Ukraine: Selenski geht als Favorit in die Stichwahl – Neue Ära oder weitere Enttäuschung?

Die erste Runde der Präsidentenwahl in der Ukraine hat Kabarettist Wolodymyr Selenski mit deutlichem Vorsprung gewonnen. Nur noch außergewöhnliche Umstände können seinem Rivalen Petro Poroschenko noch eine zweite Amtszeit ermöglichen. Was sich mit Selenski ändern wird, ist noch offen. 
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Der Amtssitz des ukrainischen Präsidenten in Kiew.Foto: istock
Von 2. April 2019

Am 21. April werden die Bürger der Ukraine in jenen Teilen des Landes, die unter der Kontrolle der Regierung stehen, in einer Stichwahl ihren Präsidenten bestimmen. Die erste Runde am vergangenen Sonntag (31. März) hatte mit einem Erdrutschsieg des Kabarettisten und politischen Quereinsteigers Wolodymyr Selenski geendet.

In den USA war es noch ein bloßes Gedankenspiel: Anfang 2016 erklärten einer Umfrage zufolge 45 Prozent der befragten Amerikaner, sie würden angesichts des absehbaren Teilnehmerfeldes den fiktiven Charakter Frank Underwood aus der Netflix-Serie „House of Cards“ zum Präsidenten wählen, wäre er ein realer Präsidentschaftskandidat.

In der Ukraine trat mit Selenski tatsächlich der Hauptdarsteller der Serie „Diener des Volkes“ an, der darin den Präsidenten Wassili Holoborodko spielt. In der Serie ist der Protagonist ein einfacher Lehrer, den seine Schüler über soziale Medien zum Hoffnungsträger hochpushen und der, nachdem er ins höchste Staatsamt gewählt wurde, dort mit der Korruption aufräumt und das Land zu einem Vorzeigemodell in der Welt macht.

Mit mehr als 30 Prozent der abgegebenen Stimmen übertraf Selenski selbst die gewagtesten Prognosen der Meinungsforscher. In Provinzen wie Dnipropetrowsk kam er beim ersten Antreten gar auf 45,3 Prozent, in Odessa auf 41,1, in Mykolajiw auf mehr als 40.

Amtsinhaber Petro Poroschenko konnte – neben einzelnen Kleinstädten an der ostukrainischen Front wie Wolnowacha, wo er 73 Prozent erzielte – nur im Westen des Landes noch einen deutlichen Vorsprung verbuchen. Seine dortiger Rückhalt ging auf Kosten der Nationalisten.

Ultranationalisten bleiben völlig bedeutungslos

Obwohl die „Swoboda“-Partei in Provinzen wie Lemberg (Lwiw) oder Ternopil auf kommunaler Ebene sogar in der Lage ist, Mehrheiten zu erringen, kam ihr Kandidat Ruslan Koschulynskyj landesweit nur auf 1,6 Prozent – und blieb auch in den westlichen Provinzen deutlich unter zehn Prozent. Auch die militanten Gruppen wie „Rechter Sektor“, C14 oder Nationales Korps hatten ihn unterstützt. Der Nationalkonservative Oleh Ljaschko von der Radikalen Partei kam landesweit auf 5,5 Prozent mit einzelnen Spitzenergebnissen in den Provinzen Tschernihiw, Wolhynien und Khmelnytskyi.

Insgesamt blieb Poroschenko mit knapp 16 Prozent zwar deutlich über den schlechtesten Umfragewerten seiner Amtszeit – der Rückstand auf den Erstplatzierten ist jedoch beträchtlich. Eine noch größere Enttäuschung brachte der Wahlabend für die frühere Premierministerin Julia Timoschenko, die nur auf 13 Prozent kam und deren politische Karriere damit an ihr Ende gekommen sein könnte.

Mit Jurij Boiko kam der ein als verhältnismäßig prorussisch geltender Kandidat auf 11,7 Prozent und Platz vier. Er konnte im Ostteil des Landes und in Teilen von Odessa sogar Mehrheiten erzielen. Vor allem Bürger mit russischer Muttersprache, die den Machtwechsel auf dem Maidan vor fünf Jahren ablehnten, gaben Boiko ihre Stimme. Insgesamt 12 Prozent der vor dem Umsturz noch wahlberechtigten Ukrainer konnten nicht an der Wahl teilnehmen: in Teilen des Donbass, weil prorussische Milizen die Kontrolle über das Gebiet haben, auf der Krim, weil Russland diese sich nach der Sezessionserklärung des Autonomen Parlaments und der im Westen nicht anerkannten Volksabstimmung von 2014 als eigenes Staatsgebiet einverleibt hat.

Kaum ein ausgeschiedener Kandidat wird zur Stimmabgabe für Poroschenko aufrufen

Der bürgerliche Kandidat Anatoli Hryzenko kam nur auf 6,9 Prozent, sein Wählerpotenzial orientierte sich meist schon im ersten Wahlgang in Richtung Selenski. Einen Achtungserfolg mit sechs Prozent erzielte der frühere Geheimdienstchef Ihor Smeschko, der erst im Januar seine Kandidatur erklärt hatte.

Eine interaktive Karte, die alle Einzelergebnisse ausweist, weist die jeweiligen Schwerpunktgebiete aus und illustriert, wie unterschiedlich die einzelnen Landstriche der Ukraine geprägt sind.

Ein Sieg Selenskis in der Stichwahl gilt nun als so gut wie sicher. Auch wenn einige Kandidaten sich mit Wahlempfehlungen noch Zeit lassen und erst Jurij Boiko noch am Wahlabend seine Anhänger dazu aufgerufen hatte, Selenski die Stimme zu geben, kann Poroschenko kaum mit einer Rückendeckung durch ausgeschiedene Kandidaten rechnen. Julia Timoschenko spielt Berichten zufolge mit dem Gedanken, zur Wahl Selenskis aufzurufen. Auch Anatoli Hryzenko erklärte noch am Wahlabend:

Ich persönlich will nicht, dass noch fünf Jahre Betrug und Plünderung weitergehen. Deshalb werde ich unter keinen Umständen Petro Poroschenko unterstützen oder für ihn stimmen.“

Obwohl in der Regierungszeit Poroschenkos zumindest einige vorsichtige Reformen durchgesetzt werden konnten, gilt er in weiten Teilen der Bevölkerung als Teil einer alten Garde aus Oligarchen, die dank Korruption und krimineller Machenschaften eine positive Entwicklung in der Ukraine verhindern. Gleichzeitig schlug seine Strategie bislang nicht an, Selenski wahlweise als Marionette Moskaus oder des bei Poroschenko in Ungnade gefallenen Milliardärs Ihor Kolomojskyj darzustellen, den der Präsident zum Verlassen der Ukraine gezwungen hatte.

TV-Debatte als Unsicherheitsfaktor

Poroschenkos einzig verbliebene Chancen liegen nun in einer TV-Debatte, in welcher er hofft, die politische Unerfahrenheit Selenskis vorführen zu können, oder in einer neuerlichen Zuspitzung des Konflikts mit Russland oder prorussischen Kräften entlang der Frontlinien in der Ostukraine oder im Schwarzen Meer.

Ob Selenski in der Lage sein wird, die Probleme der Ukraine in den Griff zu bekommen, insbesondere die immer noch weit verbreitete Korruption, ist ungewiss. Dass die bisherigen Politiker inklusive Poroschenko dazu nicht in der Lage seien, scheint jedoch Konsens in weiten Teilen der Bevölkerung zu sein.

Gerhard Lechner schreibt über die Aussichten für die Ukraine unter einem Präsidenten Selenski in der „Wiener Zeitung“:

„Selenskis Programm besteht bis jetzt in einer Ansammlung von Gemeinplätzen – und in seiner Rolle als TV-Präsident Wassili Holoborodko. Als solcher zeigt er sich tollpatschig-unprofessionell, stets bescheiden, aber hart und prinzipienfest in seinem Kampf gegen das korrupte oligarchische System. Auch gegenüber westlichen Gläubigern wie dem IWF zeigt sich Holoborodko unnachgiebig. Dennoch geht – trotz zahlreicher Hürden am Weg – letztlich alles gut, löst der Mann, wie mit einer Art Zauberstab ausgestattet, alle Probleme: Am Ende überflügelt die Ukraine bereits die alten westlichen Demokratien – bei einem Treffen in Brüssel wird Holoborodko mitgeteilt, die allzu erfolgreichen Ukrainer mögen doch ihren Ehrgeiz zügeln.“

Umgang mit Selenski für Russland möglicherweise schwieriger

Insgesamt ist jedoch sowohl innen- als auch außenpolitisch vonseiten Selenskis mit einem weniger konfrontativen Kurs zu rechnen. Er wird das Ziel, die Ukraine der EU näherzubringen, unbeirrt weiterverfolgen – und dieses stellt auch die rote Linie gegenüber Russland dar. Grundsätzlich dürfte jedoch von Selenski eher Dialogbereitschaft gegenüber Moskau zu erwarten sein als dies im Fall einer zweiten Amtszeit Poroschenkos der Fall wäre.

Für Russland bedeutet dies jedoch nicht nur Erleichterung – sondern dass die Regierung unter Wladimir Putin möglicherweise selbst unter Zugzwang gerät. Der auch in Russland als Künstler geschätzte Selenski, der erst vor wenigen Jahren Ukrainisch gelernt hatte, wird, wie auch Lechner in der Wiener Zeitung betont, in russischen Staatsmedien nur noch schwerlich als Verkörperung eines „ukra-faschistischen Regimes“ dargestellt werden können.

Ein gesprächsbereiterer Präsident in Kiew bedeutet aber, dass auch Moskau, wenn es von Frieden spricht, liefern muss. Zudem könnte eine Ukraine, die einen erfolgreichen Weg einschlägt und in der sich auch die russischsprachigen Bevölkerungsgruppen zugehörig fühlen können, ihrerseits den Reformdruck in Russland selbst verstärken – ebenso in den „Volksrepubliken“ des Donbass und auf der Krim.

Dieser Beitrag stellt ausschließlich die Meinung des Verfassers dar. Er muss nicht zwangsläufig die Sichtweise der Epoch Times Deutschland wiedergeben.


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