten.

Der Körper altert, die Leistungsfähigkeit wird geringer, es wird immer schwerer, junge Partner oder Partnerinnen anzuziehen – all dies trägt zum Zusammenbruch der „Selbstwertkrücken“ des Narzissten bei. 

Oft kommen diese Menschen erst dann – und damit spät – in psychotherapeutische Behandlung.

Der narzisstische Mensch kann unter bestimmten Bedingungen aber auch aggressiv dekompensieren, was eher selten vorkommt. Beredte Beispiele sind aber durchaus die Tendenzen einiger Diktatoren in der Geschichte, am Ende in einem Feuersturm sich und möglichst vieles um sich herum auszulöschen. Nicht selten entziehen sie sich durch Selbstmord den Konsequenzen ihrer Handlungen und damit auch der gefühlten Entwertung durch die Anklagen ihrer Opfer.

Johannes Heim ist Psychologe, Psychologischer Psychotherapeut und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut sowie Dozent und Supervisor für Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie und Co-Gründer des Hermes Instituts für private Bildung.



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