Sarrazin: Die Herrschaft des Unrechts frisst ihre Kinder
Seit Mitte April 2018 beschäftigt in Deutschland der sogenannte Asylskandal in wachsendem Umfang Politik, Medien und Bürger. Schon seit längerer Zeit, so der Verdacht, wurden in der Außenstelle Bremen des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF) Asylbescheide unrechtmäßig ausgestellt. Daran sollen die frühere Leiterin der Außenstelle, aber auch bestimmte Anwälte beteiligt gewesen sein. Es soll auch Geld geflossen sein, es ist also Korruption im Spiel.
Dass etwas nicht in Ordnung war, fiel im benachbarten Niedersachsen auf, und ein Brief des niedersächsischen Innenministers Pistorius brachte die öffentliche Debatte schließlich ins Rollen. 18.000 Asylentscheidungen sollen betroffen sein. Im BAMF waren die Probleme schon länger bekannt. Eine frühere Leiterin der Außenstelle war schon 2016 abgelöst worden, und im Februar 2017 empfahl ein Abteilungsleiter des BAMF schriftlich, bei der Aufklärung Vorsicht walten zu lassen, um das Image des BAMF nicht zu beschädigen.
Das BAMF und seine Außenstellen unterstehen dem Bundesinnenminister. Der heißt seit dem 14. März Horst Seehofer. Am 6. April besuchte er das BAMF und lobte dessen Arbeit. Die Leiterin Julia Cordt sagte ihm offenbar nichts von den Skandal-Vorgängen in Bremen, und die neue Leiterin der Bremer Außenstelle, die den Minister informieren wollte, kam an ihn nicht ran. Ihre Brandbriefe blieben bei einem seiner sieben Staatssekretäre stecken. Schließlich wurde sie nach Bayern versetzt, damit sie den Verwaltungsablauf nicht weiter störte.
Ein Abgrund des Versagens
So blieb der frischgebackene Minister wochenlang über den anderthalb Jahre alten Skandal in seinem wichtigsten Aufgabengebiet uninformiert. Aber auch sonst ist immer noch unklar, wer wann was wusste und wie groß der Skandal eigentlich ist.
Zu einem Abgrund des Versagens wird der Skandal erst, wenn man ihn in einen größeren zeitlichen und sachlichen Zusammenhang stellt: Schon traditionell galt das BAMF als schlecht ausgestattet und mit Funktionsmängeln behaftet. Als Angela Merkel Anfang September 2015 die Grenzen öffnete und der damalige Innenminister Thomas de Maizière die Weisung gab, niemanden an der Grenze abzuweisen und jeden ins Land zu lassen, der das Wort Asyl aussprach, dauerte es nur wenige Tage bis zum administrativen Zusammenbruch des Amtes. Der damalige Präsident des Bundesamtes wurde krank und ist seitdem aus der Öffentlichkeit verschwunden. Die Behörde wurde dem Präsidenten der Bundesagentur für Arbeit unterstellt, und dieser berichtete hinfort an Peter Altmaier, den Kanzleramtsminister und Merkel-Vertrauten. Innenminister de Maizière war kaltgestellt.
Horst Seehofer bestellte beim Verfassungsrechtler Udo di Fabio ein Gutachten, wonach die Grenzöffnung unrechtmäßig war, und beklagte im Februar 2016 in Bezug auf Angela Merkels Flüchtlingspolitik „eine Herrschaft des Unrechts.“ Zwei Jahre später, mittlerweile arg gerupft und in Bayern entmachtet, trat er in Berlin die Nachfolge des glücklosen Thomas de Maizière an und wurde selber Bundesinnenminister. Nun hatte er die Chance, die „Herrschaft des Unrechts“ zu beseitigen und den Missbrauch des Asylrechts einzuschränken.
Genau besehen, war sein Amtsvorgänger übrigens so glücklos nicht, mindestens mit seiner Ablösung im Zuge des Regierungswechsels hatte er Glück. Der Asylskandal entstand in seiner Amtszeit, ohne dass jemand davon wusste. Als Amtsinhaber wäre er jetzt nicht mehr haltbar.
Massenhaften Asylbetrug gab es schon länger
Gegenwärtig ist noch offen, ob Seehofer seinen Umgang mit dem Skandal politisch überlebt: Es ist ja schon lange bekannt, dass es nach der Öffnung der Grenzen massenhaften Asylbetrug gab. Menschen ohne Ausweis behaupteten, kriegsverfolgte Syrer zu sein, und niemand konnte ihnen das Gegenteil beweisen. Die Ämter waren dreistesten Betrügereien wehrlos ausgeliefert. Oft hatte man aber auch den Eindruck, dass sie sich gar nicht weiter wehrten.
Wie soll man aber auch einem einfachen Mitarbeiter vor Ort vermitteln, dass es einerseits die Moral und die Willkommenskultur erforderlich machen, möglichst viele fremde Menschen ungeprüft nach Deutschland zu lassen, anderseits aber er, der Mitarbeiter, durch rechtsfehlerfreie Bescheide den Anschein von Recht und Ordnung erwecken solle. Wenn sie genau nachdenken, müssen sich die Mitarbeiter vorkommen wie in einer zynischen Scharade. Ist es da nicht lässlich, ein Auge zuzudrücken und ein bisschen die Hand aufzuhalten, wenn man so Menschen in Not hilft, im ersehnten Deutschland zu bleiben?
Wo hört das Recht auf und fängt das Unrecht an? Wenn eine Bundeskanzlerin und ein Bundesinnenminister die Anwendung des Asylparagraphen im Grundgesetz außer Kraft setzen, wenn der Bundestag dies nicht missbilligt, wenn kaum einer von denen, die zu Unrecht in Deutschland sind, je wieder abgeschoben wird, wer wird sich dann darüber erregen, dass einige tausend Asylbewerber in Bremen einen Asylbescheid statt einer Abschiebeverfügung erhielten, wenn sie doch wegen der Vollzugsdefizite der deutschen Asyl- und Flüchtlingspolitik sowieso im Lande bleiben?
Seehofer muss die Problematik von Asyl und Einwanderung ganzheitlich lösen, andernfalls wird er scheitern. Aber dazu fehlen ihm offenbar die geistige Spannkraft und der politische Mut.
Im Original erschienen in Die Weltwoche
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