Glaube wenig, hinterfrage alles, denke selbst – Buchempfehlung mit Leseprobe

Ab 1. Oktober ist das neue Buch von Albrecht Müller, dem Herausgeber der NachDenkSeiten im Buchhandel: "Glaube wenig, hinterfrage alles, denke selbst: Wie man Manipulationen durchschaut".
Titelbild
Albrecht Müller: "Glaube wenig, hinterfrage alles, denke selbst". Westend.Foto: Cover Westend Verlag
Von 1. Oktober 2019

Es ist ein sehr gut lesbares und zugängliches Buch über die Theorie und Praxis der Meinungslenkung: „Glaube wenig, hinterfrage alles, denke selbst: Wie man Manipulationen durchschaut“. Wer sich damit noch nicht befasst hat, sollte seinen Konsum der üblichen Informationskanäle damit ergänzen, um weniger leicht interessengeleitete Botschaften für bare Münze zu nehmen, nur weil sie ständig und überall zu hören sind.

Die 138 Seiten des Haupttextes von Albrecht Müller, dem Herausgeber der NachDenkSeiten, bestehen vor allem aus den beiden großen Kapiteln zur Theorie, genannt „Methoden der Manipulation“ und zur Praxis: „Fälle von Meinungsmache“. Dabei ist der Theorieteil von Beispielen durchsetzt und der Praxisteil nimmt Bezug auf die dargestellten Methoden. Das funktioniert ziemlich gut.

Zu den 13 analysierten Methoden gehören vereinbarte Sprachregelungen, die Nutzung von NGOs und von Experten und die gezielte Verkürzung von Erzählungen. Zu den 16 Kampagnenbeispielen aus der Praxis zählen die „Reformen“, die Pleite-Griechen, das Rauf- und Runterschreiben von Spitzenkandidaten und der angebliche Bedarf für private Rentenvorsorge aufgrund des demographischen Wandels. Letzteres Beispiel will ich im Folgenden mit freundlicher Genehmigung des Westend-Verlags als Leseprobe darbieten.

Albrecht Müller „Glaube wenig …“

Kapitel IV.2. Der demographische Wandel und der angebliche Zwang zur staatlich geförderten privaten Vorsorge

Dieser Komplex ist das Musterbeispiel für eine gut geplante und erfolgreiche Strategie der Meinungsmache mit dem Ziel, politische Entscheidungen herbeizuführen, die den Interessen der Kampagnenplaner und ihren Auftraggebern zugutekommen.

Der finanzielle Hintergrund: Die Versicherungswirtschaft und die Banken haben spätestens in den 1990er Jahren des letzten Jahrhunderts erkannt, dass sie sich ein neues Geschäftsfeld erobern können, wenn sie Teile der bis dahin durch die Gesetzliche Rente, also durch die Landesversicherungsanstalten, heute Deutsche Rentenversicherung, betriebenen Altersversorgung dort herausbrechen und einen Teil der Rentenbeiträge in Systeme der privaten Vorsorge umleiten. Es ging um Milliarden.

Nehmen wir die Zahlen aus dem Jahr 2002, dem Jahr der Einführung des Privatvorsorge-Produktes »Riester-Rente«. Damals hatte die Gesetzliche Rentenversicherung einen Umsatz von 156 Milliarden Euro, die privaten Lebensversicherer einen solchen von 67 Milliarden Euro. Wenn nur 10 Prozent der Beiträge für die gesetzliche Rente abgezweigt würden, dann wäre das ein Umsatzplus von fast 16 Milliarden Euro bei den privaten Versicherern. Ein Riesengeschäft.

Die Banken und Versicherer sahen diese Chance und griffen schon in den Bundestagswahlkampf 1998 mit einer massiven Anzeigenkampagne ein. Bereits damals tauchte der Hinweis auf den demographischen Wandel in den Anzeigetexten auf.

Wir werden immer weniger, wir werden immer älter. Der Generationenvertrag trägt nicht mehr. Jetzt hilft nur noch (staatlich geförderte) Privatvorsorge. Das waren die Lernschritte, die man auf vielfältige und massive Weise den Bürgerinnen und Bürgern unseres Landes beibrachte. Man konnte die Verlogenheit dieser Argumentation damals schon sehen.

1997 beschrieb ich in einem kleinen Buch, »Mut zur Wende«, die Situation und die Absichten, 1999 noch einmal in der Reihe »Kritisches Tagebuch« des WDR, dort auch mit Bezug auf die Anzeigenkampagne im Bundestagswahlkampf 1998.

Die an der Teilprivatisierung der Altersvorsorge interessierten Wirtschaftskreise haben es über Propaganda und über Lobby erreicht, dass ihre Geschäfte vom Staat gleich mehrfach gefördert wurden: Die Leistungsfähigkeit ihrer Konkurrenz, also der Gesetzlichen Rente, wurde systematisch vermindert – unter anderem durch willentliche Fixierung des Beitragssatzes auf maximal 20 Prozent, mit Nullrunden und der Anwendung eines sogenannten demographischen Faktors.

Dieser Erosionsprozess wurde so weit und so lange betrieben, bis die Mehrheit erkennen musste, dass die Gesetzliche Rente für den Lebensabend nicht mehr ausreicht. Das war eine perfide Strategie. Sie ist übrigens immer noch zugange.

Das zweite Bein der Förderung der Finanzwirtschaft: Die private Vorsorge selbst wurde und wird vom Steuerzahler gefördert. Dafür hat man sich drei Modelle ausgedacht: die Riester-Rente, die Rürup-Rente und die Förderung der betrieblichen Altersvorsorge durch die sogenannte Entgeltumwandlung.

Das meint: Wenn ein Betrieb mit einer Versicherungsgesellschaft einen Vertrag für diese Art der betrieblichen Altersvorsorge abschließt, dann werden für die dafür herangezogenen Löhne und Gehälter keine Lohnsteuer/ Einkommensteuer und auch keine Sozialbeiträge abgezogen. Eine weitere Schwächung der Gesetzlichen Rente – neben allem andern.

Ein Riesengeschäft

Für die Finanzdienstleister und die Versicherungswirtschaft erwies sich dieser Coup als ausgesprochen attraktiv. 2005 verkündete einer der Hauptmatadore, der Finanzdienstleister Carsten Maschmeyer, nach der Verlagerung von der staatlichen zur privaten Altersvorsorge stehe die Finanzdienstleistungsbranche

vor dem größten Boom, den sie je erlebt hat“. „Sie ist ein Wachstumsmarkt über Jahrzehnte … .“ „Es ist … so, als wenn wir auf einer Ölquelle sitzen“, sagte Maschmeyer. „Sie ist angebohrt, sie ist riesig groß und sie wird sprudeln.“

Für die meisten Menschen, die zum Beispiel eine Riester- Rente abgeschlossen haben, erwies sich dies ganz und gar nicht als Geschäft, sondern als Flop. Das liegt schon daran, dass die privaten Vorsorgeprodukte und damit das Kapitaldeckungsverfahren sehr viel höhere Kosten verursachen als die Gesetzliche Rente und das Umlageverfahren – für den Betrieb, für die Werbung, für die Verwaltung.

Bei der Riester- Rente schwanken diese Kosten zwischen 10 und 25 Prozent. Die Deutsche Rentenversicherung kommt hingegen mit ca. 1 Prozent der Beiträge für Verwaltung und Betrieb der Gesetzlichen Rente aus.

Propaganda auf allen Kanälen

Neben der Lobbyarbeit war die Propaganda die wohl entscheidende Methode, um sowohl die Multiplikatoren in den Medien als auch eine große Zahl von Menschen für die Umstellung auf staatlich geförderte private Altersvorsorgemodelle zu gewinnen.

Am 1. Januar 2002 trat die Riester-Rente in Kraft, zugleich auch die anderen Elemente. Immer wieder während des ersten Jahrzehnts im neuen Jahrtausend haben private wie auch Öffentlich-rechtliche Medien Propaganda für die private Vorsorge gemacht, meist bei Nutzung des angeblichen Hauptarguments, des demographischen Wandels. Es wurde dramatisiert und gelogen.

Zwei beispielhafte Elemente dieser Kampagne sind hier wiedergegeben:

Die Agitation des Spiegel war bedrückend primitiv. In der Bild-Zeitung wurde die junge Generation gegen die ältere Generation ausgespielt – ein wiederkehrendes Motiv in vielen Publikationen und sogenannten Studien. Die Fernsehsender widmeten ganze Wochen dem Thema Demographie und Altersvorsorge. Und immer mit der gleichen Tendenz. Die Propaganda war so massiv, dass wohl die meisten Menschen nicht durchschauten, was eigentlich durchschaubar war.

Ausgestattet mit einer gehörigen Portion kritischen Verstandes kann man der Propaganda auf die Schliche kommen:

Wir werden immer älter? Das ist nichts Neues, das war in den letzten hundert und mehr Jahren immer zu beobachten. Die Lebenserwartung stieg. Und dennoch ist das Umlageverfahren und die Gesetzliche Rente damit fertig geworden, und sogar noch mit der Belastung von zwei Weltkriegen.

Wir werden immer weniger. Das stimmt nicht. 1950 lebten in Ost- und Westdeutschland zusammen 68,7 Millionen Menschen. 2003 waren es 82,5 Millionen und heute sind es noch mehr, rund 83 Millionen Menschen. Glaube wenig. Hinterfrage alles – das hätte einigermaßen vernünftige Leute überlegen lassen: Sind wir nicht ohnehin viel zu viele Menschen auf der Welt? Deutschland ist dicht bevölkert, mehr als doppelt so dicht wie Frankreich. Darf es nicht ein bisschen weniger sein?

Der Generationenvertrag trägt immer!? Immer müssen die lebenden arbeitsfähigen Menschen für die junge, noch nicht arbeitende Generation und für die alte, in die Rente gegangene Generation sorgen. Ob das gut gelingt, hängt von vielem ab. Zum Beispiel von der Erwerbsquote, also davon, ob alle Frauen, die gerne arbeiten wollen, auch wirklich die Möglichkeit dazu bekommen, und auch von der Höhe der Arbeitslosigkeit. Und vor allem, ist die Entwicklung der Arbeitsproduktivität entscheidend. Wer hinterfragt, hat schnell feststellen können: Produktivität schlägt Demographie.

Hinterfrage alles: Warum ist der Beitragssatz für die Gesetzliche Rente auf den Maximalwert von 20 Prozent fixiert worden? Auch das war ein Mittel, um die Leistungsfähigkeit der öffentlich organisierten Rente zu verringern.

Denke selbst – wer das tut, musste sich bei Einführung der Riester-Rente fragen, ob denn die 4 Prozent des Arbeitseinkommens, die dafür an die privaten Versicherer abgeführt werden mussten und müssen, nicht de facto eine Erhöhung des Beitragssatzes sind. In der Tat ist das so. Unsere Medien haben uns mehrheitlich nicht geholfen, diesen Trick zu durchschauen. Also: Denke selbst.

Jetzt hilft nur noch private Vorsorge? Wer kritisch hinterfragt, muss die Frage stellen, ob durch die Umstellung auf private Vorsorge irgendetwas an den demographischen Verhältnissen verändert werden kann. Werden dann mehr Kinder geboren?

Wer selbst denkt, kann feststellen, dass das Umlageverfahren der Gesetzlichen Rente eine vorzügliche gesellschaftliche Einrichtung ist und der demographische Wandel diese Bewertung keinesfalls außer Kraft setzt. Die gesamte Argumentation ist absurd. Das konnte man von Beginn an wissen, wenn man gründlich hinterfragte.

Albrecht Müller: „Glaube wenig, hinterfrage alles, denke selbst“. Westend. Oktober 2019. 144 S. 14 Euro.

 

Zuerst erschienen auf NORBERT HÄRING Geld und mehr

Norbert Häring ist seit 1997 Wirtschaftsjournalist. Vorher arbeitete der promovierte Volkswirt einige Jahre für eine große deutsche Bank. Er engagiert sich in der World Economics Association für eine weniger einseitige und dogmatische Ökonomik. Er ist Träger des Publizistik-Preises der Keynes-Gesellschaft und des Deutschen Wirtschaftsbuchpreises von getAbstract (Ökonomie 2.0).

Dieser Beitrag stellt ausschließlich die Meinung des Verfassers dar. Er muss nicht zwangsläufig die Sichtweise der Epoch Times Deutschland wiedergeben.


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