Derussifizierung: Ukrainer bringen russische Bücher in die Abfallverwertung

Immer mehr russische Bücher wandern in der Ukraine ins Altpapier. Mit dem Erlös unterstützen die Ukrainer Soldaten an der Front. Russische Musik ab 1991 wurde verboten, die Sprache aus den Lehrplänen gestrichen.
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Russischsprachige Bücher, soweit das Auge reicht: Der Kiewer Buchladen „Sjaivo Knichi“ gab mehr als 57 Tonnen russischsprachige Bücher bei einem Altpapierbetrieb ab. Das Foto wurde am 18. September 2022 in Kiew aufgenommen.Foto: SERGEI SUPINSKY/AFP via Getty Images
Von 16. Januar 2023


Seit Beginn des Ukraine-Krieges wächst das anti-russische Sentiment in der Ukraine. Viele Ukrainer entsagen allem Russischen: Russische Musik, Filme, Inhalte im Internet sowie Bücher sind verpönt. 

Viele ethnische Russen im Land schwören der russischen Sprache ab, lernen Ukrainisch und versuchen auch im Alltag, nur Ukrainisch zu sprechen, wie etliche Videos im Internet zeigen.

Russischsprachige Bücher landen im Altpapier

Bibliotheken, Schulen, Bücherläden und auch Privatpersonen im ganzen Land entledigen sich ihrer russischen Literatur. Überall gibt es Sammelstellen für russischsprachige Bücher, die schließlich an Altpapierbetriebe verkauft werden. Von dem Erlös wird Ausrüstung für ukrainische Streitkräfte finanziert.

Auch das Kiewer Buchgeschäft „Sjaivo Knichi“ startete im Juli vergangenen Jahres eine Sammelaktion. Auf der Facebookseite des Ladens heißt es dazu: „Für viele Menschen ist es undenkbar, unmöglich und fremd geworden, russische Bücher zu lesen. Sie werden sie zwar nicht mehr lesen können, doch eine Person mit guten Manieren und einer hohen Moral wird es sich nicht erlauben, ein Buch wegzuwerfen.“

Innerhalb von eineinhalb Monaten beteiligten sich mehr als 1.700 Menschen an der Aktion. Sie gaben rund 25 Tonnen russische Bücher ab – dazu gehörten klassische Literatur russischer Autoren wie Puschkin, Tolstoi und Dostojewski, russische Märchen, russischsprachige Zeitschriften und vieles mehr. Doch auch russische Übersetzungen internationaler Klassiker von Alexander Dumas, Ernest Hemingway, Walter Scott und anderen wurden recycelt.

Das brachte 98.000 Hrywnja (etwa 2.500 Euro) ein. Jeder Teilnehmer der Sammelaktion erhielt 10 Prozent Rabatt auf jedes ukrainische Buch im Laden. Die ukrainische Zeitung „Rubrika“ berichtete. 

Das Geschäft setzte die Sammelaktion fort: Bis zum 6. Januar kamen 57 Tonnen Bücher zusammen. Von dem Erlös wurde ein Geländewagen gekauft und in Richtung Front geschickt, schreibt die Stadtverwaltung von Kiew auf Telegram.

„Keine Bücherverbrennung, sondern Wiederverwertung“

Ein weiterer Geländewagen kam aus der zentralukrainischen Stadt Kropywnyzkyj. Dort wanderten rund 15 Tonnen russische Bücher ins Altpapier.

Sammelaktionen für russische Bücher gab es auch in der Westukraine; die Jugendbibliothek von Lwiw rief zum Sammeln auf. Die Direktorin der Bibliothek Tetjana Pilipec erklärte dazu, dass es sich bei der Aktion um keine Bücherverbrennung handle.

„Man fragt uns, ob wir russische Bücher verbrennen. Nein, wir recyceln sie für die fantastischen ukrainischen Streitkräfte“, sagte sie.

„Sag nein zur russischen Literatur“

Ähnliche Worte gab es auch aus der Jugendbibliothek in Luzk im Nordwesten der Ukraine. Die Bibliothek startete im September die Aktion „Sag nein zur russischen Literatur“. Innerhalb von vier Monaten kamen rund zwei Tonnen russischsprachige Bücher zusammen, die 7.010 Hrywna (rund 180 Euro) einbrachten, schrieb die ukrainische Zeitung „Suspilne Novyny“.

In der Bücherei seien nur noch ukrainische Bücher ausgestellt, meinte die Direktorin Alla Jefremowa. Ein Großteil der russischen Bücher wanderte ins Altpapier, der Rest ins Lager. Viele russischsprachige Bücher im ausrangierten Bestand stammten aus der Sowjetzeit und würden sowjetische Ideen fördern, erklärte die Direktorin.

„Dies ist die Idee eines großen Russlands, die Idee, dass Russisch wichtig ist. Und heute haben diejenigen, die das erkannten, begonnen, mehr ukrainische Literatur zu lesen“, fügte sie hinzu. 

Die Künstlerin Olena Zwjachincewa äußerte sich ähnlich. Ihr zufolge sei die sowjetische Literatur voller Propaganda und habe keinen künstlerischen Inhalt.

„Wir verschenken viele Bücher, damit sie nicht verbrannt, sondern wiederverwertet werden. Sollen sie doch der Ukraine dienen“, so die Künstlerin, die sich an der Sammelaktion beteiligt hatte und in der Bibliothek einen Malkurs für Kinder gibt.

russische Bücher

„Derussifizierung“ in der Ukraine: Eine Frau entledigt sich ihrer russischsprachigen Literatur. 18. September 2022, Kiew. Foto: SERGEI SUPINSKY/AFP via Getty Images

Gesetze gegen die „russische Welt“

Neben persönlichen Aktionen gegen alles Russische gab es auch Reaktionen auf staatlicher Ebene. Am 19. Juni 2022 trat ein Gesetz in Kraft, das den Import und Verkauf von Büchern aus Russland, Belarus und den von Russland eingenommenen Gebieten verbietet. Ferner dürfen keine Bücher russischer Staatsbürger mehr in der Ukraine gedruckt werden. Werke „toter Russen“, wie Alexander Puschkin oder Fjodor Dostojewski, sind von diesem Verbot ausgenommen.

Dieses Gesetz werde die „russische Welt“ davon abhalten, „unseren Büchermarkt von innen einzunehmen“, meinte der ukrainische Abgeordnete Wolodymyr Wiatrowych, wie die ukrainische Zeitung „Obozrevatel“ im vergangenen Juni berichtete.

Am gleichen Tag trat auch das Verbot russischer Musik in den Medien und im öffentlichen Raum in Kraft, die nach 1991 (dem Zerfall der Sowjetunion) komponiert wurde.

Ferner nahmen alle Schulen in Kiew am 1. September 2022 Russisch von ihrem Lehrplan. Andere Städte führten ähnliche Regelungen ein und verboten zudem Russisch-AGs an Schulen. Außerdem eröffneten Städte im Westen der Ukraine sogenannte „Sprachlager“, um Kinder aus der Ostukraine beim Erwerb von Ukrainisch zu unterstützen.

Kampf gegen die russische Sprache

Die Zerstörung alles Russischen begann in der Ukraine nicht erst im Februar 2022, sondern schon ab dem Euromaidan im Jahr 2014. Damals verlor Russisch seinen Sonderstatus in allen Gebieten mit einer russischsprachigen Bevölkerung von über zehn Prozent.

Seit 2016 mussten alle Radiostationen eine bestimmte Quote an ukrainischer Musik spielen. Bei Stationen mit vorwiegend russischer Musik lag die Quote bei 35 Prozent, bei Stationen mit europäischer Musik bei 25 Prozent. Seit 2017 gab es Ukrainisch-Quoten im Fernsehen. 75 Prozent aller Beiträge musste auf Ukrainisch erfolgen. Auf Kanälen von Minderheiten lag diese Quote bei 30 Prozent.

Ukrainisch steht über allem

Im gleichen Jahr wurde ein neues Bildungsgesetz verabschiedet, das den Unterricht in russischer Sprache immer mehr einschränkte. Bis 2020 sollte in allen Schulen kein Russisch mehr unterrichtet werden.

Da das Gesetz auch die Sprachen anderer Minderheiten wie Polen, Rumänen, Bulgaren, Ungarn und andere umfasste, hagelte es international Kritik, wie „Radio Free Europe“ berichtete.

In dem Bericht erklärte der Sprecher des Ministerpräsidenten von Transkarpatien, einem Gebiet mit einer großen ungarisch sprechenden Bevölkerung: „Wir verstehen, dass dieses Gesetz in erster Linie gegen die russische Sprache gerichtet ist, weil sie in der Hauptstadt und in den östlichen Regionen vorherrscht. Aber in Transkarpatien trifft es die nationalen Minderheiten.“

Aus Russland hieß es dazu: Das Gesetz ziele darauf ab, „mit Gewalt ein monoethnisches Sprachenregime in einem multinationalen Staat zu etablieren.“

Auch der frühere Abgeordnete des ukrainischen Parlaments, Wadim Kolesnitschenko, sprach sich gegen dieses Gesetz aus. Er kommt von der Krim und setzte in der Ukraine als Abgeordneter mehrere Regelungen zum Schutz der russischen Sprache um.

In einem Interview mit der russischen Zeitung „Ukraina.ru“ erklärte er 2017: „Jetzt ist die russische Sprache in der Ukraine ein Zeichen für ‚Seperatismus’ und ‚Abscheulichkeit‘ – sie ist das Merkmal von Verbrechern.“ Doch unter dem Deckmantel der russischen Sprache werde auch alles weggefegt, was nicht Ukrainisch sei. „Ungarn und Rumänen, Polen und Bulgaren sind empört – weil Ukrainisch über allem steht. Alles andere wird zerstört“, fügte er hinzu.

Das zeigte sich 2019. Ukrainisch wurde zur alleinigen Amtssprache erklärt, der Gebrauch anderer Sprachen und insbesondere das Russische in offiziellen Dokumenten verboten.



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