Die Freiheit des Kindes 

Zwänge, Pflichten und unschöne Erfahrungen in der Kindheit haben so manchen geprägt. Doch jede Trübsal birgt auch eine Chance.
Titelbild
Das Kind in uns befreien.Foto: iStock
Von 5. Juli 2022

Ich habe jemanden kennengelernt! Das ist etwas sehr Besonderes. Kein Morgen kann so glühen, kein Tag so blühen, als die Rührung einer nahen Seele.

Als ich damals zum ersten Male vom Dunkel ins Licht kam, kannte ich niemanden, nicht einmal mich selbst. Es dauerte einige Wochen, bis ich die Welt erfahren durfte, denn ich war, ungestüm wie oft in meinem Leben, zu früh hervorgetreten. Umso mehr hing ich an denen, die mich sodann umsorgten. Sie waren der sichere Hafen, aus dem heraus ich die Segel schwellen ließ und hinausfuhr in die Größe der Welt, die sich vor mir auftat.

Was waren das für Zeiten! Lauter Neues, lauter bunte, spannende Dinge, die es zu entdecken galt! Mit jedem Großen und Kleinen entdeckte ich mich selbst. Je mehr ich an mir selbst entdeckte, desto größer fühlte ich mich und desto brennender stürmte ich in mein Leben.

Nie wieder fühlte ich wie damals solche Kraft und Gewissheit. Bevor ich mich noch wirklich kennenlernen konnte, hörte ich, was diese Welt da draußen und was andere Menschen von mir verlangten. Ich hatte brav zu sein, zu lernen, was mir aufgetragen, ordentlich zu sein, zu essen, was auf den Tisch kam, still zu sein, etwas zu tun, was ich sonst nicht getan hätte, um etwas, das mir wichtig war, zu erhalten: Anerkennung.

Wenn ich nachstrebte, wozu mein Herz mich drängte, was mir meine Berufung schien, so sagte man, wie schön das sei, was ich so alles könne, ich solle aber doch die Flausen lassen, ich müsse dies und jenes lernen, diesen und jenen Abschluss machen, damit ich im Leben etwas würde, gerade so, als ob der Samen, der in mir lag, Unkraut sei. Ich glaube, damit bin ich nicht alleine.

Ich lernte so, wie die Leute sich verhalten, die Menschen selber aber lernte ich nicht kennen. Sie blieben hinter ihrer Höflichkeit oder dem Gegenteil verborgen. Viel von dem, was in meinen Eltern und Großeltern, Onkeln und Tanten tatsächlich vorgegangen sein mag, erfuhr und begriff ich erst Jahrzehnte später. Es ist ein verwunderliches Gefühl, zu wissen, wie wenig ich von den Menschen wusste, wie wenig ich sie kannte, die mich geformt haben.

Fortan war ich darauf bedacht, dieser Form zu genügen, sie auf Hochglanz zu polieren und haderte mit mir selbst, wenn die Schale Risse bekam. So wie mir ging es allen anderen auch. Wir lebten nebeneinander her, Familie und Freunde, ohne uns jemals wirklich nahe gekommen zu sein. Wir dachten, wir seien uns nahe, und konnten uns nicht ferner sein.

Über Jahre und Jahrzehnte reifte in mir nach und nach die Erkenntnis, dass zwischen der Schale und dem, was in ihr liegt, ein Widerspruch besteht. Ja, überhaupt brauchte ich lange Zeit, um wiederzuerkennen, dass beide sich voneinander unterscheiden. Es ist paradox: Um geliebt zu werden, legte ich mir diese Schale zu und verhinderte damit, dass meine Seele geliebt werden konnte, denn hinter der Schale blieb sie ja verborgen, sogar vor mir selbst. 

Erneut auf den Weg machen

Nun also, vier Jahrzehnte später, mache ich mich erneut auf den Weg, den kleinen Jungen kennenzulernen, der damals in die Welt gestürmt war, in eine Welt, die so im Kleinen und Großen längst untergegangen ist, die ich aber noch in meinem Herzen trage. In den paar Jahren des Beginns lag doch so viel Feuer, dass seine Glut noch heute reicht, um die Flamme meines Lebens neu zu entfachen.

Was waren das für Zeiten! Was sind das für Zeiten! So wie ich damals mit meinen Kameraden durch Häuser und Straßen, durch Gärten, Wälder und Felder tollte, keinen Schabernack ausließ, mich schmutzig, nass, durstig und hungrig machte, egal, je verrückter, desto besser, so drängt heute der Geist der Freiheit in mir vorwärts, hinaus, meine Kameraden mir zur Seite, einzutauchen in die Welt, ihren Geist und ihren Zauber zu erobern mit Haut und Haaren und mit ganzer Seele.

Und die Kameraden sind ja alle da! Mögen es auch nicht dieselben von damals sein, es sind aber doch die gleichen, die mit sprühendem Herzen bei mir sind, durch Dick und Dünn mit mir sich beißen werden, die keine Höhe scheuen und keine Tiefe, die gemeinsam von der Tiefe in die Höhe rennen und von der Höhe in die Tiefe springen, um uns ganz zu erfahren. Wir alle haben noch die Reste unserer Schalen im Gepäck, aber auf unserer großen Fahrt, da brauchen wir sie nicht, und je weiter wir voranschreiten, desto mehr von all dem Ballast bleibt auf der Strecke liegen. Ach, wie ist die Luft so frei!

Und wie großartige Kameraden habe ich nun wieder kennengelernt! Fabelhafte Männer, zauberhafte, starke Frauen, jede Seele ein Geschenk!

Wie war das möglich? Notwendig war das totale Scheitern. Ich selbst war gescheitert, meine Schale war gescheitert und die Welt da draußen war es auch. Das hat uns zusammengeführt. Wir alle gehen barfuß durch einen großen Scherbenhaufen. Wir alle fühlen den gleichen Schmerz. So wie ich damals, wie der kleine Junge an der Schwelle seines Lebens, alleine in dem Kasten, seiner ersten, fremden Schale, nicht aufgab, bis irgendwann seine Mutter wiederkam, bis er ihre Arme fand und sich der Liebe, gewiss frei, dem großen Unbekannten endlich freudig zuwandte, so stehen auch wir heute vor dem großen Unbekannten, nicht als einem Schreckgespenst, sondern als einer spannenden neuen Welt, die es zu entdecken und für das Leben zu bezwingen gilt. Es ist das Leben selbst, das wir erkämpfen.

Wir kämpfen nicht gegen irgendetwas. Wir ballen unsere Kraft zusammen, ergreifen den Spaten mit der Faust, drängen unsere Schöpferkraft zum Licht, hämmern den Stein des harten Felsens zur strahlenden Form, wischen uns den Schweiß von der Stirne und binden das Korn zu blumengeschmückten Garben. Wir trinken das Wasser von reinen Quellen und rasten auf Bergen nur für einen tiefen, andächtigen Blick ins Tal, der uns die Tränen in die Augen treibt.

Wir jagen uns, bewerfen uns, wir ringen und springen, wir lachen und weinen, tanzen und singen und liegen uns in den Armen.

Gibt es irgendetwas Falsches daran? Alles ist falsch, was uns davon ferne hält!

Die eigene Größe wiederfinden

Es ist unsere moderne Gesellschaft, die uns Jahrzehnte und Jahrhunderte an diese Ferne kettete. Generationen um Generationen wurden freie junge Seelen in den Kerker des Gehorsams und der Karriere gepeitscht. Sie wurden gedemütigt, zurechtgestutzt und tief verletzt. Ihre Wahrhaftigkeit wurde im Namen der Höflichkeit erstickt.

An die Stelle der Liebe trat das Ansehen. An die Stelle der Freiheit traten die gesellschaftlichen Chancen, an die Stelle der Erfüllung trat die Pflicht. So schillernd die Mauern dieses Gefängnisses der Pflicht auch verkleidet sein mögen, darinnen sitzt einsam in der dunklen Ecke das kleine Kind, das seine eigene Größe längst vergessen hat. Der Wächter an der Türe sind wir selbst. Wir glauben, das Kind im Kerker vor der bösen Welt da draußen zu beschützen, in Wahrheit verhindern wir nur seine Entfaltung und halten es doch nur eingesperrt.

Es gibt sehr wohl eine Pflicht. Nicht aber hat die Pflicht an die Stelle der Erfüllung zu treten, sondern unsere Pflicht ist es, nach der Erfüllung zu streben. Der kleine Junge wusste, was er zu tun hatte. Frei ging er voran, lernte und lernte mit jedem Griff und jedem Wimpernschlag. Je mehr er lernte, desto näher trat er seiner Berufung. Die Pflicht, die unsere Seele sich mit dem Eintritte in die Welt selbst auferlegte, und die zugleich den Sinn des Ganzen trägt, ist es, dieser Berufung nachzustreben, denn sie ist die einzige, die uns erfüllt sein lässt. Erst durch sie haben wir unsere Pflicht erfüllt.

Das Leben selbst gibt uns immer wieder Zeichen, die uns an unseren Weg erinnern. Das Kind sieht sie und handelt danach, der erzogene Erwachsene hat verlernt, sie wahrzunehmen.

Die innere Berufung kann jeder von uns nur selbst erfühlen. Kein Lehrer, kein Pfaffe, kein Staatenlenker, noch irgendein Ideologe, ja nicht einmal unsere Eltern wissen davon. Sie alle ziehen uns von dem weg, was unsere Bestimmung ist. Es ist unsere heilige Pflicht, sie selbst zu erkennen, wenn es sein muss, tief in die offene Wunde unseres verletzten Herzens hineinzubohren, den Schmerz voll zu spüren, ohne uns vor ihm zu betäuben, denn der Schmerz ist der Schrei unserer Seele, die uns um Hilfe ruft. Wir brauchen diesen Schmerz, um den Hilferuf der Seele zu hören, um ihm folgen zu können, um das Kind, unsere Seele, in der dunklen Ecke seines Verlieses zu finden, es an die Hand zu nehmen, in den Arm, und mit ihm hinauszuschreiten in das helle, warme Licht der reinen Zukunft.

Wir alle werden voneinander nichts erwarten. Wir alle sind frei und verbunden. Wir alle springen Hand in Hand ins Ungewisse, wir alle haben von Anfang nichts und doch alles in uns selbst. Wir alle geben und teilen miteinander, weil es uns gefällt, und weil es uns gefällt, ist es gut und richtig. Wir alle haben unsere Berufung, aber eine Bestimmung: Verbundenheit und Größe, die Größe des Herzens und die Größe unserer Schöpferkraft.

Ich habe jemanden kennengelernt: Den Menschen. Er ist jung und frei!

Dieser Beitrag stellt ausschließlich die Meinung des Verfassers dar. Er muss nicht zwangsläufig die Sichtweise der Epoch Times Deutschland wiedergeben.


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