Schweizer Kinderarzt Remo Largo: So gelingt „das passende Leben“

Heutzutage geht es immer mehr Kindern und Alten schlecht. "Und jene in der Mitte, vor allem Eltern, müssen sich unglaublich abstrampeln, weil sie glauben, alles alleine stemmen zu müssen. So kann es ja nicht mehr weitergehen", sagt der 75-Jährige Kinderarzt und Autor diverser Erziehungsratgeber.
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Lebensgemeinschaften sind kein "Vergnügungspark", aber es lohnt sich daran zu arbeiten.Foto: iStock
Epoch Times23. Juli 2019

Dreijährige, die sich selbst das Lesen beibringen, und Kinder, die nichts lernen wollen. Der pensionierte Kinderarzt Remo Largo kann ein Lied davon singen. Der 75-jährige Schweizer gilt als Koryphäe im Bereich Entwicklungspädiatrie. Er widmete sich in seiner über 30-jährigen Praxis der Entwicklung und dem Verhalten von Kindern, vom Säugling bis ins Jugendalter. In seinem letzten erschienenen Buch mit dem Titel „Das passende Leben“ macht er auf die Rolle der menschlichen Individualität aufmerksam.

Alle Menschen seien verschieden, jeder hätte andere Begabungen und andere Bedürfnisse. Die Vielfalt zwischen den Menschen und beim einzelnen Menschen bestehe bereits bei der Geburt und wird im Verlaufe des Lebens immer größer. Für Largo steht fest:

Jeder der mehr als sieben Milliarden Menschen, die gegenwärtig auf der Welt leben, ist einzigartig.“

Und alle Lebewesen – das gilt auch für Bakterien, Pflanzen und Tiere – seien „unablässig bemüht, in Übereinstimmung mit ihrer Umwelt zu leben.“ Der Mensch sei bestrebt, seine Individualität in Übereinstimmung mit der Umwelt zu leben. In einem Interview mit der „Luzerner Zeitung“  nannte Largo ein  Beispiel:

Das Baby will so viel Milch trinken, wie es für sein Wachstum benötigt, nicht weniger, aber auch nicht mehr.“

Schulkinder würden lesen und rechnen lernen wollen, wenn sie von ihrer Entwicklung dazu bereit sind. Und auch die Erwachsenen brächten die Arbeit, die sie leisten können. Es sei ein ständiges Bemühen, seine Bedürfnisse zu befriedigen und seine Fähigkeiten zu entwickeln.

Dabei dürfe man nicht vergessen, dass „nicht alle Menschen 190 Zentimeter groß werden“. Die unterschiedlichen Erbanlagen würden für unterschiedliche Entwicklungen sorgen. Daher könnten Kinder auch nicht alle dieselben Leistungen erbringen.

Das sollten wir bei uns selbst und den Mitmenschen akzeptieren und toleranter werden. Man kann einen Menschen nicht über sein individuelles Begabungspotenzial hinaus fördern. Wenn sie ein Kind überfüttern, wird es nicht größer, sondern dick“, so Largo.

Im Gegensatz dazu störe zu wenig Nahrung das Wachstum eines Kindes. Doch wo hört gute Förderung auf und wo beginnt die Überforderung?

Man müsse verstehen, so Largo, wie Kinder lernen. Wenn Kinder mit sechs Jahren kein Interesse am Lernen hätten, dann „kenne ich keine Methode, kein Programm, mit dem man das Kind interessieren könnte“. In diesem Fall müsse man schlichtweg abwarten, bis das Kind dazu bereit sei.

Alles andere ist ein Murks und richtet beim Kind nur Schaden an.“

Tausende Kinder, die nicht der „Norm“ entsprachen, habe der Schweizer kennengelernt. Manche hätten nicht gut rechnen können. Doch das sei nicht das Problem gewesen, so der Arzt.

Das eigentliche Problem dieser Kinder war, dass sie, weil sie den Normvorstellungen nicht entsprachen, nicht „sie selbst“ sein durften. Sie litten unter Schlafstörungen oder sozialem Rückzug.“

FIT-Prinzip

Nachdem die Erwartungen der Lehrer und Eltern mit den Fähigkeiten des Kindes abgeglichen worden waren, hätte sich das Wohlbefinden des Kindes verbessert.

Jedes Kind, jeder Mensch strebt danach, mit seinen individuellen Bedürfnissen und Begabungen in Überstimmung mit der Umwelt zu leben. Das nenne ich das Fit-Prinzip, das passende Leben“, so Largo.

Es ginge darum, die sechs Grundbedürfnisse zu stillen:

  • Geborgenheit
  • Leistung
  • Körperliche Integrität
  • Existenzielle Sicherheit
  • Selbstentfaltung
  • Soziale Anerkennung

Die Ausprägung der individuellen Bedürfnisse, Kompetenzen und Vorstellungen würden darüber bestimmen, wie die Menschen leben wollen. Daher sei nicht nur der Mensch in seinem Wesen, sondern auch sein Lebensweg einmalig.

Der Mensch könne nur im Rahmen seiner Bedürfnisse und Kompetenzen ein zufriedenes Leben führen, so Largo. Es sei also gar nicht nötig sich zu verbiegen, um jemand zu werden, der man gar nicht werden könne, weil die Anlagen fehlen.

Die eigenen Grenzen zu akzeptieren, uns so zu nehmen, wie wir nun einmal sind, schützt auch vor Überforderung und Stress.“

Und das gelte für Kinder und Erwachsene.

Bei einem ausgewogenen Verhältnis mit den unterschiedlichen Kompetenzen ergäbe sich ein körperliches und psychisches Wohlbefinden, Selbstwertgefühl und Selbstwirksamkeit.

Was ist also geschehen, dass Menschen sich aus Angst vor Gerede oder Streit in der 23. Etage ihres Wohnhauses hinter dem Fernseher oder Computer verkriechen?

„Aus historischer Sicht sind wir an einem Punkt angekommen, wo die Vielfalt und die Individualität der Menschen missachtet werden“, so Largo. Er setzt sich dafür ein, dass jeder Mensch seine Individualität leben kann: „Dafür braucht es andere gesellschaftliche und wirtschaftliche Rahmenbedingungen.“

Largo erklärt:

Wir Menschen haben während 200 000 Jahren in Lebensgemeinschaften gelebt, in denen man sich gut kannte und aufgehoben fühlte. Wir sind nicht dafür gemacht, in einer anonymen Massengesellschaft zu leben. Wir brauchen eine stabile, tragfähige Lebensgemeinschaft um uns. Die Kleinfamilie genügt dafür nicht.“

Menschen seien nun einmal soziale Wesen und können nicht alleine Leben. Das Bedürfnis nach Geborgenheit und sozialer Anerkennung sei „so elementar wie der Hunger“.

Der moderne Mensch habe während 200 000 Jahren ausschließlich in Lebensgemeinschaft vertrauter Menschen gelebt. Heutzutage gehe es immer mehr Kindern und Alten schlecht und jene in der Mitte, vor allem Eltern müssten sich unglaublich abstrampeln, weil sie glauben würden, alles alleine stemmen zu müssen. So könne es ja nicht mehr weitergehen.

Der Forscher hält es für erforderlich, dass die Menschen wieder zusammenfinden und Lebensgemeinschaften bilden. Ein „Vergnügungspark“ sei das nicht. Die Menschen müssten ihre Pflichten wahrnehmen, sich etwa um die Kinder und die Alten kümmern. „Gegenseitige Fürsorge schafft tragfähige Beziehungen,“ so Largo. Konflikten müsse man begegnen, sie austragen und sich versöhnen. „So gelingt Leben“.

Zur Person: Remo Largo ist in Winterthur aufgewachsen. Er hat Medizin und Entwicklungspädiatrie in Zürich und Los Angeles studiert. Ab 1978 leitete er die Abteilung Wachstum und Entwicklung des Kinderspitals Zürich, 1981 habilitierte er in Kinderheilkunde. Mit den Erziehungsratgebern „Babyjahre“ und „Kinderjahre“ landete der Autor Bestseller. 2017 veröffentlichte Largo im Verlag Fischer sein neustes Buch, in dem er die Voraussetzungen für ein gelingendes Leben beschreibt: „Das passende Leben“. Der 75-jährige ist Vater dreier Töchter und Großvater von vier Enkelkindern. (sua)



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