Haftpflicht für Abgeordnete: Sind sich unsere Politiker ihrer Verantwortung bewusst?
Für Bundestagsabgeordnete gilt die Verfassungsregel: „Sie sind Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen.“ Das lesen wir Bürger gerne. Denn das Grundgesetz folgt damit dem Bild des freien Mandats. Außenstehende sollen rechtlich keinen Druck auf die Entscheidungsfindung unserer Parlamentarier nehmen können. Der demokratisch vom Volk Gewählte soll nur unser Wohl im Blick haben. So weit, so gut.
Allerdings sind Menschen, die „nur ihrem Gewissen unterworfen“ sind, auch nur ihrem Gewissen verantwortlich. Welches Gefühl verbänden wir also mit der Vorstellung, dass das Grundgesetz beispielsweise dahin lautete, Abgeordnete seien „für die Konsequenzen ihres Handelns von niemandem rechtlich haftbar zu machen“? Ersichtlich klingt das merkwürdig. Es gibt den entsprechenden Gedanken des Artikels 38 unseres Grundgesetzes indes ebenso exakt wieder. Ist das gut so?
Zur Rechenschaft ziehen
Üblicherweise prüfen wir in unserem rechtlichen Gemeinwesen, ob Gesetzgeber, Verwaltungen und Gerichte sich in den Bahnen halten, die ihnen von der Verfassung vorgegeben sind. Alles Recht muss „verfassungsgemäß“ sein. Seltener wird geprüft, ob die Verfassung selbst „rechtmäßig“ ist.
Sind Verfassungsregeln einmal widersprüchlich, werden sie von Juristen so klug interpretiert, dass die Normenkollision beseitigt ist. Es gebe, sagt man dann, kein „verfassungswidriges Verfassungsrecht“.
Was aber, wenn man sich auf das intellektuelle Abenteuer einlässt, die Freistellung der Parlamentarier von aller rechtlichen Verantwortung auf ihre Übereinstimmung mit allgemeinen Rechtsprinzipien zu prüfen?
Überall dort, wo Menschen einander versprechen, etwas füreinander zu tun, werden sie in unserer Rechtsordnung an ihren Zusagen verbindlich festgehalten. Bevollmächtigte, die sich nicht an die Grenzen ihrer Vollmacht halten, werden dafür persönlich zur Rechenschaft gezogen.
Wer weniger liefert als er zu liefern versprochen hat, der muss für das Manko einstehen. Wer später leistet als zugesichert, der haftet dem anderen für die Konsequenzen. Wer nicht die Qualität bietet, die er zu erbringen in Aussicht gestellt hatte, der macht sich schadensersatzpflichtig. Kurz: Alle unsere zwischenmenschlichen Erwartungen im alltäglichen Rechtsverkehr basieren seit jeher zentral darauf, dass wir dem anderen glauben dürfen, was er uns sagt.
Mehr noch: Auch außerhalb des Vertragsrechtes haben sich alle an die allgemeingültigen Regeln zu halten, zum Beispiel im Straßenverkehr, und Abweichungen zu verantworten. Juristen sprechen vom Vertrauensprinzip.
Hätte Haftung für Politiker zur derzeitigen Überschuldung geführt?
Ist der Lebensbereich namens „Politik“ dem gesamten Rechtsverkehr im Übrigen so verschieden, dass legitim ist, seine Teilnehmer ganz anderen Regeln zu unterwerfen? Oder hat vielleicht gerade die beschriebene Haftungsfreistellung der Abgeordneten dazu geführt, dass die Bundesrepublik Deutschland – wie manche Experten sagen – rettungslos überschuldet ist?
Angenommen, der Staatshaushalt wäre tatsächlich mit Steuern oder sogar mit Zwischenfinanzierungen und Geldmengenausweitungen nie mehr in den Guthabenbereich zurückzuführen: Wäre das ebenso passiert, hätten die entscheidenden Politiker zu befürchten gehabt, für die Überforderung der Kassen persönlich einstehen zu müssen?
Ich stelle mir diese Frage seit einigen Jahren immer wieder. Und nachdem ich anfangs dachte, man könnte Abgeordnete vielleicht ebenso wie Gemeindevertreter oder Beamte nach sogenannten Amtshaftungsgrundsätzen zur Rechenschaft ziehen, ist mir heute klar: Nein, das geht nicht. Parlamentarier arbeiten kein festes Programm ab, das schon geschrieben ist. Sie sind vielmehr in der Position von Akteuren, die in Unsicherheiten hinein über Neues zu entscheiden haben.
Politiker sind vergleichbar mit Vorständen von Aktiengesellschaften
Ihre Lage entspricht also der von Vorstandsmitgliedern einer Aktiengesellschaft. Dort sagt das Gesetz: Vorstandsmitglieder haben die Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters anzuwenden. Eine Pflicht verletzen sie nicht, wenn sie bei einer Entscheidung vernünftigerweise und nachweislich annehmen durften, auf der Grundlage angemessener Information zum Wohle der Gesellschaft zu handeln.
Verletzen sie diese Pflichten, sind sie der Gesellschaft zum Ersatz des daraus entstehenden Schadens verpflichtet. Tritt eine Versicherung für Schäden ein, haben sie den Schaden mindestens bis zur Höhe des Eineinhalbfachen ihrer festen jährlichen Vergütung selbst zu tragen.
Wie stünde es heute wohl um unsere Bundes- und Landeshaushalte, wenn Abgeordnete nach diesen Regeln zu handeln gehabt hätten?
Welcher Parlamentarier hätte Stromausfälle riskiert, Gasengpässe, überhöhte Spritpreise, Ärztemangel oder Schulschließungen, leere Rentenkassen oder Wohnungsmangel, wenn er mit mehr als nur seinem Gewissen für die Folgen einzustehen gehabt hätte?
Mehr noch: Wenn Haftungsrecht nicht nur im Allgemeinen, sondern auch spezifisch in der Politik seinen qualitätssichernden und qualitätssteigernden Effekt auf die Verantwortlichen gehabt hätte, würden dann nicht auch explizit mehr Kenner und Könner in unseren Parlamenten sitzen?
Aufsichtsräte müssen einschreiten – in der Politik entspricht das der Opposition
Die Ausweitung der aktienrechtlichen Haftungsregeln auf unsere Parlamente endet übrigens nicht mit der Vorstandsverantwortung. Bemerken Aufsichtsräte in Aktiengesellschaften, dass Vorstände Fehler machen, haben sie einzuschreiten.
Diese Rolle käme im Parlament der Opposition zu. Mit jeder Kritik eines Oppositionsredners würden so der Sorgfaltsmaßstab und das Kennenmüssen der Regierungsmehrheit schärfer konturiert. Auch nur zu Protokoll gereichte Reden müssten von gewissenhaften Abgeordneten berücksichtigt werden.
Orientierten sich die Abgeordnetendiäten dann auch noch an dem Durchschnitt der letzten außerparlamentarischen Einkünfte eines jeden Volksvertreters, fielen gleichermaßen der Anreiz für ein Mehrverdienen wie auch die Abschreckung durch ein dort nur geringeres Einkommen fort.
In letzter Konsequenz beseitigt eine solche Verantwortungsstärkung der Parlamentarier sogar ein verfassungsrechtliches Kernproblem: Auch externe Politikberater haften bislang nicht für ihr Tun, weil ihre Auftraggeber nur dem eigenen Gewissen unterworfen sind.
Können Abgeordnete aber von Geschädigten verklagt werden, weil sie infolge fehlerhafter Informationen nicht zum Wohle der Gesellschaft entschieden haben, dann werden sie bei ihren beratenden Sachverständigen Haftungsrückgriff nehmen.
Damit sind methodische Abirrungen, wie sie beispielsweise der Evaluationsbericht des Sachverständigenrates für die Coronakrise nur im Nachhinein dokumentieren konnte, für die Zukunft unmöglich gemacht. Staatlich verursachte Fehler wie das Reißen von Lieferketten oder Blackouts wird kein Politikberater mehr riskieren.
Wo an die Stelle eines Primats der Politik eine Herrschaft des Rechts tritt, da enden die Unverantwortlichkeiten haltloser Ideologien insgesamt. Es braucht nur den Mut, das Recht unserer Demokratie fortzubilden und wirklich modern zu sein.
Über den Autor:
Carlos A. Gebauer arbeitet als Rechtsanwalt, Fachanwalt für Medizinrecht und Publizist in Düsseldorf. Er ist stellvertretender Senatsvorsitzender bei dem Anwaltsgerichtshof Nordrhein-Westfalen und Justiziar der Friedrich August von Hayek-Gesellschaft.
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