In Pflegeheimen: Patientenschützer kritisiert Psychopharmakagabe als Freiheitsberaubung

Laut einem AOK-Report erhalten Pflegeheimbewohner zu viele Psychopharmaka. Eugen Brysch, Vorstand der Deutschen Stiftung Patientenschutz, erklärte zu der Psychopharmakaverabreichung: "Für die meisten Heimbewohner ist das äußerst schädlich".
Titelbild
Szene in einem Pflegeheim.Foto: Jens Kalaene/Illustration/dpa
Epoch Times5. April 2017

Viele der rund 800.000 Pflegeheimbewohner in Deutschland bekommen einer Studie zufolge zu viele Psychopharmaka. Besonders betroffen seien die rund 500.000 Demenzkranken, wie aus dem am Mittwoch in Berlin veröffentlichten Pflegereport der Krankenkasse AOK hervorgeht. Demnach erhielten gut 30 Prozent der Heimbewohner ein Antidepressivum, wobei es kaum Unterschiede zwischen Pflegebedürftigen mit oder ohne Demenz gibt. Die Deutsche Stiftung Patientenschutz sprach von einem schädlichen Ruhigstellen.

Dem AOK-Pflegereport zufolge bekommen zudem 40 Prozent der Bewohner mit Demenz dauerhaft mindestens ein Neuroleptikum – aber nur knapp 20 Prozent der Heimbewohner ohne Demenz. Neuroleptika sind Arzneien, die bei verschiedenen psychiatrischen Krankheiten wie Wahnvorstellungen, aber auch gegen Unruhe und Ängste eingesetzt werden.

„Freiheitsberaubung“

Eugen Brysch, Vorstand der Deutschen Stiftung Patientenschutz, erklärte zu der Psychopharmakaverabreichung: „Für die meisten Heimbewohner ist das äußerst schädlich“. Mit ihrem ursprünglichen Krankheitsbild habe dies nichts zu tun. Ärzten und Mitarbeitern in Pflegeheimen fehle ein Schuldbewusstsein.

„Während körperliche Fixierungen der Heimbewohner immer häufiger abgelehnt werden, übernehmen Psychopharmaka die Rolle, den Patienten ruhig zu halten – das ist Freiheitsberaubung“, kritisierte Brysch. Statt ruhigstellender Mittel seien Ergotherapie, körperliche Aktivität und individuelle Beschäftigung nötig. „Doch dafür fehlt ausreichend Personal in den Pflegeheimen.“

Verstoß gegen Leitlinien

Die Studie wurde von der Klinischen Pharmakologin Petra Thürmann erstellt und ist Teil des Pflegereports. Thürmann verwies darauf, dass Neuroleptika als Medikamente zur Behandlung von krankhaften Wahnvorstellungen, sogenannten Psychosen, entwickelt wurden. Nur ganz wenige Wirkstoffe seien zur Behandlung von Wahnvorstellungen bei Demenz zugelassen. Als unerwünschte Nebenwirkungen könnten Stürze, Schlaganfälle oder Thrombosen auftreten.

„Der breite und dauerhafte Neuroleptikaeinsatz bei Pflegeheimbewohnern mit Demenz verstößt gegen die Leitlinien“, kritisierte die Expertin, die auch Mitglied im Sachverständigenrat des Bundesgesundheitsministeriums ist.

Die Studienergebnisse zum Ausmaß an Psychopharmakaverordnungen in Pflegeheimen decken sich mit Aussagen der Pflegekräfte. In einer Befragung von 2500 Pflegekräften für den Report gaben die Befragten an, dass im Durchschnitt bei mehr als der Hälfte der Bewohner ihres Pflegeheims Psychopharmaka eingesetzt werden. Zwei Drittel der Betroffenen (64 Prozent) erhielten demnach die Verordnungen auch länger als ein Jahr. Der Großteil der Pflegekräfte (82 Prozent) hält dies für angemessen.

Nach Ansicht von AOK-Chef Martin Litsch sind die Pflegekräfte allerdings am wenigsten für die Tendenz zur Übermedikation von Pflegeheimbewohnern verantwortlich. Vor allem die behandelnden Ärzte, aber auch Pflegeheimbetreiber seien hier in der Verantwortung. „Ärzte stehen in der Pflicht, diese Medikamente nur dann einzusetzen, wenn es nicht anders geht und auch nur so kurz wie möglich“, erklärte Litsch. Pflegeheimbetreiber müssten zudem den Einsatz nichtmedikamentöser Versorgungsansätze fördern.  (afp)



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