„Der erste echte Inder“: Wie Mahatma Gandhi mit seinem Gewand Indien einte
Es war weder feiner Zwirn noch typisch indisch. Obwohl das Gewand von Mahatma Gandhi aus einfachem, groben Stoff bestand, erzielte es eine unglaubliche Wirkung. Zum ersten Mal konnten sich die Menschen Indiens aus über Tausend Kasten und teils widersprüchlicher Religionen als „Inder“ identifizieren.
Seine schlichte Kleidung – der „Khadi“, ein Umhang aus grobem Stoff, Sandalen und das „Gandhi-Topi“ – erschreckte 1915 die britischen Kolonialherren. In Richard Attenboroughs Film „Gandhi“, hört man einen indischen Anwalt seinem Nebenmann zuraunen: „Der sieht aus wie mein Schneider.“ Ganz ähnlich dürften die Reaktionen vor über 100 Jahren gewesen sein.
Es war das erste Mal, dass die Öffentlichkeit einen Blick auf Gandhis gewaltlose politische Waffe werfen kann. Dieses Gewand sollte 32 Jahre später den Subkontinent in die Einig- und Unabhängigkeit führen.
Ein Gewand eint Indien
„Indien ist ein geografischer Ausdruck, es ist nicht mehr Staat als der Äquator“, sagte einst Winston Churchill. Auch für den Kolonialbeamten John Strachey „gibt und es gab nie so etwas wie einen ‚Inder‘ oder gar ein Land namens ‚Indien‘, das je in irgendeiner Form – geografisch, politisch, sozial oder religiös – eine Einheit dargestellt hätte.“
Grund für diese Äußerungen war Indiens Gesellschaftssystem. Unzählige Sprachen, tausende Kasten, widersprüchliche Religionen und die Feudalherrschaft festigten die enormen Unterschiede der Bevölkerungen. Im Allgemeinen gab es die Herrschenden und die Bauern – nur mit viel mehr Abstufungen dazwischen. Kontakt über die eigene Kaste hinaus war unerwünscht oder verboten. Beziehungen oder gar Hochzeiten außerhalb der Kaste wurden nicht selten bestraft.
Während die Herrschenden ihrem Status durch aufwendige, bunte Kleidung oder den feinen englischen Zwirn Ausdruck verliehen, waren die Bauern sich uneins. Man trug, was man hatte und grenzte sich so gut wie möglich von den anderen ab. „Teile und herrsche“ funktionierte so lange, bis Gandhi in Erscheinung trat.
Aus der nahezu unbegrenzten Fülle von Farben und Materialien wählte Gandhi ausgerechnet diesen bescheidenen Stoff. Seine Beweggründe waren weder das Aussehen noch der Preis, sondern die Symbolik. Mit diesem Stoff konnten sich alle Bauern identifizieren und erstmals den Mächtigen eine einheitliche Front „den Inder“ bieten.
Eine gute Regierung braucht Menschen, die sie unterstützt
„Gandhi wusste: Wenn er seine Landsleute erfolgreich zum Widerstand mobilisieren wollte, dann gelänge ihm dies sicher nicht in einem englisch geschnittenen (und in Manchester produzierten) Anzug, wie seine städtischen Kongresskollegen ihn trugen“, schrieb Bernard Imhasly in der NZZ. Damals waren neun von zehn Inder Analphabeten, auch Handwerker und Bauern. Und im Gegensatz zu den Herrschenden waren sie alle arm. Gandhi bot ihnen jemand, mit dem sie sich identifizieren konnten.
Statt in vornehmen Kutschen reiste Gandhi im Zug – dritte Klasse – und wandte sich an Bahnhöfen an die Menschen vor Ort. Seine Botschaft und seine friedliche Art strahlte bis weit ins Hinterland.
Über 30 Jahre lang kämpfte Gandhi gewaltlos gegen die Unterdrücker und Ausbeuter – Anfang des 17. Jahrhunderts betrug Indiens Anteil am Welt-Bruttosozialprodukt knapp 25 Prozent, 1947 waren es weniger als 2 Prozent – aber auch gegen die Mauern in den Köpfen der einfachen Menschen. Er wusste, nur wenn er alle Inder einen könnte, hatte er eine Chance gegen die Briten.
Gandhis Versprechen
Als Meister der Symbolik verstand es Gandhi durchzuhalten. Er versprach, er würde sein Gewand erst in einem befreiten Indien ablegen. So kam es, dass er trotz höfischer Regeln oder klirrender Kälte, stets im gewohnten Gewand erschien. Im Winter 1931 soll Churchill ihn als „halbnackten Fakir“ bezeichnet haben. Auch dem König trat Gandhi in seiner einfachen Kleidung gegenüber. Auf die spöttische Frage vonseiten der Journalisten antwortet Gandhi: „Der König trug genug [Kleider] für uns beide.“
Sein Gewand war mehr als ein Zeichen für ein einiges Indien, es war auch Zeichen für ein unabhängiges Indien. Denn während die Herrscher in Großbritannien dank der industriellen Revolution immer besser und mehr produzieren konnten, wurden Indiens Bauern von geschätzten Lieferanten hochwertiger Waren zu Lieferanten eines preisgedrückten Rohstoffs.
Nach Gandhi sollten alle Inder nur noch (selbst) handgesponnene und -gewobene Kleider tragen. Importware der Besetzer sollten sie boykottieren. Gandhis Kampagne war erfolgreich. Überfluteten einst europäische Importstoffe einheimische Basare, zeugen heute farbenfrohe Saris davon, dass die Inder ihre Traditionen nicht vergessen haben. Bis heute weben in Indien Millionen Kunsthandwerker exklusive Stoffe, die bei den Reichen und Schönen in westlichen Ländern reißenden Absatz finden.
Auch Indiens Nationalfahne trägt dieses Erbe in sich. Die Farben orange, weiß und grün stehen für die Religionen Hinduismus, Christentum und Islam und sollen Indiens Religionsoffenheit unterstreichen. Das stilisierte Spinnrad steht für Indiens textile Vergangenheit, kann jedoch auch als buddhistische Rad der Wiedergeburt gesehen werden, was wiederum die Toleranz verschiedener Glaubensrichtungen verdeutlicht.
1947 war es schließlich so weit. Nach über 30 Jahren, größtenteils friedlicher Proteste, erlangte die ehemalige britische Kolonie ihre Unabhängigkeit. Gandhi wurde ein Jahr später ermordet – sein Ziel vom unabhängigen Indien hatte er jedoch erreicht. (ts)
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