Bereit zu zweitem Lockdown: Merkel und Biden verfolgen „rigideste Corona-Politik weltweit“

Bundeskanzlerin Angela Merkel will in der Corona-Politik „die Zügel anziehen“, Joe Biden würde als Präsident „das Land noch einmal herunterfahren, wenn die Wissenschaft dazu rät“. Derweil wächst die Skepsis bezüglich der Durchführbarkeit eines zweiten Lockdowns.
Von 25. August 2020

Die weltweit rigideste Corona-Politik kommt von der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel und vom demokratischen US-Präsidentschaftskandidaten Joe Biden – so lautet die Einschätzung des beiden Genannten gegenüber nicht a priori kritischen Publizisten Gabor Steingart. Tatsächlich gibt es kaum Politiker, die so selbstverständlich von der Möglichkeit eines zweiten Lockdowns reden wie sie.

Merkel mit zweitem Lockdown in fünfte Amtszeit?

In einem Beitrag für den „Focus“ weist der langjährige „Handelsblatt“-Chef auf Merkels Ankündigung im Vorfeld der Beratungsrunde zwischen Kanzleramt und Ministerpräsidenten hin, die für Donnerstag (27.8.) geplant ist. Merkel erklärte: „Es muss alles daran gesetzt werden, das Infektionsgeschehen im Zaume zu halten. Darum müssen die Zügel angezogen und Regeln durchgesetzt werden.“

Biden hatte bereits anlässlich seiner Nominierung erklärt, er wolle „alles tun, was nötig ist, um Leben zu retten“ – womit er zumindest das Geborene meint. Er kündigte an, er würde „das Land wieder herunterfahren“, sollte die Wissenschaft eine solche Vorgehensweise nahelegen.

Merkel kann sich mit ihrer Position in Deutschland politisch auf der sicheren Seite wissen. Selbst wenn sie unter dem Eindruck der Krise ihre Ankündigung revidieren würde, im nächsten Jahr nicht mehr als Kanzlerkandidatin zur Verfügung zu stehen, könnte sie – neben dem medialen Rückhalt – auch auf die Demografie bauen.

Kritik an Corona-Maßnahmen bringt in Deutschland keine Stimmen

In Deutschland werden die Wahlen zunehmend von den Rentnern entschieden, und diese sind nicht nur die treusten Wähler der Koalitionsparteien CDU, CSU und SPD, sondern auch die am stärksten von Corona bedrohte Bevölkerungsgruppe.

Auch die junge Generation, die ohnehin im Zeichen von „Fridays for Future“ auf Angst, Verzicht und Entbehrungen eingestimmt ist, und die von ihr favorisierten Grünen würden der Kanzlerin nicht im Weg stehen, sollte diese einen neuerlichen Lockdown anstreben.

Einzig aus der FDP und aus der AfD, die zuletzt überdurchschnittlichen Zuspruch unter Erwerbstätigen erlangt hatten, kamen bis dato kritische Töne bezüglich einer allzu rigiden Pandemie-Politik. In Umfragen werden sie dafür jedoch nicht belohnt: Die AfD rutschte zuletzt in den einstelligen Bereich ab, die FDP gar auf fünf Prozent.

Lockdown-Bereitschaft könnte Biden in den USA die Wahl kosten

In den USA hingegen könnte die Aussage zum Lockdown Joe Biden die sicher geglaubte Wahl kosten. Dort ist auch in der älteren Generation die Bereitschaft deutlich geringer, einen Zusammenbruch der Wirtschaft in Kauf zu nehmen, um den Risikogruppen maximale Sicherheit bieten zu können.

Das hat zum einen mit der amerikanischen Tradition zu tun – Microsoft-Gründer Bill Gates erklärte jüngst, die Akzeptanz selbst von vergleichsweise geringfügigen Corona-Maßnahmen wie Maskenpflicht sei in den USA wenig ausgeprägt, „weil wir an die Freiheit und die Optimierung der Individualrechte glauben“.

Zudem würde ein weiterer Lockdown nicht nur die amerikanische Wirtschaft treffen, sondern auch die Fähigkeit der USA infrage stellen, als führende Supermacht dem Aufstieg des chinesischen KP-Regimes Paroli zu bieten – und die Aussicht, dem totalitären Regime in Peking freiwillig die Position als einflussreichste Weltmacht zu überlassen, ist auch in den Reihen der Demokraten keine, die für Jubelstürme sorgt.

Jugend will feiern

Gabor Steingart spricht in seinem „Focus“-Beitrag zusätzlich noch vier praktische Gründe an, warum ein weiterer Corona-Lockdown nicht nur undurchführbar wäre, sondern auch politisch unverantwortlich.

Der erste Grund, den er nennt, ist das, was er als die Lebensrealität der Jugend wahrnimmt. Diese weiche doch von der Idealvorstellung der CO2-armen, genügsamen und einschränkungsbereiten Jugend ab, für die „Fridays for Future“ steht:

„Kein Politiker kann und darf der Jugend verbieten, jugendlich zu sein. Sex, Drugs and Rock ‘n Roll, oder familienfreundlicher ausgedrückt – Nähe, Erotik und stimulierende Gemeinschaftserlebnisse – lassen sich auf Dauer nicht verbieten. Ich lade gern Angela Merkel am kommenden Samstag auf eine nächtliche Fahrt mit der PioneerOne ein, damit sie sieht, was ich am Samstagabend gesehen habe: Nacktbaden am Reichstag, Tango tanzen gegenüber der Museumsinsel, Udo Jürgens zum Mitsingen auf einem schmucken Touristenschiff; Partys am Ufer überall. Die Jugend lebt!“

Nach zweitem Lockdown hilft auch kein Rettungspaket mehr

Die Ausschreitungen in Stuttgart und Frankfurt/Main, die einer kurz gehaltenen „Eventszene“ zugeschrieben werden, lassen möglicherweise ebenfalls nicht erwarten, dass eine Neuauflage des Verbots von Partys und Feierlichkeiten so bereitwillig angenommen würde.

Ein weiterer Grund sei die wirtschaftliche Unverträglichkeit. Steingart verweist auf die Einschätzung des Chefs der „Wirtschaftsweisen“, Prof. Lars Feld. Dieser geht davon aus, dass die deutsche Wirtschaft einen zweiten Lockdown nicht überleben und massenhaft Pleiten und Arbeitslose produzieren würde. Er meint bezüglich eines zweiten Lockdowns:

Das wäre wirtschaftlich gesehen eine Katastrophe. Eine ganze Reihe von Unternehmen, die in der jetzigen Erholungsphase noch überlebt haben, würden in die Insolvenz gehen müssen.“

Eine solche Entwicklung durch zusätzliche Rettungspakete auffangen zu wollen, hält Steingart für vermessen. Deshalb nennt er als dritten Grund, warum es keinen zweiten Lockdown geben könne, die fiskalpolitische Situation:

„Die haushaltswirksamen Maßnahmen zur Stimulierung der Volkswirtschaft nach dem ersten Lockdown addieren sich auf rund 353 Milliarden Euro, hinzu kommen Staatsgarantien von 820 Milliarden Euro. Unterm Strich könnten auf dem Kassenzettel, so die Einschätzung der Deutschen Bank, nach Bewältigung der Pandemie rund 1,9 Billionen Euro stehen. Der Staat rettet sich zu Tode.“

Cocooning als Alternative

Der vierte Grund, der gegen einen weiteren erzwungenen Stillstand spricht, sei die Situation im Bildungsbereich.

Schon jetzt seien die Lehrkörper „weniger mit der Wissensvermittlung als vielmehr mit der Pandemiebekämpfung – Laufwege organisieren, Hygieneregeln durchsetzen, Maskenpflicht kontrollieren und das tägliche Desinfizieren der Lehrräume – beschäftigt“. Ohne Bildung und Wissenschaft wäre das Land ebenfalls nicht zukunftsfähig.

Steingart ruft deshalb in Erinnerung, was der frühere Kulturstaatsminister Julian Nida-Rümelin bereits am Beginn der Pandemie als Alternative zum Lockdown angesprochen hatte: das Cocooning – in diesem Fall gemeint als das gezielte Beschützen von Risikogruppen.



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