Aus für Graichen – eine Analyse der Hintergründe
Am Ende war der Druck dann doch zu hoch: Patrick Graichen (Grüne) muss seinen Hut nehmen. Das hat Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) am Vormittag des 17. Mai während einer kurzfristig anberaumten Pressekonferenz im Wirtschaftsministerium bestätigt. Er werde den Bundespräsidenten bitten, den Staatssekretär vorzeitig in den „einstweiligen Ruhestand zu versetzen“.
Er selbst wolle sich „so schnell wie’s geht“ um einen Nachfolger bemühen, versprach Habeck. Seine Hoffnung sei, diesen noch „vor der parlamentarischen Sommerpause“ präsentieren zu können. Kandidaten nannte er nicht.
Habeck begründete seine Entscheidung mit zwei Verstößen Graichens gegen die Compliance-Regeln der Regierung, also gegen das Gebot der Richtlinientreue. „Menschen machen Fehler, jeder und jede von uns“, sagte der Wirtschaftsminister. „Aber um den einen schweren Fehler zu verteidigen beziehungsweise damit umgehen zu können, muss ich sicher sein, dass die Compliance-Brandmauer, die wegen der Verwandtschaftsverhältnisse gezogen wurde, keine Risse hat. Diese Risse hat sie nun.“ (Video auf YouTube)
Zwei Vorfälle hätten den Ausschlag gegeben
„In der Gesamtschau“ hätten zwei bislang in der Öffentlichkeit eher unbekannte Fälle zu der Entscheidung geführt: ein „Vorgang im Rahmen der Klimaschutzinitiative“ vom 30. November 2022 und ein bereits länger zurückliegender Vorfall, der sich um die „Besetzung der Expertenkommission zum Energiewendemonitoring“ gedreht habe.
Jeder der beiden Verfehlungen Graichens für sich allein hätte nach Habecks Worten nicht ausgereicht, um die „dramatische Konsequenz“ einer Trennung zu ziehen. Er selbst habe erst am Abend vor der Pressekonferenz Gewissheit gehabt, dass nun tatsächlich Handlungsbedarf bestehe.
Grünes Licht für Verband von Graichens Schwester
Den ersten Verstoß gegen die Compliance-Vorschriften habe Graichen begangen, indem er „in der Hochphase der Krise […] eine Liste mit drei Projektskizzen“ zur Klimaschutzinitiative „gebilligt“ habe. Diese Kurzliste sei von einem „unabhängigen Dienstleister“ aus 29 Bewerbungen gefiltert worden und nach dem Gang durch die Hierarchie auf Graichens Schreibtisch gelandet. Eine dieser drei Bewerbungsskizzen habe vom BUND-Landesverband Berlin gestammt.
Das Problem: Graichens Schwester sei Vorstandsmitglied in eben diesem BUND-Landesverband. Als solche habe sie „zwar keine formale Vertretungsbefugnis“, sei aber „laut Vereinsregister bis Mai 2022 Landesvorsitzende“ gewesen, so Habeck. „Insofern ist es, wie die tiefere Prüfung zeigt, als Compliance-Verstoß zu bewerten.“
Bei Graichens Unterschrift für den BUND-Landesverband Berlin sei es um eine Fördersumme von knapp 600.000 Euro gegangen. „Es ist noch kein Geld geflossen, aber das Projekt wurde mit der Abzeichnung als förderwürdig eingestuft“, erklärte Habeck den Sachverhalt. „Die finale Förderentscheidung“ sei damit „im Prinzip nur noch eine reine Formsache“ gewesen. Habeck weiter: „Diese Vorlage hätte Patrick Graichen laut Compliance-Regeln weder vorgelegt werden dürfen noch hätte er sie abzeichnen dürfen. Es muss schon allein der Anschein der Parteilichkeit vermieden werden, und das ist hier nicht eingehalten worden.“
Zu große Nähe zum Öko-Institut des Bruders
Der zweite, bereits länger zurückliegende Vorgang, der aufgrund des Pressedrucks seit dem 23. April im Rahmen einer erneuten Compliance-Überprüfung Graichens „ausgeleuchtet“ worden sei, habe in einem „Graubereich“ gelegen. Als es darum gegangen sei, die „Expertenkommission zur Energiewendemonitoring“ zu besetzen, habe Graichen Felix Matthes mit der Aufgabe beauftragt. Matthes gehört zum Freiburger Öko-Institut: Dort arbeitet er an der Seite von Graichens Bruder Jakob.
Nach „vertiefter Prüfung“, so Habeck, stehe nun seit dem Abend des 16. Mai fest, dass auch hier „der Anschein der Parteilichkeit besser hätte vermieden werden sollen“. Im Fall Matthes habe sich seine Einschätzung daher geändert – „von eher entlastend nun zu belastend“.
Entscheidung fiel am Abend des 16. Mai
In der Gesamtschau aller Vorfälle habe sich Staatsekretär Graichen damit „zu angreifbar gemacht, um sein Amt noch wirkungsvoll ausüben zu können“, sagte Habeck. „Vor diesem Hintergrund sind Patrick Graichen und ich gestern Abend in einem persönlichen Gespräch darin übereingekommen, dass wir die gemeinsame Arbeit nicht fortsetzen.“
Gab es für Habeck vielleicht noch einen anderen Grund, nun nach all den früheren Treuebekundungen doch noch Abstand von seinem Rückhalt zu nehmen? Der Minister deutete es in seinem letzten Satz am Mikrofon selbst an: „Also ich hätte nicht meinen Trauzeugen jetzt als Staatssekretär berufen.“
Dank für Graichens „überaus großen Einsatz“
Zuvor hatte Habeck Graichen ausdrücklich für seine „großen Leistungen für dieses Land“ gedankt: Er habe „durch seinen überaus großen Einsatz Deutschland vor einer Gasmangellage bewahrt und maßgeblich dazu beigetragen, eine Wirtschaftskrise abzuwenden. Er hat die Energiewende wieder flott gemacht und Klimaschutz zum Regierungshandeln.“
Habeck äußerte zudem „große Sorgen“ über den Druck, der in den vergangenen Wochen auf seinem Vertrauten gelastet habe: Graichen sei „über das berechtigte Maß an Kritik und Aufklärung […] angefeindet“ worden. „Mitunter rechtsextreme Accounts“ hätten „Lügen über die Familie verbreitet“, die „von prorussischen Accounts weiter gepuscht“ worden seien. Das sei für ihn „unerträglich“.
Rückhalt verloren
Noch vor wenigen Tagen hatte sich Habeck schützend vor seinen wohl wichtigsten und einflussreichsten Staatssekretär gestellt.
Graichen war vor einigen Wochen ins Scheinwerferlicht geraten, weil er dabei geholfen hatte, seinen eigenen Trauzeugen, Michael Schäfer, ins Amt des Geschäftsführers der bundeseigenen „Deutschen Energie-Agentur“ (dena) zu hieven. Während des Bewerbungsverfahrens hatte Graichen seine Beziehung zu Schäfer verschwiegen. Schon bei Bekanntwerden dieses Vorfalls waren Rücktrittsforderungen laut geworden – nicht nur gegen den Staatssekretär, sondern auch gegen Habeck, der als Minister die politische Verantwortung für die Geschehnisse in seinem Hause trägt.
Habeck will „aktives Nachfragen“ zum Standard machen
Gegen Ende der Pressekonferenz gelobte Habeck Besserung in Sachen Compliance: Bei zukünftigen Stellenvergaben werde man stets „aktiv“ danach fragen, ob bereits Verbindungen zu einem der Kandidaten existierten. „Ich glaube, dieses aktive Abfragen ist ein Schritt, den wir insgesamt einführen sollten, und ansonsten sind natürlich auch alle gewarnt, durch die aktuelle Debatte sich auf Herz und Nieren zu überprüfen.“
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