Ex-Diplomat: Es ist wahrscheinlicher, dass China Indien angreift als Taiwan

Der 74-jährige Ex-Diplomat Rajiv Dogra hat sieben Bücher geschrieben, darunter ein preisgekröntes über Afghanistan. Seine politische Expertise hat er durch seine langjährige Arbeit als Botschafter und Hochkommissar in mehreren Ländern der Welt gewonnen. In einem neu erschienenen Buch analysiert er die Gefahren durch China als aufstrebende Weltmacht. In einem Exklusivinterview mit der Epoch Times erklärte er, wie er Pekings nächste Schritte einschätzt.
Ein chinesischer Soldat hält an der Nathu Grenze zwischen China und Indien Wache.
Das Foto wurde am 10. Juli 2008 aufgenommen. Ein chinesischer Soldat hält an der Nathu Grenze zwischen China und Indien Wache.Foto: DIPTENDU DUTTA/AFP via Getty Images
Von 14. Juli 2022

Nach dem Einmarsch Russlands in der Ukraine wächst die Sorge, dass das chinesische Regime einen ähnlichen Angriff auf Taiwan startet. Der indische Buchautor und langjährige Ex-Diplomat Rajiv Dogra sieht die wahren Gefahren jedoch woanders.

Das Fazit seines jüngsten Werks: „WARTIME: The World in Danger“ [zu Deutsch: „Kriegszeit: Die Welt ist in Gefahr“]: Es ist wahrscheinlicher, dass Peking in naher Zukunft einen Angriff an der Grenze zu Indien startet, als dass es Taiwan angreift.

Der Experte ist sich sicher: Die derzeitige Ukraine-Krise und die Gefahr der Ausweitung des Krieges befeuern Pekings Ambitionen zur Weltherrschaft. „Während Amerika damit beschäftigt ist, die Russen in der Ukraine zu bekämpfen, ist China dabei, seinen Einfluss stetig auszubauen“, sagte Dogra in einem Exklusiv-Interview mit der Epoch Times.

Pekings Machtbestrebungen im indopazifischen Raum und sein Anspruch auf Taiwan seien besorgniserregend, Dogra ist jedoch überzeugt, dass die wirklichen Gefahren an der Nordgrenze Indiens liegen.

Seit dem blutigen Konflikt von Galwan im Jahr 2020 haben Indien und China ihre Streitkräfte entlang der umstrittenen Grenze in Ladakh verstärkt. 45 Opfer gab es damals auf beiden Seiten zu beklagen. Die 15 folgenden Gesprächsrunden brachten jedoch keine Fortschritte.

Der Britische Premierminister Boris Johnson, Frankreichs Präsident Emmanuel Macron und US-Präsident Joe Biden beim G7-Gipfel am 24. März 2022 in Brüssel, Belgien. Foto: Henry Nicholls – Pool/Getty Images

Für Peking „DIE Gelegenheit“

China sehe sich an einer historischen Wende in einem strategischen Spiel, in dem die Würfel zunehmend zu seinen Gunsten fallen, sagt Dogra. Biden sei von der Ukraine wie „besessen“. Die USA und der Westen würden sich hingegen in dem „ungewissen“ Ukraine-Krieg aufreiben. Das komme der Kommunistischen Partei Chinas (KPC) sehr gelegen.

Zudem ist sich der langjährige Ex-Botschafter sicher, dass Bidens unaufhörlicher Kampf gegen Russland, zu Stagnation, wirtschaftlichem Niedergang und steigender Arbeitslosigkeit in Europa führen wird. Amerika sei durch die Ukraine abgelenkt und habe keine soliden außenpolitischen Entscheidungen mehr vorzuweisen, wie es sie früher hatte, so Dogra.

Wie Kissinger kürzlich sagte: Das Verteufeln von Wladimir Putin des Westens ist KEINE Politik, sondern ein Vorwand, weil genau diese fehlt“.

Die jetzige Lage ist laut Dogra „DIE Gelegenheit“ für die KP Chinas, auf die sie lange gewartet hat. Die Gefahren für künftige Kriege sollten genau unter diesem Blickwinkel betrachtet werden.

USA rüstet an falscher Stelle auf

Wenn es Biden mit der Verteidigung Taiwans und der Gewährleistung der Freiheit im Pazifik ernst ist, dann müssten die USA ihre militärischen Ressourcen auch genau dort „angemessen“ positionieren, sagt der Autor. Aber das sei nicht der Fall.

„Zur Überraschung vieler hat der jüngste NATO-Gipfel eine erhebliche Aufstockung der US-Streitkräfte in Europa angekündigt. Und das, obwohl die USA allgemein bestätigt haben, dass die größte strategische Herausforderung für die USA von China ausgeht!“, warnt Dogra.

„Und all dies geschieht, obwohl Asien im kommenden Jahrzehnt ein weitaus größerer Markt für Amerika sein wird als jeder andere Teil der Welt. Sehr viel größer als Europa, der Nahe Osten oder Südamerika“, so der Experte.

Die verstärkte Militärpräsenz der USA in Europa umfasst aktuell mehrere Marinezerstörer in Spanien, zwei F-35-Kampfjetgeschwader in Großbritannien und eine militärische US-Basis in Polen. Bei einer Pressekonferenz in Spanien (29. Juni) sagte Biden dazu: „Die NATO wird jetzt mehr gebraucht als je zuvor.“

„Und Peking schaut genüsslich zu, wie sich die schlechten Nachrichten in der Welt häufen“, kommentiert Dogra den jetzigen Kurs des US-Präsidenten.

Wegen der Sanktionen kommt es zu Brüchen in der Weltordnung. Je länger sich der Ukraine-Konflikt hinzieht, desto besser ist es für die KP Chinas. ‚Das große Los‘ hätte China gezogen, wenn Russland quasi zu seinem Vorposten in Europa wird“.

„Sowohl die USA als auch Russland würden China dann praktisch den Rest der Welt als Spielwiese überlassen. Das ist der Moment, auf den China lange gewartet hat“, meint er. „Wie Mao [Zedong] sagte: ‚Alles unter dem Himmel ist vollkommen chaotisch; die Situation ist ausgezeichnet'“.

Krieg mit Taiwan

Die Wahrscheinlichkeit, dass China in naher Zukunft einen Krieg mit Taiwan anfängt, ist nach Ansicht des Ex-Botschafters gering. Ein Krieg um Taiwan wäre für Peking mit hohen wirtschaftlichen Kosten verbunden. Im Gegensatz dazu wäre ein indisch-chinesischer Krieg in den abgelegenen Himalaya-Höhen auf Militäroperationen beider Armeen beschränkt, sagt er.

Außerdem hat der Handel zwischen China und Taiwan trotz der angespannten Beziehungen stetig zugenommen. Im Jahr 2018 waren mehr als 100.000 taiwanische Geschäftsleute auf dem Festland tätig. Rund 40 Prozent aller taiwanischen Exporte gingen nach China. Im Jahr 2021 exportierte Taiwan Waren im Wert von 126 Milliarden Dollar nach China, während Indien Waren im Wert von 21 Milliarden Dollar nach China exportierte, sagt der Ex-Botschafter.

„China ist sich auch bewusst, dass Taiwan kein leichter Sieg sein würde. Vielmehr könnte das Militär auf große und lang anhaltende Widerstände stoßen“, schreibt Dogra in seinem Buch.

China weiß genau, dass ein Krieg um Taiwan auch die USA, Japan und Australien einbeziehen könnte und das wäre eine gewaltige Herausforderung. Denn trotz seines jüngsten militärischen Gehabes weiß es, dass diese Armeen nicht leicht zu überwinden sind“.

Logistische Hürden

Ein chinesischer Angriff auf Taiwan würde zudem auf große logistische Hürden stoßen, ähnlich wie der „logistische Sumpf“, in dem Russland jetzt feststeckt, meint Dogra. China könnte ebenfalls auf heftigen militärischen und öffentlichen Widerstand in Taiwan stoßen. Es kann Jahre dauern, Taiwan militärisch und politisch zu befrieden.

Aller Wahrscheinlichkeit nach wird China erst dann einen Krieg mit Taiwan beginnen, wenn es sicher ist, dass es ihn schnell gewinnen kann. Es will sich in einem längeren Konflikt keine ‚blutige Nase‘ holen und einen Reputationsverlust riskieren“.

Peking sei „natürlich entschlossen, in naher Zukunft eine Militäroperation zu starten“ – das ist sicher, so Dogra. Falls Peking tatsächlich gegen Taiwan in den Krieg zieht, würde es dafür einen Zeitpunkt wählen, an dem die USA anderweitig beschäftigt sind und keine Zeit haben, effektiv zu reagieren.

Wie in Dogras Buch steht, rechnet das US-Kommando in Honolulu innerhalb der nächsten sechs Jahre mit einem solchen Angriff. Die Taiwaner hingegen gehen von einer Invasion innerhalb der nächsten drei Jahre aus.

„Selbst wenn Taiwan trotz des hohen Preises eine Option wäre, könnte sich China zunächst für einen schnellen Sieg an anderer Stelle entscheiden. Um seine Stellung als asiatischer Hegemon zu festigen, muss es nicht lange suchen. Während Taiwan und China über zahlreiche Kontakte verfügen, kann man Indien und China bestenfalls als entfernte Nachbarn beschreiben“, so Dogra.

Krieg mit Indien

Die militärischen Beziehungen zwischen Indien und China sind angespannt. Die umstrittene Grenze ist seit sieben Jahrzehnten ein wunder Punkt in den Beziehungen. Das Verhältnis zwischen den beiden riesigen asiatischen Nachbarländer hat sich ernsthaft verschlechtert.

„[China] ist Indien ist in allen Aspekten weit überlegen – vom Militär bis zur Wirtschaft, von der Effizienz der Regierungsführung bis zur sozialen Kontrolle, von dem Selbstbewusstsein bis zur unmoralischen Durchsetzung seiner Zielen. In all diesen Bereichen ist Indien mit einem Ungleichgewicht konfrontiert“, schreibt er.

Rajiv Dogra, ein ehemaliger hochrangiger indischer Diplomat und Autor des Buches „WARTIME: The World in Danger“. Foto: Venus Upadhayaya/The Epoch Times

Indien und China: Märkte der Zukunft

Doch gebe es auch enorme Chancen. Die beiden Länder werden die größten Märkte der Zukunft sein. Die Mittelschicht in China und Indien könnte bis 2030 jährliche Ausgaben in Höhe von 14,1 Billionen Dollar beziehungsweise 12,3 Billionen Dollar tätigen. Das sei ein Riesenmarkt.

Dogra zufolge würden beide Länder daher von einer kooperativen statt einer konfliktreichen Beziehung profitieren. Dies scheint jedoch aufgrund ihrer konkurrierenden Ambitionen und gegensätzlichen strategischen Perspektiven unwahrscheinlich.

Bis dahin möchte China Indien zersetzen. Es auf seine regionale Identität zurückdrängen, es wirtschaftlich unterlegen halten und vor allem mit allen nicht-kriegerischen Mitteln in Schach halten. Aber es wird sich auf den nächsten Krieg vorbereiten“, schreibt er.

Krieg zwischen China und Indien zu 55 Prozent wahrscheinlich

Ein Team internationaler Finanzinvestoren unter der Leitung des führenden australischen Finanzökonomen, Christopher Joye, hat ein Modell zur Vorhersage künftiger Konflikte und Kriege entwickelt.

Ihrem Modell zufolge ist ein militärischer Konflikt niedriger Intensität im nächsten Jahrzehnt zwischen China und Indien zu 55 Prozent wahrscheinlich. Zwischen China und den USA liegt die Wahrscheinlichkeit bei 46 Prozent und zwischen den USA und Russland bei 30 Prozent.

Nach diesem Modell wäre ein offener Krieg im nächsten Jahrzehnt zwischen Indien und China mit 22 Prozent am höchsten. Zwischen China und Taiwan liegt die Wahrscheinlichkeit für einen offenen Krieg bei 11 Prozent und zwischen China und den USA bei 12 Prozent.

Joyes Modell behauptet kategorisch, dass das Risiko eines indisch-chinesischen Konflikts oder Krieges weltweit am größten ist. Dazu kommt noch die allgegenwärtige Option eines Krieges mit Pakistan“, so Dogra in seinem Buch.

Pakistan und Peking könnten Allianz bilden

Indien und Pakistan haben seit 1947 vier Kriege geführt, und die beiden Nachbarn teilen sich eine lange umstrittene Grenze. Indien stehe unter enormem Druck, seine Verteidigungsausgaben zu erhöhen, sagte Dogra gegenüber Epoch Times.

„Eine Möglichkeit, über die oft – wenn auch nur hinter vorgehaltener Hand – gesprochen wird, ist, dass sich Indien einem Zweifrontenkrieg mit China und Pakistan stellen muss. Was die Lage noch gefährlicher mache: Der ‚Ein-Fronten-Krieg‘ würde entlang einer langen Grenze von mehr als 6.800 km [4.225 Meilen] geführt, weil Chinas und Pakistans militärische Ausrüstung und Taktik inzwischen weitgehend gleich stark sind“, sagte er.

Die Situation in der nördlichen Himalaya-Region Ladakh, wo indische und chinesische Soldaten bereits im Jahr 2020 in Konflikt gerieten,  sei „angespannter“ ist als irgendwo sonst auf der Welt, weil Indien und China militärische Giganten sind. Ihr Konflikt würde Folgen weit über das Schlachtfeld hinaus haben.

Es ist daher an der Zeit, dass Amerika ernsthaft über seine strategischen Prioritäten nachdenkt. Es ist auch an der Zeit, dass die Denker der Welt darüber klar werden, wie sensibel die weltweite Lage ist […]  Man hat sich an die Ruhe nach dem Zweiten Weltkrieg gewöhnt und ist nun mit einem ungeduldigen China konfrontiert, das die Welt neu ordnen will“.

Dieser Artikel erschien im Original auf theepochtimes.com unter dem Titel: China Is More Likely to Attack India Than Taiwan in Near Future: Author (deutsche Bearbeitung nh)

Zur Person: Venus Upadhayaya berichtet über ein breites Spektrum an Themen. Ihr Spezialgebiet ist die indische und südasiatische Geopolitik. Sie hat von den indisch-pakistanischen Grenzkonflikten  berichtet und verfasst seit etwa einem Jahrzehnt Beiträge für die wichtigsten Printmedien in Indien. Ihre Hauptinteressen liegen Lokalberichterstattung, nachhaltige Entwicklung und Leadership [Führung].



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