Kommt ein Börsen- oder Wirtschaftsabsturz, die Inflation oder der große Crash?
Das Kurs-Gewinnverhältnis (KGV) des wohl bedeutendsten Börsenindexes der Welt, des S&P 500, in dem die 500 wichtigsten börsennotierten US-amerikanischen Aktien abgebildet werden, befindet sich momentan mit gut 44 auf dem höchsten Stand der Geschichte: Für die letzten etwa 150 Jahre betrug das KGV im Durchschnitt etwa 16, der Median lag bei ungefähr 15.
Unter einem Wert von 10 gelten die Aktien als unterbewertet, über einem Wert von 20 bis 25 als überbewertet. Ein KGV von über 44, wie es derzeit der Fall ist, zeigt also im historischen Vergleich eine ungewöhnlich hohe Bewertung an.
S&P 500-KGV auf historischem Höchststand
Was heißt „KGV 44“? Das heißt, dass die Aktien im Durchschnitt 44-mal so viel kosten wie die ausgewiesenen Unternehmensgewinne der letzten zwölf Monate. Anders ausgedrückt: Pro Dollar Gewinn muss man an der Börse momentan 44 Dollar für eine Aktie zahlen, die Unternehmen würden also bei gleichbleibenden Gewinnen 44 Jahre brauchen, bis ein Dollar heute eingesetztes Kapital amortisiert wird. Im Durchschnitt der letzten 150 Jahre musste man nur 16 Dollar dafür zahlen.
Aktien sind heute also etwa 2,75-mal so teuer wie im Durchschnitt der letzten eineinhalb Jahrhunderte. Das letzte Mal, als die Aktien ähnlich hoch bewertet waren wie heute – das war im Sommer 2000 -, folgte ein Börsenabsturz von gut 40 Prozent über die nächsten etwa zwei Jahre.
Haben wir also heute, ähnlich wie im Jahr 2000, eine Blase mit kommendem Aktiensturz?
Die Aktien sind in den letzten Jahren viel schneller gestiegen als die Unternehmensgewinne. In den letzten drei Jahren sind die US-Unternehmensgewinne, abgesehen von einem kurzen Rückgang während der Lockdowns im ersten Halbjahr 2020, in etwa gleich hoch geblieben: Im ersten Quartal 2018 beliefen sich die corporate profits (annualisiert) auf 1.948 Milliarden Dollar, im ersten Quartal 2021 auf (annualisiert) 1.936 Milliarden. Im selben Zeitraum ist der S&P 500 aber um über 50 Prozent gestiegen, das KGV hat sich in diesen drei Jahren um fast 80 Prozent erhöht.
Deutlich steigende Aktienkurse bei gleichbleibenden Gewinnen sind ein Hinweis auf eine Aktienblase, auf heiße Luft bei den Bewertungen.
Was heißt „heiße Luft“? Wenn man als Anleger eine Aktie kauft, erwirbt man einen künftigen Zahlungsstrom, die künftigen Gewinne. Die erwartete Rendite auf die Anlage kommt aus Dividenden oder Kurssteigerungen. Für einen bestimmten künftigen Zahlungsstrom muss ich heute als Anleger aber beinahe dreimal so viel bezahlen wie im Durchschnitt der letzten 150 Jahre.
Trotzdem glauben meiner Einschätzung nach immer noch sehr viele Aktienanleger, dass die Rendite ähnlich sein wird wie in der Vergangenheit, sprich, dass die Kurse oder die Gewinne deutlich steigen werden. Das ist aber ein großer Irrtum, eine Illusion. Denn die Unternehmensgewinne belaufen sich derzeit auf etwa 10 Prozent vom US-Sozialprodukt und liegen damit auf einem historisch extrem hohen Wert, der kaum mehr nennenswert gesteigert werden kann.
Ich vermute, dass ein großer Teil der Inhaber von Aktiendepots in dieser Illusion lebt, der Illusion, dem Traum ständig weiter steigender Aktienkurse oder Dividenden. Wenn diese Illusion platzt, dann platzen auch die Aktienkurse.
Historisch hohe Preise für Wohn-Immobilien
Ähnliches wie für den S&P 500 gilt auch für die Wohn-Immobilienpreise in sehr vielen Industrieländern. Seit dem Platzen der letzten Immobilienblase 2007 sind die Haus- und Landpreise mittlerweile in den meisten Industrieländern wieder stark angestiegen und liegen heute nach Abzug der Inflationsrate meistens deutlich höher als 2007 (Economist Apr. 9th 2021).
Vor allem in jüngster Zeit schießen die Immobilienpreise teilweise dramatisch nach oben. Im April 2021 stieg der Median-Hauspreis (ohne Neubauten) in den USA um 19 Prozent gegenüber dem Vorjahr (Economist May 24th 2021).
Auch in Deutschland haben sich die Haus- und Wohnungspreise in den letzten 10 Jahren stark erhöht.
Vom ersten Quartal 2010 bis zum vierten Quartal 2020 stiegen die Immobilienpreise deutschlandweit um etwa 72 Prozent. Allerdings liegen die deutschen Hauspreise im internationalen Vergleich und vor allem gemessen am Einkommen der Menschen noch immer weit unter den Werten fast aller anderer Industrieländer. Deutschland ist in puncto Immobilienpreise trotz der Preissteigerungen der letzten 10 Jahre nach wie vor ein Schnäppchenland.
Was heißt „Blase“ oder Überbewertung?
Man kann die Hauspreise mit den Einkommen vergleichen. Dann bekommt man die sogenannte Erschwinglichkeit: Wie viele Jahre muss ein durchschnittlicher Arbeitnehmer oder ein Mensch mit Medianeinkommen arbeiten, um sich eine Wohnung kaufen zu können?
Da sehen wir, dass etwa in den USA die Bezieher von Medianeinkommen heute 35 bis 70 Prozent länger arbeiten müssen als 1960, um sich einen Quadratmeter Wohnung kaufen zu können. Das nähert sich wieder dem unhaltbaren Niveau von 2008, als es 45 bis 80 Prozent mehr als 1960 war. Wie sollen sich die jüngeren Menschen den Kauf eines Hauses leisten können, wenn sie immer mehr Stunden dafür arbeiten müssen?
Auch in Großbritannien hat sich die Erschwinglichkeit seit 2001 dramatisch verschlechtert. Statt gut vier Jahre um die Jahrtausendwende muss heute ein britischer Durchschnittsverdiener etwa acht Jahre arbeiten, um sich ein Haus kaufen zu können. Die Erschwinglichkeit in England war Ende 2020 so schlecht wie seit etwa 120 Jahren nicht mehr. Auch in Deutschland ist die Erschwinglichkeit seit etwa 2011 gesunken, ist aber immer noch extrem viel besser als in den 1980er-Jahren.
Oder man kann die Hauspreise ins Verhältnis zu den Mieteinnahmen setzen, dem sogenannten house-price-to-rent ratio. Auch hier sehen wir, dass in den letzten Jahren in fast allen Ländern die Hauspreise sehr viel stärker gestiegen sind als die Mieten, und zwar um 20 bis 30 Prozent. Das heißt aus Anlegersicht: Ich bekomme immer weniger laufende Rendite in Form von Miete auf mein eingesetztes Kapital.
Oder anders ausgedrückt: Ein Anleger muss heute einen deutlich höheren Preis für einen erwarteten Mietzahlungsstrom zahlen als vor ein paar Jahren. Die geringen Mieten werden, genauso wie die geringen Dividendenrenditen, so lange akzeptiert, so lange die Hauspreise ständig weitersteigen.
Das ganze „Spiel“ baut also in gewisser Hinsicht, ähnlich wie die Aktienmärkte, auf ständig weiter steigende Hauspreise. Auch hier wiegen sich meiner Einschätzung nach viele Hauseigentümer in einer Illusion. Sie glauben an einen höheren Wert ihrer Immobilie, als ihr nach den ökonomischen Grunddaten eigentlich zukommt.
Stehen wir also vor einer zweiten Immobilienblase wie 2007? Deren Platzen hat seinerzeit den weltweit schlimmsten Wirtschaftsabsturz der Nachkriegszeit ausgelöst, die „Great Recession.“
Ich glaube, sowohl an den Aktien- wie an den Wohnimmobilienmärkten stehen die Ampeln eher auf Rot als auf Gelb. Das gilt nicht für Gewerbeimmobilien. Dort gibt es seit den Lockdowns und das stark genutzte Homeoffice erhebliche Leerstände.
Hintergrund: Die Zinsen wurden nahe Null gehalten, historisch hohe Schulden
Der Schlüssel für die derzeit extrem hohen Aktien- und Immobilienbewertungen sind die Zinsen. Weil seit 2008 die Nominalzinsen von den westlichen Notenbanken über weite Strecken nahe null gehalten wurden und die Realzinsen daher über viele Jahre hinweg sogar negativ waren, war es extrem lohnend, Kredite aufzunehmen.
Das viele billige Geld hat seinen Weg an die Aktien- und Immobilienmärkte genommen. Weil man mit Anleihen und Schuldpapieren fast keine Renditen mehr erzielen konnte, ergoss sich das renditesuchende Kapital in Aktien- und Immobilieninvestments und hat deren Preise in unnatürliche Höhen getrieben. Solange der Nominalzins der Notenbanken nahe Null und der Realzins negativ bleibt, dürfte dies auch in Zukunft so weitergehen. Doch die Frage ist: Wie lange noch?
Als am 12. Mai 2021 mit 4,2 Prozent überraschend hohe Inflationszahlen aus den USA gemeldet wurden, gab es ein kurzes Börsenzittern, weil im Markt eine Anhebung der Notenbankzinsen befürchtet wurde.
Nachdem die US-Notenbank beteuert hatte, trotz der hohen Inflationsrate ihre Zinsen nicht anzuheben, erholte sich die Börse schnell wieder und die Party ging weiter. Diese kurze Episode zeigt aber gut, wie nervös die Aktienbörsen sind und wie sehr sie an den Niedrigzinsen der Notenbanken hängen. Eine signifikante Erhöhung der Leitzinsen dürfte die Börsen einbrechen lassen.
Der Hauptgrund dafür sind die historisch einzigartig hohen Schulden weltweit. Im Zuge der Corona-Lockdowns sind sie allein im Jahr 2020 von etwa 320 auf 360 Prozent der Weltwirtschaftskraft nach oben geschnellt. Wegen dieses riesigen Schuldenberges dürfte jede leichte Erhöhung der Notenbankzinsen schnell zu starken Kreditausfällen führen und dann die Börsen- und Immobilienpreise auf Talfahrt schicken.
Kreditfinanzierte Aktienkäufe
Aber nicht nur eine Zinserhöhung kann ein Erdbeben an den Finanzmärkten auslösen, sondern auch andere Schocks.
Für die Stärke der Kursschwankungen (Volatilität) an den Börsen besonders interessant ist der Umfang der kreditfinanzierten Aktienkäufe an der Wall Street (so genannte margin debt). Sie sind seit dem Ende des massiven, aber kurzen Lockdown-Börsencrashs im März 2020 um etwa 70 Prozent von rund 500 Milliarden auf 847 Milliarden Dollar im April 2021 und damit auf einen weiteren neuen Höchststand geklettert.
Das heißt, derzeit werden etwa 847 Milliarden Dollar Aktienkäufe nicht mit eigenem, sondern mit Fremdkapital finanziert. Auch wenn im Verhältnis zum S&P 500 der Anteil der kreditfinanzierten Aktienkäufe von 2007 bis 2019 höher war, zeigt der einzigartig rasante Anstieg in den letzten 13 Monaten, dass ein Teil des Börsenaufschwungs mit Schulden finanziert wurde.
Diese margin debt erhöht das Risiko von Börsenanlagen. Sie verstärken sowohl die Aufwärts- wie die Abwärtsbewegung und können daher einen einsetzenden Börsenabschwung leicht in einen Crash übergehen lassen. Alle drei größeren Börsenkorrekturen seit 2000 waren jeweils von einem starken Rückgang der margin debt begleitet, genauer gesagt: Die Rückforderungen der Kredite führten zu zusätzlichen Aktienverkäufen und beschleunigten dadurch den Abschwung.
Ein aktuelles Beispiel dazu von März 2021 ist Archegos. Ein einziger vergleichsweise kleiner Investor hatte sich verspekuliert, dadurch die Aktienkurse von zwei Großbanken auf Talfahrt geschickt und sogar die Börsenkurse insgesamt belastet. Einer der Gründe dafür war, dass Archegos stark kreditfinanzierte Börsengeschäfte gemacht hatte. Was passiert erst, wenn einmal ein Großinvestor auf dem falschen Fuß erwischt wird?
Auch der Bitcoin-Absturz Mitte Mai hatte Auswirkungen auf die Börsenkurse allgemein. Dadurch, dass einige Anleger kreditfinanzierte Geschäfte in Bitcoin eingegangen waren, kam es zu Kreditabzügen. Diese verstärkten den Kursverfall und lösten einen regelrechten Crash bei den Kryptowährungen aus, der auch auf die Aktienmärkte überschwappte. Die aktuelle Bitcoin-Entwicklung zeigt, dass ein Absturz auf einem Gebiet schnell auf andere Anlagegebiete übergreifen kann.
Dazu kommt: Die weltweiten Schulden der Unternehmen (ohne Banken und Versicherungen) belaufen sich derzeit auf 84.600 Milliarden Dollar oder 101 Prozent des Weltsozialproduktes. Sehr viele Unternehmensschulden haben ein schlechtes Rating (BBB oder schlechter). Einige Unternehmen sind sogenannte Zombie-Unternehmen, die eigentlich schon längst pleite wären, wenn die Zinsen nicht seit 13 Jahren so extrem niedrig gewesen wären.
Ähnliches gilt für den Immobilienmarkt. Fast alle Immobilien werden mit hohen Krediten finanziert. Wenn einmal eine Abwärtsbewegung bei den Immobilienpreisen einsetzt wie 2007, fallen schnell viele Kredite aus und wie in einem Schneeballsystem kann sich der Abschwung leicht auswachsen zu einem Immobilien-Crash.
Was kommt?
Ich fasse zusammen: Die Börsen- und Immobilienpreise sind wegen der jahrelang von den westlichen Notenbanken verfolgten Politik des Gelddruckens (Quantitative Easing) und künstlich extrem niedrig gehaltenen Zinsen heute durch die realen wirtschaftlichen Kräfte nicht mehr gerechtfertigt, die Preise sind zu hoch.
Viele Anleger leben in der Illusion, dass sie ihr verliehenes Geld komplett zurückbekommen werden und dass ihre Vermögenswerte, das heißt die Anleihen, Aktien und Immobilien tatsächlich so viel wert sind, wie auf dem Papier steht. Das sind sie aber schon längst nicht mehr.
Das Aufwachen wird schmerzhaft werden, denn nach allen Gesetzen der Ökonomie muss eine Bereinigung kommen. In den letzten Jahrzehnten, vor allem aber seit den Lockdowns, wurden zu viele Schecks auf die Zukunft gezogen. Wer wird die offenen Rechnungen bezahlen?
Ich sehe zwei Szenarien. Das erste ist Inflation.
Möglicherweise gelingt es den USA und vielleicht sogar dem Euro-Raum, über ein Jahrzehnt hinweg eine kontrollierte Inflation von acht bis 12 Prozent herbeizuführen. Damit könnten die Schulden auf ein erträgliches Maß reduziert werden. Die Last würden vor allem mittlere und kleinere Anleger tragen, die in Geld- und Schuldpapiere investiert haben, möglicherweise auch die Arbeitnehmer, wenn die Löhne nicht mit den Preisen Schritt halten. Gewinner wären alle Schuldner und alle, die Realvermögen besitzen.
Das zweite Szenario ist eine Börsen-, Schulden-, Banken-, Staats- und Wirtschaftskrise, also ein großer Crash.
Das würde zusammenbrechende Märkte und ein Millionenheer von Arbeitslosen bedeuten. Wenn das auf uns zukommt, dürfte auch der Euro auseinanderbrechen.
Gewinner und Verlierer eines Crashs
Ein Crash kann relativ leicht losgetreten werden. Ähnliches wie im September 2008, als eine Investmentbank – Lehman – in eine Schieflage geriet und den gesamten Markt mit nach unten riss, könnte diesmal auch wieder geschehen. In der derzeitigen überspannten, überbewerteten und nervösen Situation, in der mit großen Mengen von Schulden und riesigen Futures-Wetten operiert wird, kann leicht eine Abwärtslawine ausgelöst werden.
Bei einem großen Crash würde die Last von den vielen Millionen Arbeitslosen und von sehr vielen mittleren und kleinen Unternehmen getragen, die reihenweise pleitegehen würden.
Es gäbe aber auch Gewinner: Die meisten Groß- und Finanzkonzerne dürften davon mittelfristig profitieren, weil sie die Marktanteile der in Konkurs gegangenen Betriebe übernehmen könnten. John Pierpont Morgan hat das 1907 mit Bravour vorgemacht.
Aus Sicht von Groß- und Finanzkonzernen könnte ein Crash zum Auslichten des Gestrüpps an mittleren und kleinen Konkurrenten führen. Voraussetzung dafür ist jedoch, dass sie auf riesigen Bergen von liquiden Mitteln sitzen. Und genau das tun sie (Economist 9th Dec.2020).
Blickt man auf die Interessenlage einiger großer und wichtiger Player, spricht viel für das Szenario Crash.
Prof. Dr. Christian Kreiß, Jahrgang 1962: Studium und Promotion in Volkswirtschaftslehre und Wirtschaftsgeschichte an der LMU München. Neun Jahre Berufstätigkeit als Bankier, davon sieben Jahre als Investmentbanker. Seit 2002 Professor an der Hochschule Aalen für Finanzierung und Volkswirtschaftslehre. Autor von sieben Büchern, Einladungen in den Deutschen Bundestag als unabhängiger Experte (Grüne, Linke, SPD). Mitglied bei ver.di, Christen für gerechte Wirtschaftsordnung. Bundestagskandidat der Partei dieBasis. Seine Website: www.menschengerechtewirtschaft.de
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