Wohin steuern wir in unserer gesellschaftlichen Entwicklung?

Rechtsanwalt Dr. Alexander Christ analysiert die derzeitige Situation um den Corona-Lockdown.

Unsere derzeitige Situation ist eine Situation des gesellschaftlichen Ausnahmezustandes, ein zunächst momentaner Ausnahmezustand, der in einen permanenten Ausnahmezustand überzugehen droht.

Schon seit Jahrzehnten befinden sich die westlichen Demokratien in einer fortschreitenden Legitimitätskrise und gleichzeitig Repräsentationskrise, die sie insbesondere durch Schaffung eines künstlichen Notstands und das daraus hervorgehende Sicherheitsbedürfnis zu kompensieren versuchen. Verbindendes Element zwischen Notstand und Sicherheitsbedürfnis ist dabei ein enorm hohes Angstpotential in der Gesellschaft.

Norbert Bolz spricht von „Notsüchtigen“[1], Rainer Mausfeld beschreibt Angst und Macht als gängige Herrschaftstechnik in kapitalistischen Demokratien.[2]

Die Regierungen regieren aktuell aus Gründen eines „Hygieneregimes des Lockdowns“ und der vorgeblichen öffentlichen Sicherheit durch eiligst verabschiedete Notverordnungen, unter Verwendung von Verfahren, durch die die bislang geltenden Paradigmen der bürgerlichen Demokratie mit unverletzlichen Grundrechten, Bürgerrechten und Parlamentsrechten völlig aufgegeben werden. Dabei werden auch bisher geltende Gepflogenheiten der politischen Kultur suspendiert.

Zur Begründung für dieses Vorgehen wird ein dramatischer politischer und gesellschaftlicher Paradigmenwechsel vollzogen. Gesundheitsfürsorge wird in Gesundheitsterror, Gesundheitspflicht und Gesundheitsreligion umgewandelt.

Das Recht auf Gesundheit wird zur Pflicht zur Gesundheit. Wissenschaftsdiskurs wird zu Wissenschaftsdiktat von Einzelpositionen ohne jeglichen kritischen und ergebnisoffenen Diskurs. Das Paradigma des kurativen Verhältnisses wird transformiert in eine Selektionsfunktion im Rahmen des Hygieneregimes. Der Kranke erscheint ausschließlich noch als Störenfried im System der Hygiene.

Dem Arzt wird nunmehr die Rolle des Detektiv zugewiesen, der die Aussonderung der Kranken zu betreiben hat. Die bislang kurative Bedeutung des Arztberufs wird in eine hygienisch–selektive, technokratische und impfend-präventive Rolle verkehrt.

Bis dato mündigen Bürgern und Patienten wird ihre natürliche Urteilskraft entzogen und eine „Expertokratie“ installiert, die allein die neuen Regeln vorgibt.[3] Der Patient weiß sich dabei jedoch nicht länger unter dem Schutzschild des Arztes seines Vertrauens in Sicherheit, sondern muß sich staatlichen Hygieneregeln unterwerfen, die in einem diametralen Gegensatz zu natürlichem Menschenverstand, wissenschaftlichen Erkenntnissen und den durch den behandelnden Arzt festgestellten individuellen Befunden stehen.

Gleichzeitig werden menschliche Beziehungen in „soziale Distanzierung“ umgewertet und damit aufgelöst. Wo Bürger de facto als ständiger „Gefährder“ betrachtet werden, lautet das Verhaltensprinzip in der Krise, in der sich historisch ein Zusammenstehen bewährt hatte, stattdessen nun Abstand statt Nähe. Menschliche Wärme, Nähe und Identifikation werden Maschinenfunktionen ersetzt.

Das Projekt der menschlichen Selbstgestaltung ist rückgebunden an das, was als unverfügbare Natur uns immer wieder überwältigen kann. Diese Aufgabe und die Verantwortung werden dem Menschen durch eine politische Entscheidung der Machthaber auf bevormundende Art entzogen. Um mit Gernot Böhme zu sprechen, der Mensch verliert seine betroffene Selbstgegebenheit, die menschliche Natur wird vollständig objektiviert.[4]

Während der Mensch vormals als selbst seine Natur erleidendes Wesen gesehen wurde, das sich in der Krankheitssituation unter den Schutz des vertrauten Arztes begibt, aufgrund dieses Nähe- und Vertrauensverhältnisses eben dort Heilung sucht, und sich in dieser Vertrauensbeziehung sicher aufgehoben weiß, wird genau diese von Vertrauen geprägte Beziehung nun polizei-staatlich aufgebrochen, und es gilt in der gegenwärtigen Gesellschaft offenbar kein anderer Wert mehr als das eigene Überleben.

Ärzte erhalten gegenwärtig eine neue, politisch vorgegebene Funktion, ganz in Übereinstimmung mit der politisierten Medizin. Uns wird vorgegeben, wir müssten das Leben suspendieren, um das Leben zu retten.[5]

Nähe und Vertrauen sind aufzugeben und haben Abstand und Mißtrauen zu weichen. Und mehr noch: der Arzt und sein Eid – sie sind plötzlich anzweifelbar und stehen unter Rechtfertigungsdruck.

Ebenso wie der Jurist und sein juristischer Sachverstand – weichen sie vom staatlich vorgegebenen „neuen Normal“ ab, das tatsächlich keine ausreichende allgemeinkonsensfähige rechtliche Basis hat, werden sie als Teil einer „Verschwörungstheorie“ etikettiert. Rechtsstaatliche Verfahren – sie werden lediglich simuliert.

Durch die öffentliche Verfolgung von Ärzten unter dem Vorwand von Regelverletzungen wird dem Patienten sein Schutzschirm und „Nothelfer“ entzogen, was letztlich ein weiterer wirkungsvoller Beitrag zur Vereinzelung darstellen soll und den Patienten tiefer in den Kampf ums nackte Überleben zwingt.

Hier schließt sich der Kreis mit der eingangs beschriebenen Herrschaftstechnik von Angst und Macht.[6] Für Hannah Arendt heißt Menschsein „soviel wie unter Menschen weilen“ und „Sterben so viel wie aufhören unter Menschen zu weilen.“[7]

Der Beurteilungsspielraum eines Arztes ist jedoch grundsätzlich unangreifbar, ebenso wie Grundrechte und Menschenwürde niemals suspendierbar sein können. Letztlich sind die Natur und die Grundrechte, nicht die Politik, „alternativlos“.

Rechtsanwalt Dr. Alexander Christ: Jahrgang 1966, Studium der Rechtswissenschaft, Politikwissenschaft, Philosophie und Neuere Deutsche Literaturwissenschaft, Promotion über die Gewaltenteilungslehre von Montesquieu, Rechtsanwalt seit 1995, Kanzlei in Berlin, Fachanwalt für Arbeitsrecht.

[1] Norbert Bolz, Avantgarde der Angst, Berlin 2020, S. 106 ff.
[2] Rainer Mausfeld, Angst und Macht, Frankfurt a.M. 2019
[3]  Matthias Burchardt, Versuch über den Homo Hygienicus, zitiert aus dem Manuskript, 2020 — https://www1.wdr.de/radio/wdr5/sendungen/neugier-genuegt/redezeit-matthias-burchardt-102.html
[4] Gernot Böhme, Ethik leiblicher Existenz, Frankfurt a.M.2008, S. 165 ff, insbesondere S. 177/178
[5] Zum Ganzen siehe Giorgio Agamben, An welchem Punkt stehen wir? Die Epidemie als Politik, Wien 2021
[6] Vgl. Hannah Arendt, Elemente totaler Herrschaft, Frankfurt a.M. 1958
[7] Hannah Arendt, Vita activa oder Vom tätigen Leben, Stuttgart 1960, S. 15

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