Das Risiko, wenn einer „nur“ drohen will

Was bedeutet die Suspendierung des „New Start“-Vertrages durch Wladimir Putin?
Titelbild
Ein Turm des Kreml in Moskau mit dem Moskauer Bankenviertel im HintergrundFoto: über dts Nachrichtenagentur
Von 23. Februar 2023

Russland geht es im Ukraine-Krieg ziemlich schlecht. Von einem Sieg in der „Spezialoperation“ ist nach einem Jahr erbitterter Kämpfe keine Rede mehr. Während die russischen Mobilisierungswellen selbst in Gefängnissen keine Ausbeute mehr bringen, während dem Land die kampfeswilligen und vor allem -fähigen Soldaten ausgehen, rückt nun ein zweiter Engpass in den Fokus: Das ist der Materialmangel. Auf russischer Seite sind Waffen und Munition nach einer gigantischen Materialschlacht knapp geworden. Das lässt dort immer öfter den Gedanken aufkommen: Aber wir haben ja unsere großartige Atomstreitmacht. Und aus dem Gedanken wird immer öfter eine Drohung.

Die jüngste Drohungs-Etappe war die Ankündigung der Suspendierung des „New Start“-Vertrages durch Wladimir Putin, die dann nur Stunden später vom russischen Parlament – bezeichnenderweise einstimmig – auch als Gesetz beschlossen worden ist. Wobei aber gleichzeitig das russische Außenministerium betonte, dass sich Russland sehr wohl an die Begrenzungen halten werde.

Was bedeutet das nun? Aktuell nicht sehr viel – im Grund nur eine Verlängerung dessen, was seit drei Jahren Realität ist: Die im New-Start-Vertrag vereinbarten 18 Vor-Ort-Inspektionen finden auch weiterhin nicht statt. Im März 2020 waren diese Inspektionen wegen der Reisebeschränkungen im Zuge der Corona-Pandemie gestoppt und seither nicht wieder aufgenommen worden. Seit einem Jahr wird ein anderer Grund vorgeschoben: die westlichen Beschränkungen für Flüge und Visa. Niemand hätte allerdings reisewillige russische Inspektoren an der Kontrolle amerikanischer Stützpunkte gehindert.

Die „Suspendierung“ verlängert nun die drei Jahre ohne Vor-Ort-Kontrollen. Diese Kontrollen waren aber nie das einzige Instrument zur Überwachung der Einhaltung der Rüstungsbeschränkung. Satelliten waren dabei immer wichtiger.

Gravierendes Signal

Inhaltlich beschränkt das vor 13 Jahren abgeschlossene und vor drei Jahren verlängerte Abkommen zwischen den USA und Russland – die fast 90 Prozent aller Atomwaffen besitzen – die nuklearen Kapazitäten. Jede Seite darf 800 Trägerraketen und 1550 nukleare Sprengköpfe haben.

„New Start“ hatte mehrere Vorläufer, zuletzt „Start“ (Strategic Arms Reduction Treaty). Dadurch aber hat die Suspendierung durch Russland eine ganz neue Bedeutung: Denn selbst in den übelsten Zeiten der Ost-West-Spannungen sind im 20. Jahrhundert diese Verträge beachtet worden.

Dass nun erstmals Hand an sie gelegt wird, ist daher als Signal durchaus gravierend. Das zeigt Putins bedrängte Lage. Er ist zwar mächtiger als alle anderen Männer an der Spitze des Kremls nach Stalin, denn es gibt kein Politbüro mehr, das ihn bremsen könnte. Dennoch ahnt er, sich ein Scheitern seiner „Spezialoperation“ nicht leisten zu können. Deshalb setzt er alle ihm einfallenden Instrumente der Druckausübung ein, um den Westen von einer weiteren Unterstützung der Ukraine abzuhalten.

Jedoch zeigt das Eurobarometer, dass 74 Prozent der EU-Europäer die Unterstützung der Ukraine durch die EU für gut befindet. Bei einer Umfrage der Bertelsmann-Stiftung waren 61 Prozent der Europäer überzeugt, dass die Ukraine diesen Krieg gewinnen wird (bei den Deutschen waren es auch noch 55 Prozent). Und bei einer ECFR-Studie befürworten durchschnittlich 55 Prozent der Menschen in neun befragten EU-Ländern eine Weiterführung der Sanktionen gegen Moskau, selbst wenn dies zu wirtschaftlichen Nachteilen im eigenen Land führen sollte. Nur 24 Prozent waren dagegen.

Trump wollte andere Atommächte einbeziehen

Auf US-Seite hat Joe Biden eine ganz besondere Beziehung gerade zu „New Start“: Denn dessen Verlängerung war eine seiner ersten Taten im Weißen Haus, nachdem Donald Trump den Vertrag nicht mehr in gleicher Weise fortschreiben wollte. Trumps Sorge war die rasch voranschreitende nukleare Aufrüstung Chinas, sowie die Entwicklungen in Nordkorea und eventuell auch im Iran. Er fürchtete, dass die USA nicht imstande sein könnten, diesen Bedrohungen gleichzeitig ein Gegengewicht zu bieten. Ganz wird diese Sorge auch bei Biden nicht verschwunden sein.

So könnte Putin die Tür auch zu etwas geöffnet haben, was er schon gar nicht wollen kann: Dass sich auch die Amerikaner nicht mehr an New Start gebunden fühlen.

Das große Risiko bei solchen Drohgesten ist: Sie können zu einer Eskalation an Missverständnissen führen, die dann sehr wohl in eine nukleare Katstrophe münden. Zugleich mehren sich in Russland die Rufe, den Widerstand der Ukraine nötigenfalls mit Atomwaffen zu brechen. Dafür kommen freilich weniger die ballistischen Raketen in Frage als die „taktischen“ Atomwaffen, die in einem viel kleinerem Areal ihr Zerstörungswerk anrichten.

Kommt der Atomeinsatz?

Vorerst scheint es eher unwahrscheinlich, aber nicht unmöglich, dass es zu einem solchen Atomeinsatz kommt:

  • Erstens ist Moskau unsicher, ob sich die Ukraine nicht atomar revanchieren kann. Immerhin waren in der Sowjetzeit dort viele Atomraketen stationiert, die die Ukraine nach Erlangung der Freiheit erst gegen die vertragliche Zusicherung ihrer territorialen Integrität zurückgegeben hat (was einer der vielen von Putin gebrochenen Verträge ist). Aber zweifellos ist etliches Wissen um die Atomwaffen in der Ukraine verblieben. Und es wäre nur logisch, wenn das ums Überleben kämpfende Land begonnen hätte, dieses Wissen zu reaktivieren.
  • Zweitens sollte man auch Putins persönliche Paranoia einkalkulieren. Er weiß, dass bei einer atomaren Eskalation sein eigenes Leben in Gefahr ist. Dieser Aspekt spielt bei einem Mann zweifellos eine Rolle, der bisher kein einziges Mal gewagt hat, an die Front zu reisen; der sich auch nicht unters eigene Volk mischt, der einen auch jedem Russen auffallenden Gegensatz zu Joe Biden bildet. Ein Mann, der sich so panisch vor Corona-Viren fürchtet, hat zweifellos noch viel mehr Angst vor einer Atombombe im Kreml.
  • Drittens aber dürfte es etwas geben, vor dem Putin noch mehr bangt als vor persönlichem Schaden: Das dürfte die Vorstellung sein, statt als Großer in die Geschichte einzugehen, mit Schimpf und Schande davongejagt zu werden. Eine Wahnsinnstat ist daher nicht ganz auszuschließen.

Die russische Suspendierung von „New Start“ reiht sich jedenfalls in eine Reihe ähnlicher Indizien:

  1. So verlangte der frühere Präsident Medwedew schon mehrfach den Einsatz von Atomwaffen, weil angeblich die Existenz Russlands bedroht sei.
  2. So erklärte der Anführer der von Russland teileroberten „Volksrepublik Donezk“, Alexander Chodakowski: „Wir haben nicht die Ressourcen, diesen Krieg so noch lang zu führen. Jeder weiß, dass die nächste Stufe der Eskalationsspirale im Ukraine-Krieg nur die atomare Stufe sein kann“.
  3. So ist es schon zu offenen Attacken der Wagner-Miliz gegen die offizielle Armee gekommen, weil diese ihr zuwenig Munition gebe.
  4. So verschießen nach ukrainischer Zählung die Russen täglich zwischen 20.000 und 60.000 Stück Artilleriemunition, die Ukrainer hingegen 2.000 bis 7.000.
  5. So hat auch EU-Außenbeauftragter Borrell dringend zu Munitionslieferungen an die Ukraine aufgefordert: Es gehe um Wochen, nicht um Monate.

Alles in allem bleibt ein mulmiges Gefühl: Putin will zwar keine nukleare Eskalation, aber viele Faktoren und seine Droh-Rhetorik können sich selbständig machen und etwas auslösen, was eigentlich nicht geplant war.

Der Autor war 14 Jahre Chefredakteur von „Presse“ bzw. „Wiener Zeitung“. Er schreibt unter www.andreas-unterberger.at sein „nicht ganz unpolitisches Tagebuch“, das heute Österreichs meistgelesener Internet-Blog ist.

Dieser Beitrag stellt ausschließlich die Meinung des Verfassers dar. Er muss nicht zwangsläufig die Sichtweise der Epoch Times Deutschland wiedergeben.


Kommentare
Liebe Leser,

vielen Dank, dass Sie unseren Kommentar-Bereich nutzen.

Bitte verzichten Sie auf Unterstellungen, Schimpfworte, aggressive Formulierungen und Werbe-Links. Solche Kommentare werden wir nicht veröffentlichen. Dies umfasst ebenso abschweifende Kommentare, die keinen konkreten Bezug zum jeweiligen Artikel haben. Viele Kommentare waren bisher schon anregend und auf die Themen bezogen. Wir bitten Sie um eine Qualität, die den Artikeln entspricht, so haben wir alle etwas davon.

Da wir die Verantwortung für jeden veröffentlichten Kommentar tragen, geben wir Kommentare erst nach einer Prüfung frei. Je nach Aufkommen kann es deswegen zu zeitlichen Verzögerungen kommen.


Ihre Epoch Times - Redaktion