Kulturkampf mit Utopia

Obwohl es im Westen keine Diktaturen wie in anderen Weltregionen gibt, keine vergleichbare Korruption, Armut oder Umweltverschmutzung wie in Afrika oder Asien, nehmen gerade in Europa und den USA die Proteste gegen Kapitalismus, freien Handel und den Klimawandel zu. Die Kinder des Wohlstands rufen nach einem Systemwechsel. Wie ist das möglich?
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Sonnenuntergang im Orbit.Foto: iStock
Von 3. April 2022

Es gibt einen sicheren Weg, eine gut funktionierende Familie zu ruinieren. Dazu muss man nur nach dem Prinzip Utopia vorgehen. Ich nehme meinen real existierenden Lebenspartner, der zwar liebevoll ist, aber nicht immer, zwar eine Hilfe, aber nicht immer – der also Fehler und Schwächen hat wie jeder Mensch – und vergleiche ihn mit einem idealen Traumpartner. Schon nimmt die Enttäuschung über den realen Partner zu. Das Gleiche mache ich mit meinen Kindern, Geschwistern, Eltern, Freunden. Verglichen mit Menschen aus der Traumfabrik mutieren alle realen Menschen zu Sonderlingen, Spießern und Gestörten. Verglichen mit der Utopie einer Familie ohne Abgründe sind wir alle irgendwie gestört. Der Wunsch nach einer besseren Familie ist nichts anderes als der Wunsch nach einer besseren Menschheit.

Wenden wir dieses Prinzip auf die gesamte Gesellschaft an, führt dies zu wachsender Empörung über die westliche Kultur. Wir entdecken immer neue Schattenseiten und Ungerechtigkeiten. Imperialismus, Raubtierkapitalismus, Frauenfeindlichkeit, Homophobie, Islamophobie: Die Liste lässt sich beliebig erweitern. Jedes real existierende Gesellschaftssystem ist mangelhaft und muss gegen Utopia verlieren. Und der Westen schneidet umso schlechter ab, je mehr man die Realität anderswo auf der Welt ausblendet.

Menschenrechte, Wohlstandsniveau, Radikalismus, Klimasünden, Feminismus in islamisch dominierten Ländern? Imperiales Gehabe und Klimasünden in China? Meinungsfreiheit in Russland? Nein, das ist nicht das Thema. Das darf nicht das Thema sein, denn verglichen mit dem Rest der Welt würde der Westen relativ gut abschneiden. Es würde sich zeigen: Jüdisch-christliche Werte, Liberalismus und Kapitalismus sind gar keine schlechten Grundlagen, um eine Gesellschaft zu gestalten.

Doch ein solcher Realvergleich der Kulturen ist nicht erwünscht. Lieber wird der real existierende Kapitalismus mit einem idealen, theoretischen Sozialismus verglichen, statt mit dem real existierenden Sozialismus à la Nordkorea oder Venezuela.

Ideologisch getriebene Narrative

In Europa und den USA leben einige politische Bewegungen davon, den Westen grundlegend infrage zu stellen. Bewegungen, die den medialen und kulturellen Mainstream prägen und Anklageschriften gegen alle möglichen Missstände vortragen. Missstände, die natürlich real sein können, aber gern ins Verdammenswerte überhöht werden, durch ideologisch getriebene Narrative von Aktivisten, Politikern, Professoren oder Kulturschaffenden.

Dies gelingt umso mehr, je konsequenter das „Utopia Prinzip“ angewendet wird. Zum Beispiel beim Thema Kapitalismus: Man prangert die Missstände einer liberalen Wirtschaftsordnung an, etwa das Fehlverhalten ausbeutender Arbeitgeber oder global agierender Konzerne. Dabei berücksichtigt man nicht die Vorteile freier Märkte oder des Schutzes von Privateigentum, die Wirkung freien Wettbewerbs auf kreative Forschung, Erfindungen oder Massenwohlstand. Man vergleicht dies nicht mit der Realität in sozialistischen, kommunistischen oder islamischen Ländern. Man fragt nicht, wie es um technischen oder medizinischen Fortschritt, um Massenwohlstand oder individuelle Freiheit in nicht-kapitalistischen Ländern bestellt ist. Man versucht nicht zu sehen, welches System für das Leben der Mehrheit besser ist. Sondern man vergleicht die Realität der westlichen Gesellschaft mit einer utopischen, von Unrecht und Armut vollends gereinigten Gesellschaft.

Das Gleiche beim Thema Rassismus oder Frauenrechte: Man kämpft gegen Rassisten oder Sexisten und blendet aus, dass es im Westen – weltweit gesehen – mit Abstand am wenigsten Rassismus und Sexismus gibt. Und beim Thema Klimawandel vergleicht man die westlichen Umwelt-Standards nicht mit den Standards in China, Indien oder Russland. Sondern man fragt: Wie lange dauert es, bis Europa und die USA emissionsfrei sind?

Dabei dominiert eine sogenannte „Non-Human-Perspective“. Das bedeutet: Man beurteilt die Auswirkungen der Menschheit auf die Umwelt nach dem utopischen Ideal einer Umwelt ohne Menschen und ihre Maschinen. Man fragt nicht: Wie viele Jobs, wie viel Gesundheit und Schutz gegen Kälte und Sturm bringen geheizte Häuser in Entwicklungsländern? Wie viele Millionen von Leben werden gerettet, wie viel Grundversorgung und Sicherheit geleistet durch die Energiewirtschaft seit Beginn der industriellen Revolution? Wie groß ist der medizinische Fortschritt seit Beginn der Chemieindustrie? Das interessiert nicht, sondern man fragt: Wie wäre es, wenn alle diese Techniken und Umweltbelastungen nicht wären? Ginge es dem Wald, dem Meer und allen Tieren nicht besser? Und letztlich: Können wir nicht so leben, als wären wir gar nicht da, damit der Planet seine Ruhe hat? Auch hier also die Utopie eines unberührten Paradieses für Tier und Umwelt, ohne die Zumutungen real menschlicher Zivilisation, die im Grunde verachtet wird.

Übermacht eines Nanny-Staates

Der Glaube an Freiheit und Selbstverantwortung, an die Gestaltungskraft des Einzelnen scheint bereits so schwach, dass sich viele nicht mehr an aufklärerischen Werten wie der Mündigkeit des Menschen orientieren, sondern auf die Programme eines mit Experten ausgestatteten Nanny Staates setzen, der das Management unserer Gesundheit übernimmt, unserer Kollektivmoral, unserer Umwelt und Gruppenidentität, eingeteilt nach Herkunft, Hautfarbe und gefühltem Gender-Status.

Es stellt sich die Frage, was liberale und bürgerliche Kräfte in dieser Stimmung des Freiheitspessimismus tun können. Bislang fällt auf, dass es in großen öffentlichen Foren nur wenig Widerstand dagegen gibt. Bürgerlich-liberale Akteure wie auch große Unternehmen wirken eher opportunistisch und suchen Zuflucht in nobler Zurückhaltung. Wie könnten sie öffentlich mehr Überzeugungskraft gewinnen? Vielleicht würde es helfen, konsequent die Utopia-Methode als argumentativen Taschenspielertrick zu entlarven, immer und immer wieder.

Politik darf nicht an Utopien gemessen und vom Standpunkt einer Wunschmenschheit aus beurteilt werden. Vielmehr soll Politik mit der potenziellen Größe und den potenziellen Abgründen des realen Menschen rechnen und ihm bestmöglich dienen. Politik, verstanden als nüchternes Handwerk im Machtspiel der Interessen, wäre die Grundlage für solch einen Dienst. Auf Leidenschaft und Engagement kann natürlich nicht verzichtet werden. Doch auch Leidenschaft und moralische Überzeugungen benötigen Bodenhaftung. Und es gehört zu einer demokratischen Bodenhaftung, mit der Politik nicht den Himmel auf Erden zu versprechen, wie es totalitäre Regimes tun.

Winston Churchill hat einmal gesagt: „Die Demokratie ist die schlechteste Staatsform, abgesehen von allen anderen.“ Das ist ein brauchbarer Ansatz, um die Errungenschaften der westlichen Kultur zu verteidigen: Liberalismus und Kapitalismus sind die schlechtesten Systeme, um eine Gesellschaft zu gestalten, abgesehen von allen anderen.

Giuseppe Gracia (54) ist Schriftsteller und Kommunikationsberater. Sein neues Buch „Die Utopia Methode“ (Fontis Verlag, 2022) beleuchtet die Gefahren utopischer Politik.

Dieser Beitrag stellt ausschließlich die Meinung des Verfassers dar. Er muss nicht zwangsläufig die Sichtweise der Epoch Times Deutschland wiedergeben.


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