Ist Deutschland wieder auf dem Weg zum „kranken Mann Europas“?

Vor über 20 Jahren war Deutschland der „kranke Mann Europas“. Durch Reformen kämpfte sich das Land dann wieder an die Spitze zurück und galt viele Jahre als wirtschaftlicher Musterknabe in Europa. Nun ist Deutschland wieder Wachstumsschlusslicht in Europa. Ist der „kranke Mann Europas“ zurückgekehrt?
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Die deutsche Wirtschaft schwächelt.Foto: über dts Nachrichtenagentur
Von 7. Oktober 2023

Vor mehr als 20 Jahren schockten die angelsächsischen Medien die bis dahin müde vor sich her schlummernde deutsche Seele: Unser Land sei der „kranke Mann Europas“ befand die Presse. Zu wenig „New Economy“, zu träge, mit einer zu teuren Währung in die Währungsunion eingetreten und damit zurecht Wachstumsschlusslicht in Europa. Die Schläge saßen damals tief. Nach einer Phase der Depression und des Selbstmitleids standen dann damals aber die Zeichen auf Aufbruch. Es war Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD), der mit seiner Agenda 2010 dem Land eine Rosskur verordnete. Das Sozialsystem und der Arbeitsmarkt wurden damals reformiert. Die Medizin wirkte Wunder: Der „kranke Mann Europas“ rappelte sich wieder auf. Für die nächsten 15 Jahre war Wirtschaftswachstum angesagt.

Die internationalen Medien staunten damals und sprachen bewundernd vom „Wirtschaftswunder 2.0“. Das hatte man Deutschland nicht mehr zugetraut. Plötzlich war es unser Land, das die große Wirtschaftskrise ab 2008 relativ unbeschadet überstand.

Wirtschaftsprognosen mit düsteren Zukunftsaussichten

Heute ist von dieser Aufbruchstimmung nicht mehr viel zu spüren: Gerade erst senkte die EU-Kommission die Wachstumsprognose für Wirtschaftswachstum in Deutschland in diesem Jahr von plus 0,2 auf minus 0,4. Bei der größten Volkswirtschaft Europas ist nun wieder die rote Laterne, das Schlusslicht, angekommen. Das hat Folgen für den gesamten Euroraum. Die Kommission senkte ihre Prognose des Bruttoinlandproduktes (BIP) in der gesamten EU von 1,0 auf 0,8.

Auch für das kommende Jahr sind die Aussichten der Kommission alles andere als erfreulich. Für Deutschland senkte sie die Prognose von 1,4 auf 1,1 Prozent. Der gesamten EU traut die Kommission ein Wachsen des BIP um 1,4 Prozent (vorher 1,7) zu.

Die Aussichten der Kommission für Deutschland decken sich mit dem, was die führenden Konjunkturinstitute und Banken in letzter Zeit prognostiziert haben. Nach und nach hatten auch diese ihre Zukunftsaussichten für Deutschland abgesenkt. Die prognostizierte Wirtschaftsleistung für 2023 liegt nun zwischen minus 0,4 bis minus 0,7 Prozent.

Deutschland ist am Taumeln

Deutschland ist sichtlich ins Straucheln geraten. Die Zinserhöhungen seit dem vergangenen Jahr, die hohe Inflation und das merkliche Abkühlen des bisherigen Wachstumsmotors China, von dem in der Vergangenheit auch immer wieder Deutschland profitiert hat, stößt nun auf die strukturellen Probleme Deutschlands. Rückstände bei Digitalisierung, bei Infrastruktur oder Bildung, aber auch die spürbare Überalterung der Gesellschaft und die Probleme bei der Energietransformation – das alles bläst Deutschland gerade hart ins Gesicht. Ist der „kranke Mann Europas“ wieder zurückgekehrt?

„Nein, Deutschland ist nicht der kranke Mann Europas“, sagte gerade erst der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), Marcel Fratzscher, bei der Vorstellung der Prognose seines Hauses. Wie die „Wirtschaftswoche“ weiter berichtet, warnt Fratzscher allerdings davor, dass Deutschland durchaus der „kranke Mann“ werden könne. „Er könnte es werden, wenn jetzt wichtige Reformen nicht gemacht werden.“ Mit einem klugen Transformationsprogramm ließen sich sowohl Angebot als auch Nachfrage stärken – etwa indem die Politik Bürokratie und Regulierung abbaue, in Infrastruktur, Bildung und Forschung investiere und auf sozialen Ausgleich achte. Die Stimmung sei derzeit deutlich schlechter als die Realität. Politik und Unternehmen müssten aufpassen, „dass sich wirtschaftliche Sorgen und Ängste nicht weiter hochschaukeln und zu einer wirtschaftlichen Abwärtsspirale führen“, sagte Fratzscher.

Lage mit vor über 20 Jahren nicht vergleichbar

Gerade erst hat auch die Berenberg Bank in einer Studie die Frage gestellt, ob Deutschland der „kranke Mann Europas“ sei. Der Chefvolkswirt der Privatbank Volker Schmieding verneint das. Schmieding ist in diesem Zusammenhang kein Unbekannter – er ist der Mann, der das Wort „kranker Mann Europas“ einmal geprägt hatte. Erstmals verwendete er den Begriff 1998 in einer Studie, in der er die damalige Krise Deutschlands beschrieb. Nach der Wiedervereinigung war das Land in einem denkbar schlechten Zustand. Hohe Sozialabgaben und ein starrer Arbeitsmarkt machten der Wirtschaft damals zu schaffen. Es war damals der „Economist“, der den Begriff dann auf seine Titelseite hob.

Heute, so die Einschätzung Schmiedings, stehe das Land gar nicht so schlecht da. Der Chefökonom der Berenberg Bank nennt fünf Gründe für seine Einschätzung. Heute sei die Situation mit der Lage vor über 20 Jahren nicht vergleichbar. Ökonomen, die Deutschland auf dem Krankenlager liegen sehen, wirft Schmieding in seiner Analyse zwei Irrtümer vor. Sie würden die kurzfristige Konjunkturschwäche mit den längerfristigen Möglichkeiten verwechseln. Langfristig gesehen stehe Deutschland nicht so schlecht da. Im kommenden Jahr würde die Konjunktur dann wieder anziehen.

Zum Zweiten würden die pessimistischen Ökonomen das „Wesen der deutschen Wirtschaft“ missverstehen. „Ihr Hauptmerkmal ist nicht die Spezialisierung auf bestimmte Produkte wie Autos oder Chemikalien“, schreibt Schmieding, „sondern die Vielzahl an Hidden Champions, die immer wieder in der Lage sind, sich an Schocks und Herausforderungen anzupassen.“ „Hidden Champions“ sind Unternehmen, die oft kaum bekannt, in ihren Nischen aber Weltmarktführer sind. In Deutschland gibt es weltweit die meisten davon.

Immer noch im soliden Mittelfeld

Deutschland mag in Europa zwar an Wettbewerbsfähigkeit verloren haben, befindet sich jedoch immer noch im soliden Mittelfeld und verzeichnet ein überdurchschnittliches Wachstumspotenzial, befindet der Chefökonom weiter. Der deutsche Mittelstand sei eine wichtige Quelle für Innovationen, da viele familiengeführte Unternehmen ständig nach neuen Lösungen und Nischen suchen.

Durch umfassende Arbeitsmarktreformen in den Jahren 2003 bis 2005 habe Deutschland eine Rekordbeschäftigung erreicht und weise die höchste Beschäftigungsquote in Europa auf. Dennoch gebe es einen Bedarf von 1,5 Millionen Arbeitskräften, was die Attraktivität des Landes für die Schaffung neuer Arbeitsplätze unterstreiche.

Schmieding analysiert weiter, dass die deutsche Regierung ihre Haushaltslage erheblich verbessert habe und über finanzielle Spielräume verfüge, um in wichtige Bereiche zu investieren und sich auf mögliche wirtschaftliche Herausforderungen vorzubereiten.

Im Gegensatz zu den reformunwilligen 1990er-Jahren zeige sich heute eine verstärkte Bereitschaft zur Reform in der deutschen Politik, insbesondere in Bereichen wie Zuwanderung in den Arbeitsmarkt und beschleunigte Genehmigungsverfahren. Der gegenwärtige wirtschaftliche Abschwung könnte daher als Anstoß für weitere Reformen dienen.

Strukturreformen verpasst – Rest der Welt stellt sich neu auf

Mag die Analyse des Ökonomen Schmieding auf den ersten Blick Mut machen, sollte sie trotzdem nicht verschleiern, dass Deutschland dringend reformbedürftig ist. Das sieht auch der Wirtschaftshistoriker Klemens Skibicki im Gespräch mit BR24 so.

„Deutschland hat eben in den letzten 20 Jahren im Prinzip keine Strukturreformen mehr gemacht, während der Rest der Welt sich neu aufgestellt hat“, befindet Skibicki. „Wir haben sowohl die grundsätzlichen laufenden Megatrends wie die demografische Entwicklung, dazu die Digitalisierung, dazu haben wir uns nicht aufgestellt und dann eben unseren ganzen schönen Sozialstaat eher ausgebaut, anstatt ihn so wieder aufzustellen, dass er auch von allein leistungsfähig ist. Das sind die Themen, die in Deutschland hausgemacht sind.“

Für den Wirtschaftshistoriker ist das Erkennen der Probleme der erste Weg zur Lösung. „Wir sollten Wunschdenken und Ideologien beiseitelassen und einfach klar und deutlich verstehen: Die Menschen, die hier investieren sollen, wandern ab oder bringen ihre Investitionen an andere Orte. Also sind wir offensichtlich nicht mehr so attraktiv“, so Skibicki. Wie sollten aber Reformen aussehen, die immer wieder gefordert werden?

Deutschland braucht eine Reform-Agenda

In seiner Analyse der Berenberg Bank macht Holger Schmieding konkrete Vorschläge, wie Deutschland wieder fit gemacht werden könnte:

Klarheit in der Energiepolitik: Eine der obersten Prioritäten sollte darin bestehen, die Unsicherheit über die zukünftige Energiepolitik zu beseitigen. Dies würde nicht nur die Investitionsbereitschaft fördern, sondern auch die langfristige Wettbewerbsfähigkeit des Landes stärken.

Abbau von Bürokratie und Modernisierung der Verwaltung: Das sei von entscheidender Bedeutung, um effiziente Prozesse zu gewährleisten. Dies würde nicht nur die Genehmigungsverfahren beschleunigen, sondern auch die Umsetzung von Projekten erleichtern.

Beschleunigte Planungs- und Genehmigungsprozesse: Investitionen seien ein wesentlicher Treiber für wirtschaftliches Wachstum. Die Beschleunigung von Planungs- und Genehmigungsprozessen ist daher entscheidend, um Investitionen freizusetzen und die wirtschaftliche Dynamik zu erhöhen.

Förderung von längeren Arbeitszeiten: Es wird empfohlen, Anreize zu schaffen, um Menschen dazu zu bewegen, länger zu arbeiten. Eine Möglichkeit hierzu könnte die weitgehende Abschaffung der Einkommensteuer auf Arbeitseinkommen über das gesetzliche Rentenalter hinaus sein. Das könnte nicht nur das Rentenalter flexibilisieren, sondern auch die Arbeitskräfte länger im Erwerbsleben halten.

Reformen statt schuldenfinanzierter Konjunkturprogramme

Die Lage vor über 20 Jahre war eine grundlegend andere als heute. Deutschland hatte damals über fünf Millionen Arbeitslose. Arbeitslosigkeit ist heute nicht das entscheidende Problem. Auch die Staatsfinanzen stehen im Vergleich besser da als in anderen Ländern. Schaut man allerdings auf die Liste der heutigen strukturellen Probleme, dann ist diese erheblich länger als damals. Ganz weit hergeholt ist der Begriff „kranker Mann Europas“ mit Blick auf die Prognosen der Wirtschaftsexperten nicht. Ob das Land aber weiter ein Pflegefall bleiben will oder wieder stark aus der Krise herauskommen kann, das entscheidet sich heute.

Deutschland, das macht der Ökonom Schmieding in seiner Analyse deutlich, braucht eine neue „Reform-Agenda“. Was das Land nicht braucht, ist ein schuldenfinanziertes Konjunkturprogramm. Genau Letzteres wird aber gerade von der Ampelregierung vorangetrieben.



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