EU wirbt für Chatkontrolle – mit Praktiken, die sie selbst verbieten will

Mikrotargeting gehört zu jenen Innovationen im Werbebereich, denen die EU den Kampf angesagt hat. Nun hat sie selbst zu dieser Methode gegriffen, um die Bevölkerung im Zusammenhang mit ihren Plänen zur Chatkontrolle zu manipulieren.
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Die EU strebt unter dem Banner des Kampfes gegen Kindesmissbrauch eine umfassende Chatkontrolle an. Symbolbil.Foto: iStock
Von 23. Oktober 2023

Trotz wachsender Kritik hält die EU-Kommission an ihren Plänen in Sachen Chatkontrolle fest. Nachdem sich jüngst abgezeichnet hatte, dass ihr Vorstoß für eine entsprechende Verordnung in mehreren Ländern auf Widerstände stößt, hat sie dort eine massive Werbekampagne gestartet. Dabei soll sie nicht nur inhaltlich manipulativ agiert haben. Sie soll zudem Methoden wie das Mikrotargeting angewendet haben. Diesem wollte sie bislang durch ihr Gesetz über digitale Dienste (DSA) und ihre Datenschutzverordnung den Garaus machen.

Erhebliche Bedenken des Juristischen Dienstes des Rats gegen Chatkontrolle

Anlass dafür ist die geplante EU-Verordnung zur Prävention und Bekämpfung des sexuellen Missbrauchs von Kindern. Das Anliegen selbst ist unter den Mitgliedstaaten nicht umstritten. Umso mehr sind es jedoch die Methoden, die dabei nach dem Willen der Kommission zur Anwendung kommen sollen.

So fasst die EU-Kommission unter anderem ins Auge, digitale Plattformen wie WhatsApp zum proaktiven Erkennen und Melden entsprechenden Materials zu verpflichten. Die entsprechenden Aufspürungsbefehle würden jedoch eine Aufhebung der End-to-End-Verschlüsselung voraussetzen.

Kritiker sehen in der damit verbundenen umfassenden Chatkontrolle mittels sogenannter Client Side Scanner eine anlasslose und verpflichtende Überwachung privater Kommunikation. Der Juristische Dienst des Rats der EU hatte ebenfalls erhebliche Bedenken geäußert.

Deutschlands Ampelregierung hatte sich auf Druck der FDP gegenüber dem Vorhaben reserviert gezeigt. Widerstände gab es jedoch auch aus anderen Ländern – etwa den Niederlanden, Schweden, Belgien, Finnland, Slowenien, Portugal und der Tschechischen Republik.

Manipulierte Umfrage zur Beeinflussung der Stimmung in Zielländern?

Für die EU-Kommission war dies offenbar ein Anlass, gerade dort noch einmal die Öffentlichkeit zu mobilisieren. Zu diesem Zweck griff sie zu einer umfangreichen Werbekampagne. Mehr als drei Millionen Mal schaltete sie im September in sozialen Medien der genannten Länder Spots. Diese sollten auf emotionale Weise die Notwendigkeit harter Regulierungen gegen Kindesmissbrauch illustrieren.

In dem Werbespot zitiert Innenkommissarin Ylva Johansson auch Umfragen, wonach eine Mehrheit der Bürger der Niederlande Maßnahmen zur Erkennung von Kindesmissbrauch befürworte. Zudem würde eine Mehrheit diese Aufgabe für wichtiger erachten als den Schutz der Privatsphäre – auch mittels End-to-End-Verschlüsselung.

Auf X haben Nutzer den Spot als „irreführend“ markiert – und eine Mehrheit stimmte dieser Einschätzung zu. Die EU habe eine Umfrage zitiert, in der lediglich nach der Notwendigkeit der Onlinesuche von Missbrauchsbildern gefragt worden sei. Nebenwirkungen wie eine umfangreiche Chatkontrolle fanden dabei keine Erwähnung. Sobald diese bekannt waren, sahen die Ergebnisse anders aus.

EU-Werbung zu Chatkontrolle ging nicht an Datenschutzinteressierte, Euroskeptiker – und Christen

Der Digitalexperte Danny Mekić enthüllte aufgrund einer Recherche in den Transparenzberichten von X zudem, dass die EU das Zielpublikum sehr spezifisch ausgewählt hatte. Demnach hat man Mikrotargeting nach politischen und religiösen Kriterien betrieben.

Die Anzeigen erschienen nicht bei Personen, denen Datenschutz augenscheinlich wichtig war – unter anderem solchen, die sich für Julian Assange interessierten. Zudem schloss man Personen aus, die Euroskeptiker mit Likes bedacht hatten. Außerdem schloss man Personen aus, die sich für das Christentum interessierten. Warum die EU-Kommission diese nicht über ihre Vorhaben unterrichten wollte, bleibt unklar.

Mikrotargeting dieser Art gilt für die EU-Kommission als rotes Tuch, seit Donald Trump mithilfe von Cambridge Analytica auf diese Weise erfolgreich Wahlkampf betrieben hatte. Durch das DSA und die EU-Datenschutzgrundverordnung sollte dieses Vorgehen in Europa strikt unterbunden werden.

Nun scheint Brüssel selbst darauf zurückgegriffen zu haben – frei nach dem altrömischen Grundsatz: „Quod licet Iovi non licet bovi.“ (Was dem Jupiter erlaubt ist, ist dem Rindvieh nicht erlaubt) Der Europäische Datenschutzbeauftragte (EDSB) bestätigte gegenüber „Euractiv“, dass man sich im Rahmen eines sogenannten Voruntersuchungsverfahrens an die Kommission gewandt habe. Ob es zu einem förmlichen Prüfverfahren komme, stehe noch nicht fest.



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