Experten glauben nicht an einen Unfall in Beirut – Steht die Hisbollah hinter den Explosionen?

Die Explosionen wurden durch etwa 2.700 Tonnen Ammoniumnitrat verursacht, die im Hafen von Beirut gelagert waren. Eine kleine Explosion entzündete die brandfördernde Chemikalie und verursachte weitere verheerenden Explosionen, die zu mehreren Tausend Verletzten und über 100 Toten geführt haben. Experten glauben nicht an einen Unfall – US-Generäle ebenfalls nicht. Steht die Hisbollah hinter der Katastrophe?
Von 5. August 2020

In Beirut kam es am Dienstag zu starken Explosionen. Es werden Tausende Verletzte befürchtet – offiziellen Angaben zufolge gibt es schon über 100 Tote. Der Libanon ist erschüttert über diese Katastrophe. Saad Hariri, ehemaliger Ministerpräsident Libanons drückte es auf Twitter so aus: „Das Ausmaß der Verluste ist zu groß, um es beschreiben zu können“. 

Die staatliche libanesische Nachrichtenagentur NNA und zwei Sicherheitsquellen sagten, die Explosionen haben sich im Hafengebiet der Hauptstadt ereignet, wo es Lagerhäuser mit Sprengstoff gibt.

Libanons Premierminister Hassan Diab sagte in einer Fernsehansprache, dass die Verantwortlichen für die Explosion in dem „gefährlichen“ Lagerhaus den Preis dafür zahlen würden.

Ich verspreche Ihnen, dass diese Katastrophe nicht ohne Konsequenzen bleiben wird. (…) Die Verantwortlichen werden den Preis dafür bezahlen.“

„Die Fakten über dieses gefährliche Lagerhaus, das sich seit 2014 dort befindet, werden veröffentlicht, und ich werde den Untersuchungen nicht vorgreifen“, zitiert ihn die israelische Tageszeitung „Haaretz“.

Experten glauben nicht an einen Unfall – Steht die Hisbollah hinter den Explosionen?

„Ich kaufe ihnen die Unfallgeschichte nicht ab“, schrieb Ghanem Nuseibeh, ein Experte für den Nahen Osten, auf Twitter. US-Präsident Donald Trump wohl auch nicht, er spricht von einem „furchtbaren Angriff“ mit einer „Art von Bombe“. Er berief sich dabei auf Angaben von US-Generälen. Weder vom Pentagon noch den libanesischen Behörden kamen allerdings irgendwelche öffentlichen Hinweise darauf, dass es sich um einen Anschlag gehandelt haben könnte.

Einige Beobachter stellen die Frage, ob es in dem Gebiet andere Munition gab, welche die größeren Explosionen verursachte. Wie kommt es, dass ein Lagerhaus sechs Jahre lang 2.700 Tonnen Ammoniumnitrat und Düngemittel in diesem Ausmaß in der Nähe von einem Wohngebiet gelagert hatte? Und zwar ohne jegliche Sicherung des Lagers? Könnte es mit dem Waffenhandel der Hisbollah in Verbindung stehen?

Die Explosionen werfen wichtige Fragen auf, wie beispielsweise: warum jemand Munition so nahe an einem zivilen Gebiet lagern würde. Andere Beobachter merkten an, dass die Hisbollah (arabisch für „Partei Gottes“) dort seit Jahren Munition lagert. Dies beschreibt auch ein ausführlicher Bericht über die radikal-islamische Gruppe vom „Global Jewish Advocacy“ und dem „International Policy Institute for Counter-Terrorism“, einer israelischen Denkfabrik zur Terrorismusbekämpfung:

Bei der Bedrohung, die die Hisbollah für Europa darstellt, geht es auch um die Bereitstellung der Infrastruktur für Terroranschläge. In den vergangenen Jahren gab es in ganz Europa sichere Unterkünfte und Lagerhäuser, in denen riesige Mengen von Sprengstoffen und explosiven Rohstoffen gelagert wurden.“

Als Beispiel führt der Bericht den Fund eines Lagerhauses in Zypern auf, wo 2015 über 8 Tonnen Ammoniumnitrat gefunden wurden. „Sechs Monate später wurden in Londoner Wohnvierteln vier sichere Lagerhäuser entdeckt, in denen drei Tonnen Ammoniumnitrat gelagert waren“, führt der Bericht weiter aus. 

Ammoniumnitrat wurde 2012 bei einem Anschlag in Burgas verwendet. Die bulgarische Regierung beschuldigt die radikal-islamische Hisbollah aus dem Libanon für das Attentat, welches mehrere Leben gekostet hatte.

Der Attentäter des Anschlags in Oklahoma City 1995 mit 168 Toten verwendete beim Bau der Bombe zwei Tonnen der Substanz. In einer Chemiefabrik im französischen Toulouse kamen bei der Explosion von rund 300 Tonnen Ammoniumnitrat 2001 insgesamt 31 Menschen ums Leben. In Asien kam es ebenfalls zu Unglücken mit der Chemikalie: Bei einem der schwersten Industrieunfälle in China kamen 2015 bei der Explosion von Ammoniumnitrat in der Hafenstadt Tianjin 165 Menschen ums Leben.

Wie gefährlich ist Ammoniumnitrat?

Die wahrscheinliche Ursache für die gewaltige Explosion in Beirut scheint die hochreaktive Chemikalie Ammoniumnitrat gewesen zu sein. Libanons Premierminister Hassan Diab sagte, 2.700 Tonnen Ammoniumnitrat seien explodiert, nachdem sie sechs Jahre lang ungesichert in einem Lagerhaus gelegen hatten.

Es bleibt allerdings unklar, was die Ursache für die Entzündung der Chemikalie war.

Ammoniumnitrat entsteht durch die Neutralisation von Ammoniak mit Salpetersäure und wird in Düngemitteln verwendet – aber auch als Sprengstoff im Bergbau. Die Chemikalie gilt als brandfördernd und kann beim Erhitzen explodieren.

In Deutschland ist der Umgang mit den durchsichtigen und farblosen Kristallen durch das Sprengstoffgesetz geregelt. In Düngemitteln darf Ammoniumnitrat wegen seiner latenten Gefahr nur in Mischungen verwendet werden.

„Ammoniumnitrat ist eine gebräuchliche Industriechemikalie und an sich kein Sprengstoff. Es ist ein Oxidationsmittel, das Sauerstoff in ein Feuer zieht – und es dadurch viel intensiver macht“, sagte Gabriel da Silva gegenüber „The Guardian“. Da Silva ist leitender Dozent für Chemieingenieurwesen an der Universität von Melbourne.

Allerdings, so da Silva, „entzündet sie sich nur unter den richtigen Umständen, und diese sind schwer zu erreichen. Man braucht extreme Umstände, um eine Explosion auszulösen.“

Kleine Explosion entzündete das Ammoniumnitrat

„Unter normalen Lagerbedingungen und bei mäßigen Temperaturen entzünde sich Ammoniumnitrat nur schwer“, erläutert die Chemie-Expertin Jimmie Oxley von der Universität in Rhode Island. Auf Videos der Explosionen in Beirut sei zunächst schwarzer, dann roter Rauch zu sehen. „Ich gehe davon aus, dass es eine kleine Explosion gab, die die Reaktion des Ammoniumnitrats auslöste – ob diese kleine Explosion ein Unfall war oder beabsichtigt, weiß ich nicht“, sagt Oxley.

„Wenn man sich den Rauch ansieht, der von der Explosion ausging, ist es diese Art von blutroter Farbe. Das liegt an den darin enthaltenen Stickstoffoxid-Luftschadstoffen“, bestätigte da Silva.

Normalerweise wird die Chemikalie unter strengen Bedingungen gelagert: So muss sie etwa von Brennstoffen und Wärmequellen ferngehalten werden. In vielen EU-Ländern muss Ammoniumnitrat zudem mit Kalk versetzt werden, um es sicherer zu machen. Das geruchlose Salz war in den vergangenen Jahrzehnten bereits für zahlreiche Explosionen verantwortlich – bei Unfällen und Anschlägen.

Trotz der Gefahren ist Ammoniumnitrat laut Oxley in der Landwirtschaft und für Sprengungen in der Bauindustrie unverzichtbar. „Ohne Sprengstoff wäre die moderne Welt nicht möglich, und ohne Ammoniumnitrat-Dünger könnten wir die heutige Bevölkerung nicht ernähren“, sagt sie. „Wir brauchen Ammoniumnitrat – wir müssen nur genau darauf achten, was wir damit machen.“

Wenn die Zahl von 2.700 Tonnen in der Explosion in Beirut richtig ist, wäre die Ammoniumnitrat-Explosion größer als bei der Katastrophe in Texas City 1947, als eine Ladung von 2.300 Tonnen Ammoniumnitrat explodierte und fast 500 Menschen tötete. Die Explosion löste damals eine 4,5 Meter hohe Flutwelle aus, schreibt „The Guardian“.



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