Fehlbildungen bei Neugeborenen: Politik schließt teratogene Einwirkungen von Glyphosat nicht aus

Der Aufruf von Hebamme Sonja Liggett-Igelmund hat eine Lawine von Fragen, Emotionen und Vorwürfen ausgelöst. Das Ministerium handelt, indem es ein Bundesregister einführen möchte. Doch ist das Vorkommen von fehlgebildeten Extremitäten eine außergewöhnliche Häufung oder eine Laune der Natur?
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Missbildungen bei Neugeborene regt seit Tagen die bundesweite Berichterstattung an.Foto: iStock
Von 20. September 2019
Was steckt hinter den sechs Babys mit fehlgebildeten Händen in Euskirchen und Gelsenkirchen? Die Spekulationen von Verschuldung durch Pestizide oder Medikamente und die Aufmerksamkeit der Medien machen der Gesundheitspolitik Druck.
Obwohl durch die Gesundheitsberichterstattung des Bundes bekannt ist, dass in Deutschland jährlich rund 50 Neugeborene mit fehlgebildeten Händen zum Durchschnitt gehören, will das Gesundheitsministerium genauer hinsehen. Daher werden alle Kliniken in NRW aufgefordert, ähnliche Fehlbildungen wie in Gelsenkirchen und Euskirchen bekanntzugeben. Im Weiteren teilt das Ministerium mit:
Wenn es eine auffällige Häufung von Fehlbildungen bei Neugeborenen geben sollte, muss das so schnell wie möglich geklärt werden.“

Rund 30 Betroffene melden sich

Aufgrund des EXPRESS-Berichts sollen sich mehr als 30 Betroffene bei Hebamme Liggett-Igelmund gemeldet haben. „Focus“ berichtet, eine Mutter habe folgendes an EXPRESS geschrieben:

 So wichtig und richtig, dass endlich über dieses Thema berichtet wird! Wir sind ebenfalls betroffen. Unser Sohn kam 2017 mit einer fehlgebildeten rechten Hand zur Welt (verkürzter Unterarm, zwei Finger, einer funktional zu gebrauchen).“
Die Süddeutsche Zeitung schreibt: Europaweit werden etwa zwei bis drei Prozent aller Babys mit einer Fehlbildung geboren. Die Ursachensuche ergibt, dass etwa bei einem Drittel genetische Komponenten diagnostiziert werden können. In bis zu zehn Prozent aller Fälle werden Umweltfaktoren identifiziert. Doch in jedem zweiten Fall können die Ärzte keine Ursache für die Fehlbildung benennen.

Missgebildete Ferkel beweisen vorgeburtliche Belastung mit Glyphosat

Die Universität Leipzig erhielt 2013 körbeweise eingefrorene Ferkel zu Untersuchungszwecken. Ein dänischer Schweinezüchter suchte damals Veterinärmedizinerin Professor Monika Krüger auf. Er wollte von der Mikrobiologin wissen, ob seine Ferkel mit Glyphosat belastet waren.

Der Verdacht wurde nachweislich bestätigt, alle Tiere waren vorgeburtlich mit dem Herbizid in Kontakt gekommen. 2013 wurde somit bewiesen, dass das Pestizid im Tierfutter die Plazentaschranke überwindet und somit in den Blutkreislauf der Föten gelangt, dies berichtet MDR- AKTUELL.

Detlef Seif von der CDU: Ein Frühwarnsystem könnte helfen

Ich weiß von drei Fällen aus den letzten Monaten, in denen Kinder mit nur einer Hand geboren wurden“, so Seif.

Der CDU-Bundesabgeordnete Detlef Seif berichtet dem „Kölner Stadt-Anzeiger“ und der „Kölnischen Rundschau“, es würde im Kreis Euskirchen ebenso wie in Gelsenkirchen eine ungewöhnliche Häufung von Neugeborenen mit Handfehlbildungen geben.

Detlef Seif soll erstmals von diesem Thema vor acht Monaten in einem Bürgergespräch erfahren haben. Damals berichtete eine Großmutter von der Fehlbildung ihres Enkels. Doch damit endete diese nicht sondern sie erzählte weiter, dass im selben Dorf — das typischerweise zwischen Feldern liegt — kurz darauf noch ein Baby auf die Welt kam, dem ebenfalls eine Hand fehlte. Das dritte Kind wurde ein paar Orte weiter geboren. Alle kamen mit der gleichen Fehlbildung zur Welt. Die Eigenrecherche des CDU-Bundesabgeordneten hatte zu  jener Zeit ergeben, dass keiner der öffentlichen Stellen für dieses Anliegen zuständig war.

Die „Welt“ berichtet, dass im Wahlkreis von Detlef Seif mittlerweile der vierte Fall bekannt wurde. Seif plädiert auf ein Frühwarnsystem auf Bundesebene, eine der Hoffnungen bestehe darin, die Einflussfaktoren einzugrenzen. Derzeit gibt es zwar bundesweite Perinatalstatistiken, doch diese sind darauf ausgelegt die Anzahl der Menschen mit Behinderungen zu erfassen, jedoch nicht zwischen den Arten von Behinderungen zu unterscheiden.

Spahn ruft zu Besonnenheit auf

Laut „Focus online“ ruft Gesundheitsminister Jens Spahns dazu auf, Besonnenheit walten zu lassen. Er erklärt, dass das Gesundheitsministerium nicht daran interessiert sei, sich an Spekulationen zu beteiligen. Der Aufruf Spahns zur Vernunft, soll jedoch kein Zeichen dafür sein, die Sorge der Betroffenen auf die leichte Schulter zu nehmen, ganz im Gegenteil, die Regierung würde sich dieser Sache mit Sorgfalt annehmen. Spahn äußert dazu:

Wir ziehen erst dann Schlussfolgerungen, wenn wir auch etwas wissen.“

Die Sorgen der Eltern werden laut Spahn „sehr, sehr ernst“ genommen. Die Ursachenforschung würde nun beginnen, von daher bittet das Ministerium um Geduld. Konkrete Angabe wann und wie diese Untersuchung stattfinden soll gibt es aber noch nicht.

Sechs bestehende Register in Frankreich können nach einem knappen Jahr noch keine Antworten liefern

Seit bekannt werden der Vorfälle in Frankreich gibt es insgesamt sechs Fehlbildungsregister – vier in der Metropolregion, eins auf der Insel Réunion und eins auf den Antillen. Eine flächendeckende Überwachung ist dadurch jedoch nicht möglich, die Erhebungen können bislang nur rund 19 Prozent der Lebendgeburten registrieren.

Emmanuelle Amar, Chefin des Fehlbildungsregisters in Remera, hatte in früheren Interviews darauf hingewiesen, Pestizide aus der Landwirtschaft, Giftmüll oder Probleme bei der Trinkwasserversorgung als mögliche Ursachen zu untersuchen. Bezogen auf die statistischen Werte könnte Sie den Unmut der Betroffenen verstehen, da die Statistiken jenen aktuell nicht weiterhelfen können. Die Medizinerin erinnert daran, es würde nicht darum gehen Schuldige zu finden, sondern zu verstehen, was passiert ist.

Bislang würde die Auswertung der Daten durch eine französische Expertenkommission jedoch nur empfehlen, weitere Datensätze zu erheben. Daher wird ein knappes Jahr nach Beginn der Registrierungen ein siebentes Register angedacht. Antworten für die Betroffenen und deren Angehörigen gibt es jedoch noch keine.

Deutsche Mediziner sehen keinen Grund zur Sorge

Mainz: Prof. Fred Zepp, Direktor des Zentrums für Kinder- und Jugendmedizin, relativiert die Situation mit den fehlenden Gliedern:

Wir können in Mainz ein Stück Stellung dazu nehmen, weil wir seit 1990 bis zum Jahr 2016 ein Fehlbildungsregister betrieben haben.“

Prof. Zepp gibt zu bedenken, dass es notwendig ist, die Handfehlbildungen genau zu befunden, um die Defekte vergleichen zu können. Erst durch diese Gegenüberstellung könnte ermessen werden, ob es eine tatsächliche Verbindung zwischen den Fällen gibt oder ob das Ereignis nur zufällig zur gleichen Zeit auftauchte.

Überzeugt vom Mainzer-Register fordert Prof. Zepp die Regierung auf, dieses als Vorbild zu nehmen, um fünf bis sechs regionale Erhebungen in Deutschland zu erfassen.

Sachsen-Anhalt hat ebenfalls etwa seit 1980 an der Uni Magdeburg ein Fehlbildungsmonitoring. Dieses soll sogar einen Rückgang der Neugeborenen mit Fehlbildungen der Extremitäten aufgelistet haben. Jene Aufzeichnungen behaupten, durchschnittlich würde eines von 1.127 Kinder mit missgebildeten Extremitäten zur Welt kommen.

Datteln: Prof. Dr. med. Claudia Roll leitet die Abteilung für Neonatologie und Pädiatrische Intensivmedizin in Datteln. Die Fachärztin meint, Sie würde die Komponente „Genetik“, nicht außer Acht lassen wollen. Ebenso wäre es für die Medizinerin vorstellbar, dass es ein Problem mit der Nabelschnur gegeben haben könnte. Dazu wird ein ähnlicher Fall in diesem Sommer erwähnt. Zusätzlich räumt Prof. Dr. Roll ein, dass auch Viren und Umweltgifte zu Fehlbildungen führen können.

Warnung aus Argentinien: 2018 wurden deutsche Abgeordnete erstmals über die Folgen des Glyphosateinsatzes aufgeklärt

Der MDR berichtet über die Warnung von Wissenschaftler Damián Verzeñassi — von der Universität Rosario — und Menschenrechtsanwalt Jose Perreyra an die Abgeordneten des Umweltausschusses des Deutschen Bundestages. Die Botschaft vom Wissenschaftler war unter anderem „Der Süden leidet!“

Professor Verzeñassi unterbreitete einerseits den Parlamentarier und andererseits bei einer Pressekonferenz in der Berliner Heinrich-Böll-Stiftung seine Forschungsergebnisse. Demzufolge würde sowohl die Bevölkerung wie auch die Tierwelt, dem bedenkenlosen Pestizideinsatz zum Opfer fallen.

Untersucht wurde ein Gebiet in Argentinien in dem 170.000 Menschen wohnhaft waren, von denen mehr als 112.000 in ihrem Zuhause befragt wurden. Im Zuge dieser Arbeit kristallisierte sich heraus, dass die Bewohner mitunter von folgenden Erkrankungen besorgniserregend häufig betroffen waren: Schilddrüsenprobleme, Hypothyreodismus (Schilddrüsenunterfunktion), neurologische Beschwerden, Fehlgeburten, Neugeborene mit Missbildungen, Lungenerkrankungen und verschiedenen Krebsarten.

Wir haben vor allem gesehen, dass es in den letzten Jahren viel mehr Fälle von Krebs und Leukämie gab, und Non-Hodgkin, in stetig steigender Zahl, unter immer Jüngeren. Es gab mehr plötzliche Abgänge von Ungeborenen, weniger Schwangerschaften in diesen Orten. Es begannen die Fälle von angeborenen Missbildungen zuzunehmen, die früher in der Region nicht vorkamen. Und zwar in einem Umfang, der besorgniserregend ist. Wir haben in kleinen Orten von 4.000 Einwohnern eine Anzahl von Kindern, die mit Missbildungen geboren werden, die über jede epidemiologische Voraussage hinausgehen!“

Prof. Damián Verzeñassi, Universität von Rosario
Das Verbot, gentechnisch veränderte Pflanzen anzubauen, würde die Bevölkerung Europas zumindest teilweise schützen. Da ohne genmanipuliertes Saatgut glyphosatresistenter Pflanzen der Einsatzzeitpunkt des Pestizids begrenzt ist, sind auch die Rückstände vom Herbizid geringer. Ob diese Dosis genügt, um zu Missbildungen bei Neugeborenen zu führen, wäre bislang nicht bekannt. 
(mit Material von afp)


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