Sterbehilfe: Ärztekammer befürchtet „Normalisierung des Suizids“ – Christliche Staaten der EU dagegen
Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgericht zur Sterbehilfe warnt der Deutsche Hospiz- und Palliativverband (DHPV) vor einem steigenden sozialen Druck auf Ältere. „Schon heute spüren viele Menschen sozialen Druck, aus dem Leben zu scheiden. Und dieses Gefühl wird steigen“, sagte DHPV-Chef Winfried Hardinghaus der „Neuen Osnabrücker Zeitung“ vom Donnerstag.
Der Arzt verwies auf eine neue Studie aus den Niederlanden, in der 40 Prozent der Suizidalen das Motiv genannt hätten, niemandem zur Last fallen zu wollen. „Das Gefühl ist für sehr viele Betroffene ganz stark und ganz gefährlich.“ Junge Angehörige setzten ältere Familienmitglieder unter Druck. Die Älteren seien „oft von sich aus bereit, in den Tod zu gehen“. Karlsruhe habe dieses Risiko nun noch verstärkt.
Das Bundesverfassungsgericht hatte das Verbot geschäftsmäßiger Sterbehilfe am Mittwoch gekippt, weil es das „Recht auf selbstbestimmtes Sterben“ zu sehr einschränke. Das höchste deutsche Gericht in Karlsruhe erklärte den Strafrechtsparagrafen 217 für nichtig, mit dem die „geschäftsmäßige Förderung der Selbsttötung“ unter Strafe gestellt worden war.
Mit Beihilfe zu Suizid Geld verdienen
„Es ist bedenklich, dass künftig mit Suizidbeihilfe Geld verdient werden kann“, sagte Hardinghaus, der als Sachverständiger an dem Prozess in Karlsruhe beteiligt war. „Das Gericht hat Selbstbestimmung über alles gestellt und gesellschaftspolitische, religiöse oder andere Gesichtspunkte völlig außer Acht gelassen. Jetzt besteht die große Gefahr, dass die Liberalisierung zu Missbrauch führt.“
Auch diejenigen, die grünes Licht für aktive Sterbehilfe forderten, würden durch den Urteilsspruch ermutigt, sagte der Palliativmediziner. „Die Gefahr für einen solchen Dammbruch ist durch das Urteil enorm gestiegen. Das wäre eine fatale Entwicklung und muss gestoppt werden.“
Den Gesetzgeber forderte Hardinghaus auf, Schutzvorkehrungen zu ermöglichen, um Sterbehilfe-Missbrauch zu verhindern. „Es braucht Beratungsverfahren mit klaren Kriterien.“ Dazu gehöre „eine vollumfängliche Informierung über Alternativen“. In der Palliativmedizin gebe es schon die Möglichkeit, jeden Menschen schmerzfrei zu machen und ein Sterben in Würde zu garantieren. „Deswegen ist Suizidbeihilfe nicht notwendig.“
Es müsse auch eindeutig geklärt werden, ob die Betroffenen wirklich freiverantwortlich handelten, sagte der Arzt weiter. „Aber das ist kaum leistbar. 90 Prozent der Suizidenten leiden psychisch. Bei ihnen ist es besonders schwer zu entscheiden, ob sie freiverantwortlich handeln“, sagte Hardinghaus.
Christliche Kirchen reagieren tief besorgt auf Urteil zu Selbsttötung
Unterdessen haben auch die christlichen Kirchen tief besorgt auf das Urteil reagiert. „Wir befürchten, dass die Zulassung organisierter Angebote der Selbsttötung alte oder kranke Menschen auf subtile Weise unter Druck setzen kann, von derartigen Angeboten Gebrauch zu machen“, teilten der Vorsitzende der katholischen Deutschen Bischofskonferenz, Reinhard Marx, und der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Heinrich Bedford-Strohm, mit.
Marx und Bedford-Strom sprachen in ihrer gemeinsamen Stellungnahme von einem Kulturbruch.
Dieses Urteil stellt einen Einschnitt in unsere auf Bejahung und Förderung des Lebens ausgerichtete Kultur dar“, hieß es darin.
Die Kirchen würden weiterhin dafür kämpfen, „dass organisierte Angebote der Selbsttötung in unserem Land nicht zur akzeptierten Normalität werden“.
Es bestehe ein erhebliches Risiko, dass Angebote zur Sterbehilfe „selbstverständlicher und zugänglicher“ würden, erklärten Marx und Bedford-Strom. Dieses wiederum berge „die Gefahr, dass sich Menschen in einer extrem belastenden Lebenssituation innerlich oder äußerlich unter Druck gesetzt sehen, von einer derartigen Option Gebrauch zu machen“. Die Kirchen setzten dagegen weiterhin ihren Bemühungen fort, „Menschen in besonders vulnerablen Situationen Fürsorge und Begleitung anzubieten fortsetzen“.
Bundesärztekammer fürchtet „Normalisierung des Suizids“
Der Präsident der Bundesärztekammer, Klaus Reinhardt, fürchtet angesichts des Urteils eine „Normalisierung des Suizids“. Die Gesellschaft als Ganzes müsse „Mittel und Wege finden, die verhindern, dass die organisierte Beihilfe zur Selbsttötung zu einer Normalisierung des Suizids führt“, sagte Reinhardt am Mittwoch.
„Das Bundesverfassungsgericht hat dem Selbstbestimmungsrecht am Ende des Lebens weiten Raum zugesprochen. Gleichwohl sieht es aber auch die Notwendigkeit für eine gesetzgeberische Regulierung der Beihilfe zur Selbsttötung“, sagte der Bundesärztekammer-Präsident.
So weise das Gericht darauf hin, „dass von einem unregulierten Angebot geschäftsmäßiger Suizidhilfe Gefahren für die Selbstbestimmung ausgehen können“. Es führe außerdem aus, „dass dem Gesetzgeber zum Schutz dieser Selbstbestimmung über das eigene Leben in Bezug auf organisierte Suizidhilfe ein breites Spektrum an Möglichkeiten von Einschränkungen“ offenstehe.
Diese könnten „ausdrücklich auch im Strafrecht verankert oder durch strafrechtliche Sanktionierung von Verstößen abgesichert werden“. Das Urteil sei deshalb als Auftrag an den Gesetzgeber zu verstehen, diese Möglichkeiten auszuloten und rechtssicher auszugestalten, so Reinhardt.
Positiv hervorzuheben sei die Bestätigung des Gerichts, dass auch zukünftig kein Arzt zur Mitwirkung an einer Selbsttötung verpflichtet werden könne. Die Beihilfe zum Suizid gehöre unverändert grundsätzlich nicht zu den Aufgaben von Medizinern, sagte der Facharzt für Allgemeinmedizin. „Soweit das Gericht auf die Konsistenz des ärztlichen Berufsrechts abhebt, wird eine innerärztliche Debatte zur Anpassung des ärztlichen Berufsrechts erforderlich sein“, so Reinhardt.
CDU-Politiker Gröhe für „ausführliche Prüfung“ von Sterbehilfeurteil
Auch einige Politiker zeigten sich nach dem Urteil kritisch. Beispielsweise hat sich Unionsfraktionsvize Hermann Gröhe (CDU) dafür ausgesprochen, Konsequenzen aus dem Sterbehilfeurteil des Bundesverfassungsgerichtes genau zu prüfen.
Es sei „zunächst eine ausführliche Prüfung erforderlich“, sagte der frühere Bundesgesundheitsminister am Mittwoch nach der Urteilsverkündung in Karlsruhe. Das Gericht habe auch ausdrücklich anerkannt, dass es ein legitimes Schutzinteresse des Staats gebe. Die Regelungen müssten aber weniger einschneidend sein.
Er verhehle nicht, dass er das Urteil insgesamt bedaure, sagte Gröhe. Es müsse nun geprüft werden, ob zum Beispiel die Einführung prozeduraler Mechanismen möglich sei. Es sei aber „verfrüht“, sich auf Präferenzen festzulegen.
Regelungen zur Sterbehilfe gehen in Europa weit auseinander
Das Thema Beihilfe zum Selbstmord wird nicht nur in Deutschland, sondern auch in anderen europäischen Staaten heftig diskutiert; die Regelungen gehen weit auseinander.
Aktiver Selbstmord, also die Tötung eines Menschen auf Verlangen, ist in den meisten EU-Staaten verboten. Ausnahmen bilden Belgien, die Niederlande und Luxemburg. Beihilfe zum Suizid, etwa das Beschaffen von tödlichen Medikamenten, die der Patient dann selbst einnimmt, sind in einer Reihe von Ländern erlaubt oder werden zumindest geduldet.
Indirekte Sterbehilfe, etwa das Verabreichen starker Schmerzmittel, die den Tod beschleunigen können, ist in vielen EU-Staaten zulässig. Voraussetzung dafür ist aber oft eine Patientenverfügung. Das gleiche gilt für passive Sterbehilfe, also den Verzicht auf lebenserhaltende Maßnahmen wie künstliche Ernährung.
In den NIEDERLANDEN, BELGIEN und LUXEMBURG ist aktive Sterbehilfe durch den Arzt erlaubt. Voraussetzung ist eine unweigerlich zum Tod führende Krankheit des Patienten sowie dessen ausdrückliche Willensäußerung. Außerdem müssen die Betroffenen voll zurechnungsfähig sein. Über die Zulässigkeit der Tötung entscheidet eine Kontrollkommission aus Ärzten, Juristen und Ethikbeauftragten.
Seit 2014 gewährt Belgien auch unheilbar kranken Kindern, die unerträgliche Schmerzen haben, das Recht auf aktive Sterbehilfe. Ein Mindestalter schreibt das Gesetz nicht vor, die Kinder müssen aber „urteilsfähig“ sein. Auch die Niederlande erlauben Sterbehilfe für Kinder; diese müssen mindestens zwölf Jahre alt sein.
Christliche Länder sind stark gegen Sterbehilfe
In PORTUGAL wird derzeit die Legalisierung der aktiven Sterbehilfe im Parlament debattiert. In erster Lesung stimmten die Abgeordneten bereits für die Gesetzesänderung.
Die Beihilfe zum Suizid, um die es in der deutschen Debatte geht, ist etwa in der SCHWEIZ zwar nicht ausdrücklich erlaubt, doch wird sie gemäß einem medizinischen Ethikkodex geregelt. Laut Gesetz ist es strafbar, jemandem „aus selbstsüchtigen Beweggründen“ bei der Selbsttötung zu helfen. Wird dem Helfer jedoch kein solcher Beweggrund nachgewiesen, bleibt er straffrei. Organisationen wie „Exit“ und „Dignitas“ bieten Beihilfe zum Suizid als eine Art Dienstleistung an. Aktive Sterbehilfe ist hingegen auch in der Schweiz verboten.
In FRANKREICH dürfen Ärzte seit 2005 einen unheilbar kranken Patienten „sterben lassen“, sein Leben aber nicht aktiv beenden. 2016 wurde Todkranken das Recht auf eine dauerhafte, zum Bewusstseinsverlust führende Medikamentenbehandlung „bis zum Tod“ gewährt.
ITALIEN entkriminalisierte im vergangenen Jahr die Beihilfe zum Suizid unter strengen Bedingungen.
In GRIECHENLAND gilt Sterbehilfe als Beleidigung Gottes und ist streng verboten. Auch Beihilfe zu Suizid ist nicht erlaubt. Im katholischen POLEN sind nicht nur alle Arten von aktiver oder passiver Sterbehilfe untersagt, sondern es ist auch Beihilfe zur Selbsttötung verboten. Wer gegen diese Vorschriften verstößt, nimmt mehrjährige Freiheitsstrafen in Kauf. (afp/dpa/dts/so)
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