Wie drei Akteure die Proteste in Kasachstan für ihre Zwecke nutzten

Sie begannen als ein wirtschaftlich motivierter Protest. Doch schnell wurde klar, dass die Neujahrsunruhen in Kasachstan weniger der Bevölkerung, sondern drei wichtigen Akteuren auf der internationalen Bühne helfen werden. Eine Analyse.
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Soldaten in Kasachstan.Foto: ALEXANDR BOGDANOV/AFP via Getty Images
Von 15. Januar 2022
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„Raus mit dem Alten“ – das skandierten die Demonstranten auf den Straßen Kasachstans in der ersten Woche des neuen Jahres. Die zunächst friedlichen Demonstrationen gegen eine Erhöhung der Preise für Flüssiggas arten schnell aus. Die Bilanz: mindestens 180 Tote, mehr als 2.000 Verletzte, fast 8.000 Festgenommene (Stand 10. Januar 2022) und ein Sachschaden von rund 175 Millionen Euro.

Wirtschaftlich motivierte Proteste finden in Kasachstan mindestens einmal im Jahr statt. Üblich sind sie insbesondere am 16. Dezember, dem Unabhängigkeitstag Kasachstans. Schlechte Lebensbedingungen und niedrige Löhne sind oft der Auslöser. 

Die Neujahrsunruhen folgten dem üblichen Muster. Unüblich waren jedoch die Reaktionen verschiedener Akteure. Diese sollen im Folgenden näher beleuchtet werden.

Kasachstan: Tokajew räumt an der Spitze auf

Die Proteste begannen zwar wegen einer Preiserhöhung. Sie sei jedoch nur ein Auslöser gewesen, meinte der Politologe Dimasch Alschanow in der Sendung des Journalisten Ilja Warlamow auf YouTube. 

Der wahre Grund liege bei der Korruption und der Vetternwirtschaft seitens der Familie des ehemaligen Präsidenten Nursultan Nasarbajew. Nasarbajew hatte das Land von seiner Unabhängigkeit im Jahr 1990 an durchgehend bis 2019 regiert.

Laut Temur Umarow vom Moskauer Carnegie Center, der in der ARD-Nachrichtensendung Tagesschau sprach, habe Präsident Kassym-Schomart Tokajew die Unruhen genutzt, um sich von Nasarbajew zu emanzipieren. Er entließ die Regierung, die sich immer noch in den Händen von Nasarbajew befunden habe, und den Ministerpräsidenten Askar Mamin, einen Vertrauten Nasarbajews.

Ungeachtet dessen gingen die Sicherheitskräfte im Land nur sporadisch gegen die steigende Gewalt im Land vor. Erst als das von Russland geführte Militärbündnis der Organisation des Vertrages über kollektive Sicherheit (OVKS) seine Unterstützung für Kasachstan zusicherte und Tokajew den Vorsitz des Nationalen Sicherheitsrates übernahm, griffen die Sicherheitskräfte sofort hart durch.

Am 8. Januar entließ Kasachstans Präsident den Chef des Inlandsgeheimdienstes Karim Masimow und bezichtigte ihn des Landesverrats. Auch andere Nasarbajew-treue Beamte wurden entlassen.

Zunächst gab es Gerüchte, dass er Nasarbajews Neffen Samat Abisch, den stellvertretenden Vorsitzenden des Nationalen Sicherheitsrates, entlassen habe. Der Nationale Sicherheitsrat dementierte das später.

Nasarbajew äußerte sich während dieser Zeit nicht. Erst als die Situation auf der Straße und auch in der Regierung beruhigt war, meldete er sich zu Wort. Er sei die ganze Zeit in Nur-Sultan gewesen und habe Tokajew unterstützt, twitterte Nasarbajews Pressesprecher Aidos Ukibay am 9. Januar.

Zudem habe er wegen der schwierigen Situation freiwillig den Vorsitz des Sicherheitsrates an den Präsidenten übergeben. Denn er habe verstanden, „dass die Unruhen und der Terror eine schnelle, harte und kompromisslose Reaktion der Führung des Landes erforderten“, erklärte Ukibay in einem anderen Tweet, der später entfernt wurde.

In einem weiteren Tweet rief Nasarbajew „alle auf, dem kasachischen Präsidenten beizustehen, um die aktuellen Herausforderungen zu bewältigen und die Integrität unseres Landes zu gewährleisten“.

Damit war die Krise in Kasachstan überwunden. Nun besteht die Frage, ob Tokajew die Politik seines Vorgängers fortsetzen oder einen anderen Kurs fahren wird. Kasachstans größter Wirtschaftspartner würde Reformen jedoch nicht willkommen heißen. 

Kassym-Schomart Tokajew, Präsident von Kasachstan. Vor der Unabhängigkeit Kasachstans war er erster Sekretär in der sowjetischen Botschaft in China. Nach der Unabhängigkeit sammelte er Erfahrungen in verschiedenen Spitzenpositionen: So bekleidete er zweimal das Amt des Außenministers und war von 1999 bis 2002 kasachischer Ministerpräsident. Von 2011 bis 2013 war er Generaldirektor des Büros der Vereinten Nationen in Genf. Danach wurde er Präsident des kasachischen Senats und übernahm 2019 schließlich sein derzeitiges Amt. Foto: VYACHESLAV OSELEDKO/AFP via Getty Images

China: „Belt and Road“ darf nicht gefährdet werden

Für China würde eine politische Lockerung in Kasachstan nicht nur finanzielle und geopolitische Einbußen mit sich bringen, sondern auch die innere Stabilität in der östlichen Region Xinjiang gefährden, erklärte Su Ziyun, Militärexperte vom taiwanischen Institut für Verteidigungs- und Sicherheitsstudien gegenüber der Epoch Times. Die beiden Staaten arbeiten bereits seit den 1990er-Jahren eng zusammen, seit dem Beginn der „Belt and Road“-Initiative (BRI) 2013 umso mehr. 

Wie Benno Zogg vom Center for Security Studies der ETH Zürich bereits im Jahr 2019 schrieb, ist Kasachstans Lage und sein Rohstoffreichtum von großer geostrategischer Bedeutung für das Reich der Mitte. Deswegen investierte es bereits Milliarden in seinen zentralasiatischen Nachbarn, mit dem es eine knapp 1.600 Kilometer lange Grenze teilt.

Die Kommunistische Partei Chinas (KPC) erwarb schon in den 2000er-Jahren seine ersten Anteile am Öl- und Gassektor, baute Pipelines und investierte in den Ausbau des Straßen- und Eisenbahnnetzes. Damit verdrängte China letztendlich Russland als den wichtigsten Wirtschaftspartner für Kasachstan.

Altpräsident Nursultan Nasarbajew und Xi Jinping bei einem Treffen am 28. April 2019 in Peking. Foto: Madoka Ikegami-Pool/Getty Images

Vom chinesischen Geld profitiert laut Zogg vor allem die Elite im Land. Die Stimmung gegenüber China und der Kommunistischen Partei in der breiten Bevölkerung ist hingegen negativ. Eine Lockerung in Kasachstan könnte folglich Kräfte auf den Plan rufen, die Pekings Einfluss im Land zu schwächen suchen. Das harte Vorgehen Tokajews gegen die Demonstranten beruhigte die kommunistische Führung.

„Sie haben in kritischen Momenten starke Maßnahmen ergriffen und die Situation schnell beruhigt“, lobte KPC-Vorsitzender Xi Jinping Tokajew in einer persönlichen Nachricht am 7. Januar. Externe Kräfte hätten eine „Farbenrevolution“ in Kasachstan initiiert und versucht, „die Zusammenarbeit zwischen den beiden Staaten zu stören“. Xi erwähnte auch die Bereitschaft Chinas, die kasachische Seite zu unterstützen.

China und Kasachstan könnten die Zusammenarbeit der Strafverfolgungs- und Sicherheitsbehörden verstärken, schlug deshalb Chinas Außenminister Wang Yi in einem Telefongespräch mit dem kasachischen Außenminister Muchtar Tileuberdi am 10. Januar vor. Das chinesische Staatsmedium „Global Times“ berichtete.

Dabei holte Wang gegen Russland aus: Im Gegensatz zu Russland, das die Lage nur mit Gewalt beruhigen konnte, werde China Kasachstan tatsächlich helfen können, das Problem mit den „drei bösen Mächten“ – Terrorismus, Extremismus und Separatismus – grundlegend zu lösen. 

Chinas wachsendes Interesse an Kasachstan könnte einer der Gründe gewesen sein, warum Russland sehr schnell auf die Unruhen reagierte.

Russland: Kein Maidan an der Südostflanke

Während Russland in den ehemaligen Sowjetrepubliken in Osteuropa seine Macht an die EU und die NATO einbüßen musste, blieb sein Einfluss in Zentralasien, vor allem in Kasachstan ungebrochen. 

Der russische Präsident Wladimir Putin am 10. Januar 2022 bei einer Dringlichkeitssitzung des Rates der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS). Foto: ALEXEY NIKOLSKY/SPUTNIK/AFP via Getty Images

Wie der Experte für Sicherheitspolitik, Benno Zogg, 2019 schrieb, ist Kasachstan Russlands engster Verbündeter in Asien. Doch mit dem Aufsteigen Chinas als alternativer Partner schrumpft Moskaus Griff auf das Land. Nur verschiedene Bündnisse wie das Militärbündnis OVKS und die Eurasische Wirtschaftsunion sowie die Besinnung auf kulturelle Nähe binden Kasachstan weiterhin an Russland.

Die Bedeutung Kasachstans für Russland zeigte sich im schnellen Eingreifen des OVKS. Denn ähnliche Ersuchen Kirgisistans im Jahr 2010 und Armeniens 2020 in dem Krieg mit Aserbaidschan lehnte das Bündnis ab.

Bei einer Dringlichkeitssitzung der OVKS-Regierungschefs am 10. Januar lobte Putin „den Mut“ Tokajews bei der Niederschlagung der „Terroristen“.

Genauso wie Xi Jinping sprach Putin von externen Kräften, die sich in die inneren Angelegenheiten Kasachstans eingemischt hätten. Die Maßnahmen im Rahmen der OVKS hätten gezeigt, „dass wir keine Eskalation bei uns zu Hause und kein Durchführen der sogenannten Farbenrevolutionen zulassen werden“, erklärte er.

„Die Hauptsache ist, dass uns die tragischen Ereignisse, die das Bruderland Kasachstan heute erlebt, nicht unvorbereitet treffen und dass wir voll mobilisiert und bereit sind, auf jede Provokation zu reagieren“, so Putin weiter.

Die oppositionellen Kräfte in Russland sehen die Entsendung der Truppen mit Skepsis. Es sei nur eine Machtdemonstration, um die russische Opposition einzuschüchtern, meinte der russische Oppositionspolitiker Dmitri Gudkow in einem Video.

Was ist mit den westlichen Staaten? 

Die EU und die USA können in Kasachstan kaum mit China und Russland mithalten. Kritik am autoritären System flammt zwar regelmäßig auf, so auch bei den Neujahrsunruhen. Doch der Einfluss des Westens in der Region ist viel zu gering, um für die kasachische Führung von Bedeutung zu sein.

Bisher gibt es keine Anzeichen dafür, dass Tokajew politische Reformen und eine Lockerung in Kasachstan einleiten wird. „Die Regierung wird nicht zerbrechen“, erklärte er am 5. Januar in einer Fernsehansprache an die Demonstranten. Ob das auch für das autoritäre System in Kasachstan gilt, bleibt abzuwarten.

Russland und China zeigten in dieser Krise jedoch deutlich, dass sie einen politischen Wechsel bei ihrem zentralasiatischen Nachbarn nicht begrüßen.



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