Die chinesische Sicht über den Ukraine-Krieg und Europas „linker Utopie“

Der ukrainisch-russische Krieg bewirkt große Veränderungen in Europa, die über den eigentlichen Kampf hinausgehen. Dr. Cheng Xiaonong betrachtet Deutschland aus chinesischer Sicht – und sieht das Ende einiger Illusionen.
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Ukrainische Kriegsflüchtlinge in Krakau, Polen.Foto: Omar Marques/Getty Images
Von 9. April 2022

„Europa ist nicht mehr der wohlhabende und glückliche Kontinent, der er einmal war, und seine Misere begann in diesem Jahr,“ sagt Dr. Cheng Xiaonong. Der ehemalige Berater des chinesischen Premierministers Zhao Ziyang (1980–87), sieht die europäischen Länder in einer ungünstigen Situation, die jedoch vorhersehbar gewesen wäre.

Nach 70 Jahren „Ruhe“, seit dem Zweiten Weltkrieg, sei Europa nicht nur „politisch bankrott“, sondern befinde sich auch in einem tiefen wirtschaftlichen Dilemma. Durch den Ukraine-Russland-Krieg stehe Europa binnen weniger Wochen vor einer „sehr bedeutsamen Veränderung“, meint Dr. Cheng. Auf diesen Wandel sei Europa nicht vorbereitet.

In einer aktuellen Serie von Aufsätzen in der chinesischen Ausgabe der Epoch Times analysierte er, dass Europa durch seine „utopische linke Politik“ in die Irre geführt worden sei und nun hart auf dem Boden der Tatsachen lande.

Dr. Cheng arbeitete für das Büro des Ständigen Ausschusses des Nationalen Volkskongresses in Peking und war zudem stellvertretender Direktor des Forschungsinstituts für die Reform des chinesischen Wirtschaftssystems. 1989 promovierte er in Soziologie an der Princeton University. Von 1997 bis 2009 leitete er an der Princeton Universität als Chefredakteur die „Modern China Studies“.

Europas hartes Erwachen aus drei utopischen Fantasien

„Die guten Tage für Europa sind vorbei“, analysiert Dr. Cheng. Das zeige sich an drei Merkmalen: 

Erstens seien die ruhigen Jahre ohne Krieg vorbei, die EU muss sich dem wieder auftauchenden Feind Russland stellen.

Zweitens sei der Traum Deutschlands und Frankreichs, die sich gern „als Könige“ des vereinten Europas sehen, geplatzt. Die EU hätte feststellen müssen, dass allein die ukrainische Flüchtlingskrise ausreicht, die Stabilität, den Wohlstand und die Harmonie der westeuropäischen Länder zu erschüttern. Zudem sei die EU selbst ein Produkt einer „utopischen Fantasie“, basierend auf den Werten kosmopolitischer Linker. Frankreich und Deutschland glaubten, dass sie den „progressiven“ Spitzenplatz in der westlichen Gesellschaft einnehmen könnten.

Und drittens zerbräche die Illusion „des blinden Strebens nach grüner Energie“. Dr. Cheng sagt: „Besteht Deutschland weiterhin auf grüner Energie, dann wird eine schwere Inflation die europäische Wirtschaft zerstören.“ Die deutsche Energiepolitik sei der „Köder für Putin“ gewesen, um die Lage zu eskalieren.

All diese Verluste seien „das Ergebnis der schwachen und lächerlichen internationalen Politik und der internationalen Wirtschaftsstrategien der westeuropäischen Länder – und weil diese drei Verluste den drei utopischen Fantasien der westlichen Linken entsprechen“, bilanziert der Chinese.

Was sind diese utopischen Fantasien? Die erste laute, so Dr. Cheng, dass Europa niemals in einen Krieg ziehen müsse, dass Verteidigung nur eine Formsache sei und dass das Geld für Sozialleistungen – den Wohlfahrtsstaat – ausgegeben werden müsste. Diese Utopie sei durch den linken Pazifismus entstanden, basierend auf kommunistischen Ideen. Von diesen habe sich Deutschland noch nicht getrennt. 

Dass Deutschland und Frankreich die europäische Einigung anführen und als wirtschaftlich starkes Europa mit den USA und China friedlich konkurrieren könnten, sei die zweite Fantasie. 

Und die dritte Illusionen besage, dass die Welt unter „grüner Energie“ besser werde – sowie die Länder dazu gezwungen werden könnten, der von Europa formulierten globalen Klimapolitik zu folgen und für die Kohlenstoffemissionsziele zu zahlen.

Diese „utopischen Illusionen“ seien laut Dr. Cheng die strategischen Leitlinien, die die internationale Politik und die globalen wirtschaftlichen Aktivitäten dominieren und die vom westlichen linken Wertesystem generiert würden. 

Zwei „rote Tiger“ wurden falsch eingeschätzt

Einen heißen Krieg hat es in West- und Mitteleuropa seit 1945 nicht mehr gegeben. Dr. Cheng sagt dazu: „Nach dem Zerfall der Sowjetunion endete der amerikanisch-sowjetische Kalte Krieg und die ganze Welt glaubte, dass die Ära der ruhigen wirtschaftlichen Entwicklung eine ausgemachte Sache sei. Die wirtschaftliche Globalisierung wurde in diesem Kontext allmählich abgeschlossen.“

Nach dem Ende des Kalten Krieges zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion habe die Welt allerdings einen stillen, bedeutenden Wandel erfahren, der den Weltfrieden erschüttern könne: „Der vorherrschende Pazifismus in den westeuropäischen Ländern hat seine Wachsamkeit gegenüber der roten Hegemonie, die die Welt erneut bedroht, verloren“, so Dr. Cheng. Gleichzeitig sei der Ehrgeiz von Deutschland und Frankreich gewachsen, ganz Europa durch die EU zu kontrollieren und die größte einheitliche Wirtschaft der Welt zu schaffen. Dies stelle eine potenzielle Bedrohung für Russland dar. 

Die Stärke der Kommunistischen Partei Chinas und die Unvermeidlichkeit des Scheiterns der Demokratisierung Russlands seien falsch eingeschätzt worden. Das Ergebnis ist, dass nun die zwei „roten Tiger“ – Russland und China – zusammenarbeiten und sich gegenseitig schützen. Der Ausbruch des Ukraine-Krieges habe die westlichen Länder nun wieder in ein globales Muster des Kampfes gegen die „roten Tiger“ gebracht, so Cheng.

Westeuropa entfacht einen „Kalten Krieg“, um einen „heißen“ zu verhindern

Für Dr. Cheng ist die eigentliche Ursache des Ukraine-Krieges die Osterweiterung der EU unter der Kontrolle Deutschlands und Frankreichs. Dadurch rückte die Grenze der EU nahe an Russland heran. 

Da sich die EU-Mitgliedschaft und die NATO überschneiden, würden sich neue EU-Mitglieder „gezwungen fühlen“, Schutz und Verteidigung bei der NATO zu suchen. Die europäischen NATO-Länder verfügen nicht über genügend militärische Kräfte, um Schutz zu bieten; sie können sich nur auf die USA verlassen, die in diesen neuen EU-Mitgliedstaaten nur eine geringe symbolische Präsenz haben.

Putin habe die geringe Präsenz von US-Truppen in den neuen EU-Mitgliedstaaten als Vorwand genutzt, um im Ukraine-Krieg den Korea-Krieg und den Vietnam-Krieg zu wiederholen. Der russische Präsident sei bestrebt, den letzten Bereich und damit die Ukraine als Grenzgebiet zwischen Russland und den westlichen NATO-Staaten unter Kontrolle zu kriegen, um die Bedrohung Russlands durch die NATO-Osterweiterung zu reduzieren, fürht Cheng aus. Zudem baute er darauf, dass die NATO nicht die Absicherung aller neuen EU-Mitgliedsstaaten übernehmen würde.

„In Zukunft werden die meisten EU-Länder, die derzeitigen ‚zahnlosen Tiger‘, aufrüsten und einen neuen Kalten Krieg mit Russland beginnen müssen“, erwartet Dr. Cheng. Es werde zu einem neuen europäischen Kalten Krieg kommen. In diese Richtung weise das EU-Ansinnen des „Strategischen Kompass“, das die EU am 21. März offiziell verabschiedet hat. Es verordnet der EU eine Stärkung der Verteidigung bis 2030.

Der ehemaliger Berater des chinesischen Premierministers zitiert dazu Josep Borrell, Hoher Vertreter für Außen- und Sicherheitspolitik der EU. Jener sagte: „Die Bedrohungen steigen und die Kosten der Untätigkeit sind klar. Der strategische Kompass ist ein Handlungsleitfaden. […]  Wenn nicht jetzt, wann dann?“ Borrell erklärt auch: „Das derzeitige feindliche Umfeld erfordert einen Quantensprung nach vorn […]. Der Kompass gibt uns einen ehrgeizigen Aktionsplan für eine stärkere Sicherheit und Verteidigung der EU für das nächste Jahrzehnt.“

Das Geldproblem der EU

Unabhängig vom Ausgang des ukrainisch-russischen Krieges seien die westeuropäischen Länder bereits jetzt mit drei großen Problemen konfrontiert: den Militärausgaben, hohen Energiekosten und dem Flüchtlingsstrom aus der Ukraine.

Seit langem seien diese Länder daran gewöhnt, ihre Verteidigungsausgaben auf etwa einem Prozent zu halten. Die Hauptkosten ergeben sich daraus, „Offiziere zu unterhalten und eine ‚Armee‘ mit wenigen Kampftruppen aufrechtzuerhalten“, wie es Dr. Cheng bezeichnet. 

Nun habe die EU erkannt, dass sie, wenn sie weiterhin den „zahnlosen Tiger“ spielt, Putin, den „roten Tiger“, nur dazu bringt, seine Zähne und Krallen zu zeigen. Vorgeschlagen werde nun, eine schnell verfügbare Truppe von bis zu 5.000 Mann zu errichten sowie eine Modernisierung der veralteten Flugzeuge, Panzer, Raketen etc. Das bedeute, viel Geld für das Militär auszugeben.

Die Haushalte der EU-Staaten hatten keinen Spielraum, um die Militärausgaben zu erhöhen, das gesamte Geld wurde in den sozialen Bereich investiert. Man wage es nicht, die Sozialausgaben zu kürzen und muss sich Geld leihen, erklärt Dr. Cheng. Laut einem Bericht von Reuters vom 22. März plant die EU, unbefristete gemeinsame Anleihen für die Regierungen der Eurozone auszugeben. 150 bis 200 Milliarden Euro sind für mindestens dieses Jahr geplant, weitere Kredite folgen in den nächsten Jahren.

Könnte die EU die Militärausgaben innerhalb ihrer normalen Haushaltsausgaben stemmen? Das sei kein wirtschaftliches, sondern ein politisches Problem – denn das würde die „politische Korrektheit“ des europäischen Systems erschüttern, so Dr. Cheng. 

Was ist der Grund? Die europäischen Länder behaupten, ein „Wohlfahrtsstaat“ zu sein, und eine Kürzung der Sozialleistungen kommt der Niederlage der Regierungspartei gleich (wie sich in Frankreich bereits gezeigt hat). Gleichzeitig wäre eine Kürzung der Sozialleistungen eine Kritik am Konzept des „Pazifismus“ und ein politischer Selbstmord der linken Parteien Europas. Europäische Medien hätten nicht einmal den Mut, dieses Problem offen zu diskutieren; es sei viel größer, als es sich die Menschen außerhalb Europas vorstellen könnten.

Zusätzlich bringen die hohen Energiepreise die Politik der EU ins Wanken. Grüne Energie ist Teil der „politischen Korrektheit“ der europäischen Staaten; eine Debatte über die Wiederaufnahme des Kohleabbaus ein direkter Schlag gegen die grüne Energiepolitik. Dr. Cheng meint, es wäre sowohl ein wirtschaftlicher als auch ein politischer Preis, der zu zahlen wäre. 

Die westeuropäischen Länder seien sich darüber im Klaren, dass sie ihre Energieversorgung umstellen müssen, indem sie teilweise auf das billige russische Gas verzichten und stattdessen teureres Flüssiggas aus anderen Ländern importieren. 

Damit kämen zu den derzeit sehr hohen Energieausgaben jährlich noch mehr als 130 Milliarden Euro hinzu. Diese Zahl würde der Bevölkerung verschwiegen. Wenn diese Summe auf den Strompreis aufgeschlagen würde, würde es nicht nur einen sozialen Rückschlag verursachen, sondern auch die internationale Wettbewerbsfähigkeit europäischer Unternehmen erheblich schwächen.

„Die ‚Solidarität‘ der EU wird von selbst zerbrechen“

Eine andere Schwierigkeit westeuropäischer Länder sieht Dr. Cheng in der Neuansiedlung und den langfristigen Ausgaben für ukrainische Flüchtlinge. Mindestens 3,3 Millionen Flüchtlinge sind in die Nachbarländer geflohen, fast 6,5 Millionen Menschen wurden innerhalb der Ukraine vertrieben. Mindestens zwei Millionen Menschen sind jetzt in Polen, die Zahl steigt täglich um Zehntausende. Rumänien hat bereits mehr als eine halbe Million ukrainische Flüchtlinge, Ungarn mehr als 300.000. 

Diese EU-Mitgliedstaaten in der Nähe der Ukraine könnten die enormen Ausgaben der ukrainischen Flüchtlinge jedoch selbst nicht tragen, bilanziert Dr. Cheng. Daher würden diese Flüchtlinge zwangsläufig weiter in westeuropäische Staaten ziehen, um zu überleben. Die westeuropäischen Länder wollen jedoch keine große Anzahl von Flüchtlingen aufnehmen, weil sie befürchten, dass ihre finanzielle Belastungen dadurch steigt.

Deutschlands derzeitige Norm für den Lebensunterhalt für ankommende ukrainische Flüchtlinge sieht 350 Euro pro Person und Monat vor. Schätzungen zufolge werden die fast 10 Millionen ukrainischen Flüchtlinge in Zukunft jedes Jahr mehr als 40 Milliarden Euro an direkter Hilfe benötigen; hinzu kommen medizinische Versorgung, Bildung, der Bau von Flüchtlingszentren und anderem, was Hunderte von Milliarden Euro pro Jahr kosten wird. 

„Aus humanitärer Sicht können die westeuropäischen Länder nicht zusehen, wie die ukrainischen Flüchtlinge verhungern; aus politischer Sicht haben die westeuropäischen Länder durch ihre falsche internationale Politik den Weg für Putins Aggression geebnet“, nennt Dr. Cheng die Zwickmühle, in der die westeuropäischen Staaten sitzen.

„Jetzt ist es an der Zeit, für ihre Sünden zu büßen. Und sie sollten auch diese ukrainischen Flüchtlinge mit Nahrung versorgen. Die heuchlerischen Menschenrechtsinteressen der Linken in den westeuropäischen Ländern wurden jedoch in diesem Moment entlarvt. Sie wollten der Belastung entgehen und ihre großzügigen Sozialleistungen behalten und sind nicht bereit, die notwendigen Kosten für die Flüchtlingshilfe zu tragen.“ 

Er warnt: „Als Nächstes wird die EU darüber entscheiden, wer wie viele Flüchtlinge aufnimmt und wer wie viele Kosten trägt. Es wird viel Streit geben. Die ‚Solidarität‘ der EU wird von selbst zerbrechen.“



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