Europol-Chefin De Bolle: „Drogenbanden infiltrieren unsere Gesellschaften“

Die Leiterin der EU-Polizeibehörde sieht die Rechtsstaatlichkeit durch Drogenkartelle in Gefahr und registriert eine Zunahme der Gewaltkriminalität. Sechs europäische Länder, darunter Deutschland, bilden eine „Koalition zur Verbrechensbekämpfung“.
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Europol-Chefin Catherine De Bolle befürchtet eine massive Zunahme von Drogenkriminalität in Europa.Foto: Benoit Doppagne/BELGA MAG/AFP Getty Images
Von 6. Juli 2023

Könnte es in Europa bald ähnliche Strukturen geben, wie etwa in manchen Teilen Südamerikas, wo Drogenkartelle bereits vor Jahren die Macht an sich gerissen haben? Europol-Chefin Catherine De Bolle fürchtet jedenfalls um die Rechtsstaatlichkeit auf dem europäischen Kontinent.

Es bestehe die Gefahr, dass diese von Drogenbossen untergraben wird, wenn es den EU-Staats- und Regierungschefs nicht gelinge, den Kampf gegen die Drogenkriminalität zu verstärken. De Bolle ist seit 2018 Chefin von Europol. Zuvor war sie Leiterin der belgischen Bundespolizei. Zudem ist sie eng mit dem „World Economic Forum“ (WEF) verbunden.

USA als Hauptzielmarkt abgelöst

Europa habe die USA als Hauptzielmarkt für internationale Drogenhändler längst abgelöst, sagte De Bolle gegenüber „Politico“. Sie erwarte, dass die Drogeneinfuhren in den nächsten zwei Jahren angesichts einer Produktionsschwemme in die Höhe schnellen.

Die Folgen seien eine Zunahme an Gewalt und schleichende Korruption an mehreren Drogenumschlagplätzen. Dazu gehört etwa der Hafen von Antwerpen in Belgien.

Kriminelle Banden versuchten zunehmend, Logistikunternehmen, lokale Behörden und sogar das Justizsystem zu infiltrieren, warnte De Bolle. „Wir sehen, dass die Europäische Union im Vergleich zu den Vereinigten Staaten wichtiger geworden ist. Die europäischen Länder sind im Moment vorherrschend“, sagte sie.

Route aus dem Nahen Osten führt durch Bulgarien

Die Warnung von De Bolle, einer ehemaligen Chefin der belgischen Bundespolizei, kommt zu einem Zeitpunkt, in dem die EU mit zahlreichen Herausforderungen für die Rechtsstaatlichkeit in der Union konfrontiert ist.

Dazu gehören auch Länder wie Bulgarien, das an einer wichtigen Drogenimportroute aus dem Nahen Osten liegt und in dem das organisierte Verbrechen weithin als mit der Regierung verflochten gelte.

Das Problem verschärfte sich jedoch nicht nur in Mittel- und Osteuropa. Betroffen seien auch West- und Nordeuropa, etwa die Niederlande, Spanien oder Schweden. „Rotterdam und Antwerpen sind für die kriminellen Gruppen sehr wichtig. Aber je mehr wir in großen Häfen arbeiten, desto mehr sehen wir, dass es auch kleinere Häfen wie Hamburg oder Häfen in Spanien gibt, die für die Drogenhändler sehr lukrativ und interessant sind“, führt De Bolle aus.

„Schwere Gewalt mit vielen Toten“

Eine unmittelbare Auswirkung des Zusammenschlusses von Drogenexportkartellen aus Südamerika mit Mafiagruppen in Europa sei eine Zunahme der Gewaltkriminalität. „Was uns wirklich Sorgen macht, ist die Zunahme der Gewalt.“

Dazu gehörten Auftragsmorde, Folter, Sprengstoffattentate. „Wirklich harte und schwere Gewalt mit vielen Toten“, betonte die Europol-Chefin, ohne allerdings konkrete Zahlen zu nennen. Vielmehr belässt sie es bei ein paar Beispielen.

So hätten in mehreren europäischen Ländern Morde für Aufsehen gesorgt. Als Beispiel nennt „Politico“ die Taten, denen der Rechtsanwalt Derk Wiersum (2019) und der Kriminaljournalist Peter R. de Vries (2021) zum Opfer fielen. Nach Wiersums Tod habe die Regierung versprochen, „hart gegen Drogenbanden vorzugehen“.

In Belgien seien Pläne, den Justizminister des Landes zu entführen, vereitelt worden. Im Zusammenhang mit Drogendelikten sei zudem ein elf Jahre altes Mädchen getötet worden.

Alarmglocken schrillen auch in Schweden, Spanien sowie in Deutschland, wo sich laut De Bolle der Hamburger Hafen zu einem wichtigen Ziel für Schlepper entwickelt habe. Das Problem für die Staats- und Regierungschefs der EU bestehe darin, dass Menschenhändler in jedem dieser Krisenherde nach und nach die Rechtsstaatlichkeit untergraben, indem sie Logistikarbeiter korrumpieren, IT-Systeme übernehmen, die lokale Regierung und sogar die Gerichte und die Polizei infiltrieren, sagte sie.

Ein Hafen voller korrupter Mitarbeiter

„Wir haben einen Hafen entdeckt, in dem alle korrumpiert waren. Wenn wir bestimmte Bereiche aufgeben, kann es zu wirklich kniffligen Situationen kommen, in denen die Kriminellen die Macht übernehmen“, erläutert De Bolle. Um welchen Hafen es sich handelt, wollte sie nicht offenbaren.

Die Drogenbanden „infiltrieren unsere Gesellschaften. Sie wollen über große Themen in unserer Gesellschaft entscheiden“, erläutert sie. Der Kampf dagegen müsse in den kommenden Jahren Priorität haben, um die „gefährdeten Gruppen“ zu schützen.

Derzeit nehme der Konsum von Fentanyl, einem extrem starken synthetischen Opioid, zu. Die Europäische Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht (EBDD) hat einen verstärkten Verbrauch in Ländern wie Deutschland, Schweden, Estland oder Finnland beobachtet. In den Vereinigten Staaten sei die Droge noch stärker verbreitet und für eine große Anzahl von Todesfällen verantwortlich.

800 Verhaftungen bei Razzia

Angesichts der sich verschlimmernden Situation verstärkten die Staats- und Regierungschefs der EU sowie die Leiter der Strafverfolgungsbehörden ihre Bemühungen bei der Bekämpfung der Ausbreitung des Drogenhandels.

Im Jahr 2021 führte eine großangelegte, länderübergreifend koordinierte und auf verschlüsselte Telefone ausgerichtete Razzia zu rund 800 Verhaftungen, viele davon in Europa. Und die Staats- und Regierungschefs von sechs europäischen Ländern (Deutschland, Belgien, Frankreich, Italien, Spanien, Niederlande) bildeten eine „Koalition zur Verbrechensbekämpfung“.

Die führenden Politiker müssten dem Kampf gegen das organisierte Verbrechen jedoch eine noch größere Priorität einräumen, wenn sie verhindern wollen, dass die Bürger das Vertrauen in das System verlieren, warnte De Bolle. „Wir befinden uns in einer sehr schwierigen Situation“, sagte sie. „Wir sind im Rückstand.“



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