„Europäische Demokratie in der Sackgasse“ – Ungarn als letzter Freiheitskämpfer?

Das direkt gewählte Europäische Parlament soll abgeschafft, die Souveränität der Länder und christliche und nationale Werte verteidigt werden. Das regt das ungarische Parlament an. Die kosmopolitisch und technokratisch angelegte EU gefährde diese Werte. Eine Rückkehr der EU als Wirtschafts- und Transferunion?
Orbán kritisiert die EU und macht konkrete Reformvorschläge.
Europäisches Parlament in Straßburg. Symbolbild.Foto: iStock
Von 2. August 2022


Die ungarische Regierung unter Viktor Orbán hat konkrete Vorstellungen von der Zukunft der EU. Das wurde in Form von Reformpunkten in einer jüngsten Entschließung des Parlaments zum Ausdruck gebracht.

Die Erklärung, die christliche und nationale Interessen verteidigt, fordert die Autonomie der Mitgliedsstaaten im Sinne der politischen Unabhängigkeit und eine EU, die sich auf eine Wirtschafts- und Transferunion beschränken sollte.

Die Entschließung ist auch eine Kritik an der kürzlich abgeschlossenen Reihe von Konferenzen, auf denen Ideen für die Zukunft der EU mit den EU-Bürgern diskutiert wurden. Nach Ansicht der Orbán-Regierung war die Konferenz eine Enttäuschung, eine Kampagne kosmopolitischer und technokratischer Interessen, die letztlich zum „Untergang Europas“ führen werde.

Konferenz über die Zukunft Europas

Diese kürzlich abgeschlossene Konferenz über die Zukunft Europas sollte Aufschluss darüber geben, was die EU-Bürger für die größten Herausforderungen der Zukunft halten und wie die Europäische Union darauf vorbereitet werden kann.

„Das Europäische Parlament, der Rat und die Europäische Kommission haben sich verpflichtet, den Menschen in Europa Gehör zu schenken und deren Empfehlungen im Rahmen ihrer Zuständigkeiten zu berücksichtigen“, heißt es auf der Website der Konferenz.

Die Veranstaltungsreihe, die im März 2021 begann, endete im Mai dieses Jahres. Bürgerinnen und Bürger aus EU-Ländern konnten an den Veranstaltungen, die größtenteils online stattfanden, kostenlos teilnehmen. Angesichts der Möglichkeit der direkten Beteiligung der EU-Bürger sind viele der Meinung, dass diese Konferenz tatsächlich eine neue Ära in der Verwirklichung der Demokratie eingeleitet hat. Laut „euronews“ teilen auch viele Delegierte diese Sichtweise.

Es wurden Vorschläge zu allen vorrangigen Bereichen der Unionsbürgerschaft unterbreitet. Die Veranstaltung wurde mit einem Bericht abgeschlossen, in dem die Ereignisse dokumentiert und Schlussfolgerungen gezogen wurden. Die Frage ist, inwieweit die Vorschläge der EU-Bürger realisierbar sind und in vielen Fällen sie eine Überarbeitung der EU-Verträge erfordern würden.

So betrifft „einer der wichtigsten Vorschläge“ die Abschaffung des Vetorechts in der EU. „Wir tun zu wenig und zu spät, weil Entscheidungen einstimmig getroffen werden müssen“, kritisiert der belgische Jurist Guy Verhofstadt. Die Effizienz der Union hänge häufig genau von dieser Veto-Möglichkeit der Mitgliedsstaaten ab.

Orbáns Reformpläne

Auch das Dokument der ungarischen Regierungspartei und die später angenommene Entschließung enthalten konkrete Reformvorschläge für eine effizientere Arbeitsweise der EU. Die Vorschläge spiegeln die klare Politik Orbáns wider, sich auf die kommenden Herausforderungen vorzubereiten und ein Konzept für die EU darzulegen.

„Das Parlament bedauert, dass die Konferenz [über die Zukunft Europas] anstelle eines offenen und demokratischen Dialoges […] zum Diener der politischen und ideologischen Ambitionen von Kräften geworden ist, die an der Abschaffung der Souveränität der Mitgliedsstaaten und an der Stärkung der Macht der EU-Bürokratie interessiert sind“, beginnt der Beschlussfasser.

Die Reformpunkte des Beschlusses sind:
  • Das Ziel einer „immer engeren Union“ sollte aus den Verträgen gestrichen werden. Integration ist […] ein Mittel zur Verwirklichung unserer nationalen Freiheit.
  • Die christlichen Wurzeln und die christliche Kultur Europas sind die Grundlage der europäischen Integration, ein moralischer Kompass in einer Zeit der Unsicherheit. Dieser Grundsatz muss sich in den Verträgen widerspiegeln.
  • Eine gemeinsame europäische Armee soll als Hort der europäischen Sicherheit aufgebaut werden.
  • Das Recht aller Völker, zu wählen, mit wem sie in ihrem eigenen Land zusammenleben wollen, muss auf Vertragsebene garantiert werden.
  • Die Verträge müssen ein Verbot weiterer EU-Schulden enthalten.
  • Die Mitglieder des Europäischen Parlaments müssen in die nationalen Parlamente entsandt werden, um eine echte politische Legitimität zu gewährleisten.
  • Die nationalen Parlamente müssen die Möglichkeit haben, unerwünschte EU-Gesetze zu verhindern, und die nationalen Regierungen und Parlamente müssen die Möglichkeit haben, EU-Gesetzgebungsverfahren einzuleiten.

Orbán: Untergang Europas stoppen

Um die Hintergründe der jüngsten Entscheidung zu verstehen, lohnt sich ein Blick auf die Rede Orbáns vom Juni 2021, die er anlässlich des ungarischen Unabhängigkeitstages hielt. Eine der größten Lektionen der ungarischen Geschichte sei die Art und Weise, wie sich das ungarische Volk gegen den Kommunismus erhoben hat.

„Wir wissen, dass die Freiheit nicht gekommen ist, sondern erkämpft wurde. Der Kommunismus ist nicht umgestürzt worden, sondern wir haben ihn gestürzt. Die Berliner Mauer ist nicht gefallen, wir haben sie zu Fall gebracht. Die Sowjets sind nicht rausgegangen, wir haben sie rausgedrängt. Geschickt, ohne Blutverlust, mutig und listig haben wir umgestürzt, niedergedrückt, verdrängt und ausgekämpft“, sagte Orbán mit Blick auf die Virtus, die Ungarn von der Unterdrückung befreit hat.

Laut Orbán liegt der Schlüssel für die Zukunft Europas genau in dieser aktiven Rolle, die sich auf die Stärke der einzelnen Staaten stützt. Die Europäische Union wurde als ein politisches Konstrukt geschaffen, um die wirtschaftlichen und militärischen Interessen ihrer Länder zu verteidigen, so der ungarische Ministerpräsident weiter.

Wir wissen, dass die Europäische Union jetzt, wo sie in Schwierigkeiten steckt, nicht in der Lage ist, sich zu bessern, zu verändern und zu korrigieren. Es liegt an uns, sie zu reparieren, sie umzuwandeln und sie auf den richtigen Weg zurückzubringen.“

Die Rede umfasst auch Einzelheiten zu den Rückschlägen in der Entwicklung der EU. Er erwähnt unter anderem, dass unter den 50 größten Unternehmen der Welt in 2001 noch 14 europäische Unternehmen waren, heute sind es nur noch sieben. Er betont, dass die EU nicht zu den zehn wichtigsten Finanzzentren der Welt gehört.

„Hauptgegner des Brüsseler Zentralismus“

Katarina Barley (SPD), Vizepräsidentin des Europäischen Parlaments, hat bereits am Anfang der Konferenz über die Zukunft der EU starke Kritik gegen Orbáns Aussagen betreffend der EU-Reform in einem Gastbeitrag der „Welt“ formuliert:

„Die EU-Institutionen [haben im] letzten Monat eine beispiellose Übung direkter Demokratie gestartet: Bürgerinnen und Bürger aus ganz Europa nehmen gemeinsam mit gewählten Vertreterinnen und Vertretern daran teil. Unterdessen schaltete Ungarns Ministerpräsident in einem Dutzend europäischer Zeitungen eine Anzeige, in der er die Europäische Union und insbesondere das Europäische Parlament denunziert.“

Laut der Vizepräsidentin stelle Orbán EU-Grundsätze wie Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören, infrage.

Zuletzt hatte die EU-Kommission Ungarn auch wegen der Diskriminierung von Homo- und Transsexuellen verklagt. Es wurde auch heftig kritisiert, dass Ungarn zuletzt auch ein gemeinsames Vorgehen der EU gegen Russland blockierte.

Orbán wird in der Tat als „Hauptgegner des Brüsseler Zentralismus“ porträtiert. In einem Interview mit der Epoch Times sagte Dr. Gerhard Papke, Präsident der Deutsch-Ungarischen Gesellschaft dazu, dass in der deutschen Berichterstattung auch das Bild des angeblich „bösen Rechtspopulisten“ Orbán gepflegt wird. Er betonte aber, dass Ungarn seit Jahren zu den wachstumsstärksten Volkswirtschaften in Europa gehört.

Folgt dem Brexit der Huxit?

„Strebt Orbán unbegrenzte Macht an? Es ist nicht sein Ziel, es ist bereits geschehen“, so Tamás Bauer, Wirtschaftswissenschaftler, Universitätsprofessor und ehemaliger Politiker der Sozialdemokratischen Partei in der Sendung „Megbeszéljük“.

Laut Bauer hat Orbán in den letzten zwölf Jahren die Erfahrung gemacht, dass ihm die EU-Mitgliedschaft alle möglichen Beschränkungen bei der Ausübung seiner Macht auferlegt. „Es könnte sein, dass Orbán keinen Grund mehr hat, in der EU zu bleiben“, sagte Bauer.

Der ehemalige Zentralbankpräsident András Simor analysierte kürzlich in einem Artikel für die Zeitung „Jelen“ die Möglichkeit eines EU-Austritts Ungarns aus finanzieller Sicht. Darin heißt es:

Orban wird jeden Stein umdrehen, um dieses Geld [der EU] freizugeben, wie er es in der Vergangenheit getan hat.“

Zu seiner Überraschung habe Ungarn nicht den Weg der gegenseitigen Kompromisse, sondern den des Kampfes und der Konfrontation eingeschlagen. Seiner Ansicht nach gibt es für die EU zwei Möglichkeiten: „Entweder wird ein weiterer prinzipienloser Kompromiss geschlossen, Orbán werden einige scheinbare Zugeständnisse abverlangt, die er dann wie üblich mit anderen Maßnahmen neutralisiert“, oder Orbán tritt aus.

Freiheit für Ungarn, Freiheit für die EU

Was die Stimmen der Regierung betrifft, so wurde in diesem Jahr eine Erklärung von Zoltán Kovács, Staatssekretär für Regierungskommunikation, abgegeben. In seiner Erklärung im Februar bestritt Kovács ausdrücklich, dass Orbán Pläne habe, Ungarn aus der EU herauszuführen. Die Botschaft des ungarischen Premierministers zur Rolle Ungarns ist klar und deutlich ausgedrückt:

Wir waren schon immer die Freiheitskämpfer Europas. Wir haben für die Freiheit gekämpft und unsere westlichen Freunde haben sie geerbt. Was für ein Unterschied! […] Vor dreißig Jahren dachten wir, Europa sei unsere Zukunft. Heute sehen wir, dass wir die Zukunft Europas sind. […] Gerade Freiheitskämpfer wie uns braucht die Europäische Union heute wieder.“

Laut einer vom Meinungsforschungsinstitut Medián Ende Mai durchgeführten landesweiten repräsentativen Umfrage befürworten fast neun Zehntel der ungarischen Bevölkerung die EU-Mitgliedschaft des Landes und zwar fast unabhängig von der Parteizugehörigkeit.



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