„Digitale Verdummung“ – In der Schule veranlagt, in der Politik schon angekommen

Es bahnt sich eine technologische Neuausrichtung des Erziehungswesens an, eine weitgehende Übernahme des Unterrichtsgeschehens durch Computer-gesteuerte Bildungs-Einheiten und Programme – mit weitreichenden und verheerenden Folgen für die Entwicklung der Kinder.
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Fünf Milliarden Euro sollen vom Bund für die digitale Ausstattung der Schulen in Deutschland fließen.Foto: Julian Stratenschulte/dpa
Von 15. Juni 2019

In ungeheurem Maße werben einschlägige Wirtschaftsunternehmen für breite „Digitale Bildung“ in Kitas und Schulen. Und die Bundes- und Landesregierungen treiben mit einem „Digitalpakt“ intensiv die Ausstattung der Schulen mit digitalen Medien voran, wofür der Bund über einen Zeitraum von fünf Jahren insgesamt fünf Milliarden Euro zur Verfügung stellt. Es bahnt sich eine technologische Neuausrichtung des Erziehungswesens an, eine weitgehende Übernahme des Unterrichtsgeschehens durch Computer-gesteuerte Bildungs-Einheiten und Programme – mit weitreichenden und verheerenden Folgen für die Entwicklung der Kinder.

Ziel und Bedeutung der „Digitalen Bildung“

Ein „Netzwerk Digitale Bildung“, von Wirtschaftsunternehmen getragen, beschreibt Digitale Bildung als einen Prozess, den u.a. folgende Elemente ausmachen:

„Der Umgang mit digitalen Medien, die für den Lernprozess in einer digitalisierten Welt grundlegende Voraussetzungen mitbringen: Sie ermöglichen eigenständiges sowie kollaboratives Lernen (d.h. in Gruppen), zeit- und ortsunabhängig, geben dem Lernenden unmittelbar Feedback und lassen sich an individuelle Lernvoraussetzungen und -bedürfnisse anpassen.

Eine veränderte Beziehung zwischen Lernenden und Lehrenden, in der die Rolle der Lehrkräfte sich wandelt von allwissenden Wissensvermittlern zu Lerncoaches, die den Erwerb von Wissen begleiten und unterstützen.“ 1

Stefan Aufenanger, Professor für Erziehungswissenschaft und Medienpädagogik an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, hält es auch für ein wichtiges Ziel, „dass Kinder mit digitalen Medien selbstständiger und mobiler arbeiten können – und man wegkommt von einem lehrerzentrierten Unterricht.“ 2

So diagnostiziert der Pädagoge Peter Hensinger, der sich kritisch und umfassend mit der Materie befasst hat:

„Was versteht man unter „Digitaler Bildung“? Damit ist nicht gemeint, dass Lehrer nach eigenem Ermessen digitale Medien und Software als nützliche Hilfsmittel im Unterricht einsetzen, dass Schüler z.B. Word, Power Point oder Excel lernen, Auswertungen von Versuchen mit Programmen vornehmen, statistische Berechnungen durchführen oder lernen, Filme digital zu drehen und zu schneiden. Das gehört heute zu Grundfertigkeiten, die man ab der Oberstufe lernen sollte. Und dazu genügen stationäre PCs.

Es geht um eine schleichende Neuausrichtung des Erziehungswesens, nämlich bereits ab den KiTas die Übernahme der Erziehung durch digitale Medien. … So wie bei der Industrie 4.0 Roboter die Produktion selbständig steuern, sollen Computer und Algorithmen das Erziehungsgeschehen autonom steuern.“

Um aufzuzeigen, welche Entwicklung damit eingeleitet werden soll, zitiert Hensinger den in den USA lehrenden Kognitionswissenschaftler und Publizisten Prof. Fritz Breithaupt: „2036 werden Eltern schon für ihre fünf Jahre alten Kinder einen virtuellen Lehrer abonnieren. Die Stimme des Computers wird uns durchs Leben begleiten. Vom Kindergarten über Schule und Universität bis zur beruflichen Weiterbildung. Der Computer erkennt, was ein Schüler schon kann, wo er Nachholbedarf hat, wie er zum Lernen gekitzelt wird. Wir werden uns als lernende Menschen neu erfinden. Dabei wird der zu bewältigende Stoff vollkommen auf den Einzelnen zugeschnitten sein.“ 3

Jörg Dräger und Ralph Müller-Eiselt von der Bertelmann-Stiftung, die ebenfalls die „Digitale Bildung“ massiv vorantreibt, berichten:

„Die Software „Knewton durchleuchtet jeden, der das Lernprogramm nutzt. Die Software beobachtet und speichert minutiös, was, wie und in welchem Tempo ein Schüler lernt. Jede Reaktion des Nutzers, jeder Mausklick und jeder Tastenanschlag, jede richtige und jede falsche Antwort, jeder Seitenaufruf und jeder Abbruch wird erfasst. ´Jeden Tag sammeln wir tausende von Datenpunkten von jedem Schüler`, sagt Ferreira stolz. Diese Daten werden analysiert und zur Optimierung der persönlichen Lernwege genutzt.

Komplexe Algorithmen schnüren individuelle Lernpakete für jeden einzelnen Schüler, deren Inhalt und Tempo sich fortlaufend anpassen, bei Bedarf im Minutentakt. (…) Schon heute berechnet Knewton zuverlässig die Wahrscheinlichkeit richtiger und falscher Antworten sowie die Note, die ein Schüler am Ende eines Kurses erreichen wird. Eines Tages braucht es wohl keine Prüfungen mehr – der Computer weiß bereits, welches Ergebnis herauskommen wird.“ 4

Das Schulbuch soll durch Smartphones oder besser durch Tablet-PCs ersetzt werden. Die Schüler sitzen vereinzelt vor Ihrem Tablet und werden gesteuert und überwacht von Algorithmen. Eine automatische Stimme gibt Aufgaben und Übungen vor.

„Ein Algorithmus ist eine eindeutige Handlungsvorschrift zur Lösung eines Problems oder einer Klasse von Problemen. Algorithmen bestehen aus endlich vielen, wohldefinierten Einzelschritten. Damit können sie zur Ausführung in ein Computerprogramm implementiert, aber auch in menschlicher Sprache formuliert werden. Bei der Problemlösung wird eine bestimmte Eingabe in eine bestimmte Ausgabe überführt.“ (Wikipedia)

Algorithmen sind also zwingende, eindimensionale Anweisungen zu einer bestimmten Lösung. Für im lebendigen Gespräch mit dem Lehrer angeregtes eigenes Denken bleibt kein Raum. Durch die autonome Digitaltechnik werden die Lehrer immer mehr ersetzt und zu Lernbegleitern, zu Coaches, degradiert. Digitale Bildung hat letztlich die „Schule ohne Lehrer“ zum Ziel.

Der renommierte Schweizer Think Tank „Gottlieb-Duttweiler Institut“ (GDI) sieht eine beklemmende Entwicklung:

„Algorithmen nehmen uns immer öfter das Suchen, Denken und Entscheiden ab. Sie analysieren die Datenspuren, die wir erzeugen, entschlüsseln Verhaltensmuster, messen Stimmungen und leiten daraus ab, was gut für uns ist und was nicht. Algorithmen werden eine Art digitaler Schutzengel, der uns durch den Alltag leitet und aufpasst, dass wir nicht vom guten Weg abkommen.“ (Zitiert n. P.H.)

Der „Schutzengel“ führt mit zwingenden Schritten zum gewünschten Ergebnis. Kreativität und Querdenken entfällt, wie P. Hensinger bemerkt. Die Software-Optionen geben einprogrammierte Kompetenzen vor, die erlernt werden sollen. Man lehrt nicht mehr Haltung, sondern in Wirtschaft und Staat verwertbares Verhalten, das ist der Kern der Kompetenzorientierung, wie sie über EU und OECD nun schon seit einigen Jahren Eingang in die Lehrpläne gefunden hat.5 Diese wird durch die digitalen Medien technisch perfektioniert.

Es findet damit ein immer radikalerer Bruch mit dem humanistischen Erziehungsdeal einer allgemeinen Menschenbildung statt. „Es geht um Konditionierung in bester behavioristischer Tradition. Der Behaviorismus, eine Richtung der Verhaltensforschung, vertritt, dass jeder Mensch durch positive Reize, also Belohnungen, zum gewünschten Verhalten für anwendungsorientierte Fähigkeiten dressiert werden kann.“  (P.H.)

So wie es bei der Dressur der Tiere geschieht. Erziehungsziel ist nicht mehr der im humboldtschen Sinne erzogene selbständig denkende Homo politicus, sondern der widerspruchlos funktionierende Homo oeconomicus.

„Wissen allein, sogenannte PC-vermittelte Skills, ohne Ethik, erzeugt Fachidioten, skrupellose Banker, die auf den Hunger wetten, gewissenlose Ingenieure, die Waffensysteme optimieren, Soziologen und Psychologen, die Konditionierungs- und Manipulationssysteme entwerfen, Journalisten, die für die RTL-2 und Bildzeitungs-Volksverdummung schreiben, oder angepasste Arbeitssklaven.“ (P.H.)

Scheinbar vollzieht sich ein individuelles Lernen der Schüler mit Hilfe digitaler Medien, aber in Wirklichkeit ist es eine Entmündigung. Professor Ralf Lankau (FH Offenburg) nennt dies ein „im Kern totalitäres Systeme zur psychischen und psychologischen Manipulation und lebenslangen Steuerung von Menschen. Beschrieben wird das systematische Heranziehen von Sozial-Autisten, die auf eine Computerstimme hören und tun, was die Maschine sagt.“

Der Pädagoge Dr. Matthias Burchardt (Uni Köln) kommentiert: „Der gläserne Schüler wird damit einer unkontrollierten Kontrolle von Maschinen und Algorithmen ausgeliefert. Politisches Engagement gegen diese Technik sollte allein aus der Fürsorgepflicht von Eltern und Pädagoginnen und Pädagogen erwachsen.“ (Zitiert n. P.H.)

Mit der Fürsorgepflicht vieler Eltern ist es aber nicht weit her. Die meisten Kinder kommen schon mit seelischen Verhaltensweisen und Gewohnheiten in die Schule, die von extensiver Beeinflussung durch die maschinellen Bilder des Fernsehens, von PCs und Smartphones oder Tablets geprägt sind.

Die Eltern lassen dies ungesteuert zu, weil sie keine Ahnung von den körperlichen und seelisch-geistigen Entwicklungsbedingungen der Kinder haben und in der materialistischen Oberflächlichkeit des täglichen Lebens auch danach kein Erkenntnisbedürfnis empfinden. Und wenn sich die von der staatlichen Hierarchie abhängigen Lehrer in den Schulen trotz anthropologischer Ausbildung nicht besser verhalten und sich selbst von digitalen Maschinen ersetzen lassen, kann man auf beider pädagogische Fürsorgepflicht nur wenig Hoffnung setzen.

Prozess der Entmenschlichung

Der grundlegende Ausgangspunkt aller Erziehung und Bildung ist der unfertige junge Mensch, dessen Leib und Seele in den ersten 20 Jahren seines Lebens heranwachsen und die er zum geeigneten Instrument seines Geistes entwickeln will.

Dazu bedarf er der Hilfe und Anregung durch Eltern, Erzieher und Lehrer, die an ihn in den jeweils unterschiedlichen Stufen der leiblichen und – davon abhängig der seelischen – Entwicklung die geeigneten Bildungsstoffe herantragen und ihn damit in je altersgerechter Weise mit der Welt vertraut machen, in die er hineinwachsen will.

In den ersten 7 Jahren ahmt er unbewusst den Erwachsenen und sein Tun nach, im 2. Jahrsiebt ist ihm der Erzieher in Wort und Tat selbstverständliche Autorität, und in der Jugendzeit sucht er im Lehrer das Vorbild, dessen Können und Moralität er nachstreben kann. Immer ist es der Mensch, der ihm den Zugang zur Welt vermitteln soll.

Und der junge Mensch braucht die Mitschüler, die in der gleichen Situation sind, und deren Streben und soziales Miteinander ein wesentliches wechselseitiges erzieherisches Element bedeuten, das gewöhnlich unterschätzt wird. Manche Bemerkung eines Schülers wirkt mitunter pädagogisch mehr, als wenn es der Lehrer gesagt hätte.

Erst zum Ende dieser Entwicklungsphase wird der junge Mensch so selbständig und gefestigt, dass er die Vermittlerrolle des Erwachsenen immer weniger benötigt und fähig wird, eigene Erkenntniszugänge zur Welt zu gehen, die er dann auch in ihrem Wert selber beurteilen kann.

Was für ein Wahnsinn, den Menschen durch eine digitale Maschine zu ersetzen, vor die das Kind gesetzt wird.

„Das, was in den digitalen Bildungsvorstellungen als individualisierter Unterricht angepriesen wird, ist Frontalunterricht, vom Menschen befreit: das soziale Gegenüber ist ein von Algorithmen gesteuerter sprechender Bildschirm. Der sozialisierende, gemeinschaftsbildende Klassenverband entfällt, die pädagogische Atmosphäre – erzeugt durch den Lehrer, weicht Vereinzelung, technischer Kälte, Berechenbarkeit und Konditionierung.“  (P.H.)

Das Kind wird nicht von Menschen zur Reife seiner Entwicklung, zur selbstbestimmten Mündigkeit geführt, sondern bereits vorher durch totale digitale Programme maschinell abgerichtet. Es wird seelisch verkrüppelt, und damit das kriminelle Gegenteil von dem praktiziert, was wirkliche Menschenbildung bedeutet.

Irreversible Schädigungen des Gehirns

Doch die Schädigung der Kinder geht bis in irreversible physiologische Beeinträchtigungen und Zerstörungen hinein. Wie die moderne Gehirnforschung nachgewiesen hat, ist das Gehirn nicht nach einer gewissen Entwicklungsphase in der frühen Kindheit für das weitere Leben unveränderlich programmiert. Das Kind hat nicht das Gehirn eines kleinen Erwachsenen.

In einem sehr großen Ausmaß ist die weitere Strukturierung des Gehirns abhängig von den realen Erfahrungen aller Sinne und vielfältigen körperlichen Bewegungen. Bei der Geburt sind nur diejenigen Nervenverbindungen ausgebildet, die zum Überleben unbedingt notwendig sind.

„Alles andere – und das ist so gut wie alles, worauf es im späteren Leben ankommt – muss erst noch hinzugelernt und als neue Erfahrung im Gehirn abgespeichert werden“, schreibt der Neurobiologe und Hirnforscher Gerald Hüther. 6

Die gleichlautenden Forschungsergebnisse der Neurobiologin Prof. Gertraud Teuchert-Noodt (Univ. Bielefeld) fasst Peter Hensinger (a.a.O.) so zusammen:

„Es sind vor allem die körperlichen Bewegungen eines Kindes, die bestimmen, wie die ersten Funktionsmodule des Klein- und Großhirns reifen. Denn das Kleinhirn und die im Gehirn nachgeschaltete motorische Großhirnrinde regen über vielfältige Bewegungen die Denkleistungen an. Dazu müssen kleine Kinder differenzierte körperliche Aktivitäten ausüben. Sie sollten ihre Hände verwenden, um Bilder zu malen, Knetfiguren zu formen oder zu basteln. Kinder purzeln, klettern und tollen herum – genau in der kritischen Phase, in der sich zeitgleich modulare Groß- und Kleinhirnfelder funktional organisieren.

Diese sinnlichen Erfahrungen sind dreidimensional, und nur dabei wird die Raumkoordination in den reifenden Modulen der Hirnrinde optimal und das meint akitivitätsbestimmt – bei vollem Einsatz des kindlichen Verhaltensrepertoirs – ausgebildet. Raum und Zeit sind das Werkzeug, mit dem Nervennetze und Funktionssysteme untereinander kommunizieren.

Mit anderen Worten, die Herausbildung des Raum-Zeit-Gedächtnisses ist grundlegend für das Denken, das Lernen, das Handeln und das Planen. Finden diese neuronalen Prozesse, die die Vernetzung der sensomotorischen und assoziativen Rindenfelder bewirken und gleichzeitig das Kleinhirn reifen lassen, nicht statt, können sie nicht nachgeholt werden.“

Und der Psychiater und Neurowissenschaftler Prof. Manfred Spitzer (Uni Ulm), der vor einer „digitalen Demenz“ warnt, sagt in einem hörenswerten Vortrag lapidar: „Jede höhere Denktätigkeit basiert auf Sensorik und Motorik, die in unserem Hirn verankert sein muss.“

„Deswegen: Was sind die wichtigen Schulfächer? Das sehen Sie hier: Musik, Sport, Theaterspielen, Kunst, mit den Händen Be-Greifen. … Das sind die wichtigen Schulfächer. Die bringen ihre Hirnentwicklung weiter. Und zwar jeweils dadurch, dass sie Sachen machen und durchziehen: beim Sport, bei der Musik, beim Theaterspielen, beim Mit-den Händen-Sachen-kreieren. Deswegen ist das so wichtig, dass die Kinder malen und basteln und töpfern und alles Mögliche machen.“ 7

Der heutige Spielraum der Kinder ist sowieso schon durch beengte Wohn-, Verkehrsverhältnisse und langes Sitzen im Auto usw. eingeschränkt. Lassen es die Eltern zu, dass die Kinder dann noch stundenlang vor dem Fernseher, dem PC oder Smartphon hocken, und wird dies in den Schulen systematisch fortgesetzt, fehlt die notwendige räumliche Bewegung, und dem Gehirn fehlt quasi der Baustoff für den Weiterbau des Denkapparates – die Bautätigkeit erlahmt.

„Es ist unmöglich, auf dem Tablet spielerisch über einen Baumstamm zu balancieren, um den Gleichgewichtssinn und die nachgeschalteten Hirnzentren zu trainieren. Unumgänglich ist diese Sinnesqualität das Eintrittstor für kognitive Funktionen“, sagt Frau Prof. Teuchert-Noodt. 8

„Erstmals in der Menschheitsgeschichte wird uns durch die Digitalisierung diese für Denkprozesse absolut notwendige neuronale Grundlage streitig gemacht. Konzentrations- und Denkfähigkeiten bleiben unterentwickelt.“ 9

„Wenn wir den Karren so weiter laufen lassen, wird das eine ganze Generation von digitalisierten Kindern in die Steinzeit zurückwerfen.“

Den Begriff der „digitalen Demenz“, mit dem Prof. Spitzer warnt, hält sie noch für untertrieben, weil die Schäden, die digitale Medien im Gehirn von Kindern und Jugendlichen anrichten, viel schwerwiegender sind als eine Demenz. Zynisch gesagt:

„Mit Dementen kann die Gesellschaft noch irgendwie klarkommen. Dagegen entspricht der übermäßige Gebrauch von Medien einer für unser Gemeinwesen hochgefährlichen Virtualisierung. Heutzutage sind 90 Prozent der Jugendlichen täglich über sechs Stunden mit dem Smartphone zugange. Wenn bald nur noch Psychopathen rumlaufen, führt das zur Abschaffung der Demokratie.“ 10

Das Digitale verdrängt zudem viele emotionale Bindungsfaktoren zwischen Kind und Eltern oder Erzieher, den Blickkontakt, die Gestik, die Mimik, die Ansprache, die Geborgenheit. Viele werden depressiv, wie eine schwedische Studie zeigt. Generell muss man einen zunehmenden Verlust an mitmenschlicher Empathie verzeichnen. Prof. Spitzer weist darauf hin, dass Studien zeigen: Je länger Jugendliche täglich vor dem Bildschirm verbringen, desto weniger Bindung, Vertrauen, Mitgefühl haben sie für ihre Eltern und ihre Freunde. Eine merkwürdige Gleichgültigkeit gegenüber dem Schicksal des Mitmenschen macht sich breit, verbunden mit einer schleichenden Willensschwäche.

„Die empathielosen Zombies sind unter uns – was die Jugendlichen schon festgestellt haben. … „Smombie“ wurde zum Jugendwort des Jahres 2015 gewählt. Das ist ein Smartphone-Zombie. … Die Jugendlichen haben begriffen: Wenn ich dauernd an dem Ding hänge, werde ich zu einem seelenlosen, willenlosen Wesen. …

Ein Personaler eines großen deutschen Unternehmens hat mir mal gesagt: ´Herr Spitzer, dass die jungen 16-jährigen Lehrlinge nicht mehr Bruch- und Prozentrechnen können, das ist nicht schlimm. Schlimm ist: Die wollen nichts mehr`. – Willenlos! Und wenn sie als Sechzehnjährige nichts mehr wollen, dann haben sie verloren –  als Arbeitsgeber und auch sonst verloren.“ 11

Prof. Teuchert-Noodt weist auf einen weiteren negativen Aspekt hin, der darin bestehe, „dass digitale Medien als extreme Beschleunigungsfaktoren auf die reifenden Funktionssysteme des Kortex kontraproduktiv wirken, indem sie eine Art Notreifung der Nervennetze induzieren und irreparabel süchtig machen.“

Das rasante Feuerwerk aus Videos und bunten Animationen führe zu einem Reizbombardement. Glücksgefühle entstehen – und verlangen nach immer mehr –, wenn immer mehr mediale Reize auf das Kind einströmen. Auf Kinder, die sich noch in der Entwicklung befinden, feuerten Bildermedien unaufhaltsam pathologisch verändernde Frequenzen ab, die das Stirnhirn in dem Alter massiv überfordern. Dadurch könne ein starkes Suchtverhalten ausgelöst werden. Dies blockiere die dynamische Phase der Hirnreifung, weil das Gehirn vor dem 12. Lebensjahr in der kognitiven und neuronalen Entwicklung den Anforderungen der digitalen Medien noch nicht gewachsen sei.12

Besseres Lernen?

Aus dem Vorangehenden ergibt sich eigentlich schon die Erwartung, dass der Einsatz digitaler Medien in der Schule nicht zu besseren, eher zu schlechteren Lernergebnissen führt.

„Computer an Schulen nützen keinem Schüler beim Lernen. Das ist nachgewiesen, in großen deutschen, amerikanischen, rumänischen, israelischen, skandinavischen, österreichischen Studien. … Die können Sie alle lesen, es kommt immer das Gleiche raus.

Auch die OECD hat neulich in einer Analyse von 10 Jahren PISA-Daten gemacht. – PISA-Daten werden an einer Viertel-Millionen 15-Jähriger erhoben. – Die haben geguckt: Wieviel hat der Staat in AIT investiert an Schulen? Also wieviel haben sie in Computer an Schulen gesteckt, und wie sind die Leistungen der Schüler geworden? Und was herauskommt? Es gibt keine Korrelation zwischen Computer an Schulen und Schülerleistung. Die können das Geld auch behalten, es bringt nichts.“ 13

So sagte OECD-PISA-Chef Andreas Schleicher: „Wir müssen es als Realität betrachten, dass Technologie in unseren Schulen mehr schadet als nützt.“

Im OECD-Bericht „Students, Computers and Learning: Making the Connection“ (2015), der den Nutzen von Digitaltechnik belegen sollte, schreibt Andreas Schleicher im Vorwort:

„Schüler mit moderater Computernutzung in der Schule tendieren zu besseren Lernergebnissen als Schüler, die Computer selten verwenden. Aber Schüler, die Computer sehr häufig in der Schule verwenden, haben sehr viel schlechtere Lernergebnisse, auch nach der Berücksichtigung von sozialem Hintergrund und der Demographie. Die Ergebnisse zeigen auch keine nennenswerten Verbesserungen in der Schülerleistung in Lesen, Mathematik oder Wissenschaft in den Ländern, die stark in IKT (Informations- und Kommunikationstechnologie) für Bildung investiert hatten.

Und vielleicht die enttäuschendste Feststellung des Berichts ist, dass die Technologie wenig hilfreich beim Ausgleich der Fähigkeiten zwischen fortgeschrittenen und zurückgebliebenen Schüler ist (S.3).“ 14

Prof. Spitzer weist auf folgende internationale Erfahrungen hin: „In Australien wurden im Jahr 2012 nach einem Absacken im PISA-Ranking ca. 2,4 Milliarden australische Dollar in die Laptop- Ausstattung von Schulen investiert. Seit 2016 werden sie wieder eingesammelt. Die Schüler haben alles damit gemacht, nur nicht gelernt.“ Ähnliches geschieht in Südkorea, Thailand, USA und der Türkei.15

In Deutschland führt man die Laptops in die Schulen ein – trotz negativer Studien.

Die Rolle der Politik

Das Projekt „1000mal1000: Notebooks im Schulranzen“ des Bundesbildungsministeriums muss im Endbericht des Projekts konstatieren, dass die Studie keinen eindeutigen Beleg dafür liefere, dass die Arbeit mit Notebooks sich grundsätzlich in verbesserten Leistungen und Kompetenzen sowie förderlichem Lernverhalten von Schülern niederschlage.

Und: „Übereinstimmend deuten die Ergebnisse … darauf hin, dass die Schüler im Unterricht mit den Notebooks tendenziell unaufmerksamer sind.“

Ein Netbook-Projekt der Stadt Hamburg von 2010 kam unter Leitung des Erziehungswissenschaftlers Prof. Rudolf Kammerl zu dem Ergebnis: „Ein eindeutiger Trend zur Stärkung der Medienkompetenz im Umgang mit Netbook und Internet konnte infolge des Netbook-Einsatzes nicht verzeichnet werden.“ Im Vergleich zu anderen Schülern konnten auch „keine signifikanten Unterschiede in der Kompetenzentwicklung“ nachgewiesen werden.

Doch merkwürdigerweise: Der Hamburger Schulsenator Rabe, der das Ergebnis des Netbook-Projekts ja kannte, startete ein Jahr später einen neuen „zweijährigen Schulversuch“, erneut von Prof. Kammerl geleitet, und sagte dazu schon im Voraus: „Digitale Medien werden in Kürze das Lernen dominieren, und die Schulen tun gut daran, sich auf diese Entwicklung einzustellen.“ Er sei überzeugt, dass digitale Medien Schritt für Schritt im ganzen Hamburger Schulsystem eingeführt werden müssten. In welchen Schritten dies geschehe, sollten die Erfahrungen des Pilotversuchs ergeben. 16

Also die Schulbehörde hat als Projekt-Ergebnis, dass Computer nichts bringen, und will ein Jahr später Computer flächendeckend einführen! – Was ist das? Schizophrenie?

Prof. Gertraud Teuchert-Noodt diagnostiziert nüchtern: „Auch Politiker sind Menschen, die den negativen Folgen der medialen Überschleunigung unserer Zeit ausgesetzt sind. Das führt nicht nur bei Schulkindern zu schweren Konzentrationsschwächen und Denkproblemen. Vor neuronalem Hintergrund möchte die Uneinsichtigkeit von Politikern ein klares Indiz dafür sein, dass spezifische Stirnhirnkompetenzen – was Antizipation und Denken in historischen Kategorien einbezieht – bereits ernsthaft in Mitleidenschaft gezogen sind und den Weg des Nachdenkens blockieren. Politiker selbst befinden sich offensichtlich bereits auf dem Opferweg der digitalen Entmündigung. Anders ist diese synchrone Fehlhaltung sämtlicher Parteien bezüglich der Digitalisierung von Schulen und Unterricht nicht zu verstehen.“ 17

Die digitale Verblödung bezieht sich also nicht nur auf die Jugend. Sie ist bereits bei den Politikern angekommen.

Prof. Spitzer ergänzt mit dem Aspekt der Abhängigkeit von der Wirtschaft: „Die Politik wird’s nicht richten, das sehen Sie, weil die alle schon von der Lobby plattgeredet wurden, wie toll digitale Medien sind. Wenn Sie wissen wollen, ob Dreijährige Bonbons essen sollen, fragen Sie Experten für Dreijährige oder Experten für Bonbons? Unsere Politiker fragen nur Experten für Medien, wenn´s darum geht: Sollen die Kinder das in der Schule machen?“ 18

Staatliche Bildung

Das Ganze offenbart die verhängnisvolle gesellschaftliche Fehlentwicklung, dass der Staat noch immer das gesamte Bildungswesen in der Hand hat und inhaltlich bestimmt. Auch die „Experten für Dreijährige“, Neun-, Zwölf- und Siebzehnjährige, also die Anthropologen, Psychologen und Pädagogen, müssen nicht von der Politik gefragt werden, ob etwas in der Schule gemacht werden soll – sie müssen dies als die Fachleute vor Ort aus ihren wissenschaftlichen Erkenntnissen und Erfahrungen selber entscheiden.

Das heißt, das Schul- und Hochschulsystem gehört nicht in die Hände von anmaßenden Politikern, von verblödeten Dilettanten und Marionetten skrupelloser wirtschaftlicher Profitinteressen, sondern in eine gegenüber staatlichen Weisungen und wirtschaftlichen Forderungen unabhängige Selbstverwaltung und Regie der wissenschaftlichen Fachleute selbst. Nur so kann die immer mehr anschwellende Dekadenz der Gesellschaft aufgehalten werden.

Vgl. näher: Allmächtiger Staat sowie: Schule als Herrschaftsinstrument

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1 netzwerk-digitale-bildung.de
2 Zitiert nach forumbd.de, ebenfalls von Unternehmen getragen.
3 gew-bw.de
4 Zitiert, wie auch im Folgenden, nach u. von Peter Hensinger (P.H.) Anm. 3
5 Vgl. dazu: Der Griff der EU nach der schulischen Bildung
Wie die EU mit dem Bologna-Prozess …
6 Zitiert nach Rainer Patzlaff: Der gefrorene Blick, Stuttgart 2013, S. 92
7 https://www.youtube.com/watch?v=VEGtcjxC_Ko min. 38:15; 41 f.
8 https://www.nachdenkseiten.de/?p=49485
9 zitiert nach Anm. 3
10 Anm. 8
11 Anm. 7, ab min. 31:52
12 zitiert und referiert nach P. Hensinger Anm. 3
13 Prof. Spitzer Anm. 7 ab min. 46:53
14 Zitiert nach Anm. 3
15 a.a.O.
16 Nach Prof. Spitzer Anm. 7, ab min. 1:08:50
17 Anm. 8
18 Prof. Spitzer wie Anm. 7, min. 1:11:38

Zuerst erschienen bei Fassadenkratzer.wordpress.com

Herbert Ludwig ist Buchautor und Betreiber des Blogs Fassadenkratzer.wordpress.com. Er veröfeentlicht dort in möglichst regelmäßiger Folge von ca. 10 – 14 Tagen Aufsätze von sich oder Geistverwandten zu Themen des Zeitgeschehens, in denen versucht wird, exemplarisch nach der tiefer liegenden Wahrheit zu suchen.

Dieser Beitrag stellt ausschließlich die Meinung des Verfassers dar. Er muss nicht zwangsläufig die Sichtweise der Epoch Times Deutschland wiedergeben.


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