Wie die EU sich selbst zerlegt

"Der Europäische Traum ist ausgeträumt und Schuld daran ist die EU selbst", so der niederländische Journalist Geert Mak. Auf allen wichtigen Politikfeldern habe die EU versagt, von der gemeinsamen Währung bis zu den inneren Grenzen und einer eigenen Verfassung. Vera Lengsfeld beschäftigte sich mit seinem neuen Buch "Große Erwartungen" und empfiehlt: Selbst lesen.
Titelbild
Straßburg, Frankreich - 13. September 2019: Der Europapalast ist ein vom französischen Architekten Henry Bernard entworfenes Gebäude, das seit 1977 den Sitz des Europarates beherbergt.Foto: iStock
Von 4. November 2020

„Große Erwartungen – Auf den Spuren des Europäischen Traums (1999-2019)“ heißt das neue Buch des niederländischen Journalisten Geert Mak, das vor wenigen Wochen in deutscher Auflage erschien. Es ist die Analyse eines linken Europaenthusiasten, dessen Augen offen und Denken nicht ideologisch vernebelt ist. Was man einem EU-Gegner nicht unbedingt abnehmen würde, erhält hier eine besondere Glaubwürdigkeit. Es ist schwer, ein 600-Seiten-Werk in einer notgedrungen kurzen Rezension abzuhandeln. Deshalb kann ich an dieser Stelle schon dringend empfehlen, das Buch selbst zu lesen. Man wird noch viel Wissenswertes finden, das ich aus Platzgründen nicht erwähnen kann.

Mak ist, nachdem er zehn Jahre kreuz und quer durch Europa gereist ist, mit unzähligen Menschen gesprochen, europäische Presse, auch lokale, ausgewertet und immer wieder Anspruch und Wirklichkeit verglichen hat, nicht nur ernüchtert, sondern pessimistisch. Der Europäische Traum ist ausgeträumt und Schuld daran ist die EU selbst.

„Gut ein halbes Jahrhundert nach der Montanunion hatte sich das Europa der Behörden in vieler Hinsicht zu einer amorphen Technokratie entwickelt. So gut wie alles war bis ins kleinste Detail berechnet und ausgehandelt worden – von der Zubereitung von Ziegenkäse in Frankreich bis zur Länge der Leitern von Fensterputzern in Amsterdam. So war das Europa der Behörden eine Art umgekehrter Föderation: Auf Gebieten, auf denen eine Föderation stark ist – Steuerpolitik, Außenpolitik, innere Sicherheit, Verteidigung – war Brüssel schwach, dafür aber oft gerade bei Dingen bestimmend, die eine normale Föderation den Einzelstaaten überlässt – Leitern und Ziegenkäse.“

Zugleich ist die EU ein System, „in dem man viele der Regeln in entscheidenden Momenten nicht durchsetzt. So wurden zum Beispiel die Dublin-Verordnungen zur Durchführung von Asylverfahren oder die Regeln zum Schuldenstand und der Nettoneuverschuldung permanent und systematisch umgangen.“ Vertrauen kann eine solche Politik nicht schaffen.

Auf allen wichtigen Politikfeldern hat die EU versagt: Die gemeinsame Währung wurde eingeführt, ohne eine gemeinsame Wirtschafts- und Finanzpolitik zu haben, die offenen inneren Grenzen geschaffen, ohne einen gemeinsamen Schutz der Außengrenzen vereinbart zu haben. Der Versuch, sich eine gemeinsame Verfassung zu geben, scheiterte, weil die Bürger vieler Länder nicht bereit waren, ihre Souveränität an Brüssel abzugeben. Stattdessen wurde im Eiltempo unter der Federführung der Kanzlerin Angela Merkel der Vertrag von Lissabon aufgesetzt.

„Allerdings wurde dieser Vertrag im Namen der Mitgliederstaaten geschlossen, die europäischen Bürger hatten kein unmittelbares Mitspracherecht mehr. Die Idee einer direkten Einflussnahme von unten nach oben wurde aufgegeben.“

Dieser Vertrag enthielt keine Ansätze zur Weiterentwicklung der EU mehr. So blieb das europäische Projekt „verschwommen, schwer greifbar, unendlich kompliziert“. Kein Wunder, dass die „Lissabon-Strategie“ von 2000, die EU bis zum Jahr 2010 zum „wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensgestützten Wirtschaftsraum der Welt“ machen sollte, krachend gescheitert ist. Inzwischen kann die EU nicht einmal eine so einfache Aufgabe, wie die vom Europa-Parlament beschlossene Abschaffung der Zeitumstellung lösen, geschweige denn die Migrationsfrage.

Der EU ist es nie gelungen, „eine konsequente gemeinsame Flüchtlingspolitik, einschließlich wirksamer Kontrolle der Außengrenzen und der Einrichtung von Meldezentren für Flüchtlinge und Migranten zu beschließen und umzusetzen.“

Dabei sieht Mak auch die Seenotretter kritisch: „Das Schleppergewerbe war aktiver denn je, wobei auch Regierungen und Hilfsorganisationen aus ganz Europa eine Rolle spielten. Rettungsschiffe nahmen Zehntausende Bootsflüchtlinge auf, und weil die Schlepper das zunehmend einkalkulierten, trugen Seenotretter ungewollt dazu bei, dass Menschen auf die lebensgefährliche Reise geschickt wurden.“

Interessant ist in diesem Zusammenhang, wie Mak die deutsche „Flüchtlingspolitik“ einordnet. Als 2015 Kanzlerin Merkel die Grenzen für alle öffnete, auch diejenigen ohne oder mit sichtbar gefälschten Papieren, löste sie damit eine Willkommenskultur aus, die Mak erklärt als „unerwartete, außerordentlich emotionale Abrechnung mit der deutschen Vergangenheit“. Allerdings sieht er es als „verhängnisvollen strategischen Fehler“, nicht klargestellt zu haben, dass es sich um eine einmalige Ausnahme handelte und der Ministererlass in Kraft blieb, übrigens bis heute. Dass inzwischen weniger Migranten kommen, ist Politikern wie Sebastian Kurz zu verdanken, der die Initiative ergriff und die sogenannte „Balkanroute“ schloss.

Verheerend für Europa hat sich die Weigerung ausgewirkt, zwischen politisch Verfolgten, Bürgerkriegsflüchtlingen und Migranten zu unterscheiden. Nichts hat die EU so auseinanderdividiert, wie die Migrationsfrage. Eine Folge des Alleingangs der Kanzlerin war, dass der Eindruck entstand, die EU und die europäischen Politiker hätten die Kontrolle verloren. Überall wurde die Wiedereinführung von Grenzkontrollen gefordert.

„So geriet nach dem Euro auch die andere bedeutende europäische Errungenschaft, die offenen Grenzen der Schengener Abkommen in Gefahr.“

Eine Verteilung der Migranten lehnten die meisten Staaten der EU ab.

Konnte nach dem Fall des Eisernen Vorhangs eine europäische Identität entstehen? Die Pioniere der europäischen Einigung hatten das gehofft. Mak resümiert, dass nach den Krisen der letzten beiden Jahrzehnte, von europäischer Identität keine Rede sein kann.

Aber er sieht Hoffnungsschimmer: Die EU trat den marktbeherrschenden IT-Giganten gemeinsam gegenüber, einigte sich auf eine gemeinsame Klimapolitik und demonstrierte beim Brexit Geschlossenheit. Daneben entsteht heute durch das Internet eine moderne europäische Agora, Mak nennt es „Kaffeehaus mit permanenter öffentlicher Diskussion“. Ob diese Ansätze ausreichen, werden die nächsten Jahre entscheiden.

Die Corona-Krise stellt die EU jedenfalls vor ganz neue Herausforderungen. Mak teilt die Meinung, dass die Pandemie die seltene Gelegenheit böte, „den Gesellschaftsvertrag zugunsten jener zu revidieren, die bisher ausgeschlossen“ waren und diejenigen „zurückzupfeifen, die sich heute dank unseres Steuersystems fest eingebürgerter Privilegien erfreuen“. Ob das auch der Traum derer ist, die, mit dem Milliardär Klaus Schwab an der Spitze, heute die „Große Transformation“ nach Corona fordern, darf bezweifelt werden. Mak zweifelt selbst. Er stimmt den Historikern zu, die die heutige Situation mit der vor dem Ersten Weltkrieg vergleichen, in der es Jahre der problemlosen Globalisierung gab, die dann von den „Schlafwandlern“ (Christopher Clark) durch den Ersten Weltkrieg abrupt beendet wurde.

„Manches deutet darauf hin, dass wir nach der Pandemie in einer Welt mit weniger Wohlstand, weniger Freiheit und weniger Offenheit leben werden.“

Leider kann ich Mak nicht widersprechen.

Bestellbar bei Amazon unter Geert Mak: Große Erwartungen.

Zuerst erschienen bei www.vera-lengsfeld.de  am 1. November 2020.

Dieser Beitrag stellt ausschließlich die Meinung des Verfassers dar. Er muss nicht zwangsläufig die Sichtweise der Epoch Times Deutschland wiedergeben.


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