Reparationsforderung: 1,3 Billionen Euro

Berlin hat in den Beziehungen zu Polen viel Porzellan zerschlagen, ohne sich dessen bewusst zu sein. Warschaus Geduld hat wohl nun ein Ende. Ein Kommentar.
Forderung nach Reparationen von Polen
Foto: WOJTEK RADWANSKI/AFP über Getty Bilder
Von 10. September 2022

Polen hat die Höhe der Reparationen festgesetzt, die es für die Zerstörung des Landes durch das Dritte Reich im Zweiten Weltkrieg veranschlagen will.

Zwar ist bislang noch keine diplomatische Überstellung dieser Forderungen ergangen, doch ist wenigstens klar, um welche Größenordnung es sich handelt: 1,3 Billionen Euro – eine Zahl, die in Anbetracht der fast völligen Vernichtung der Infrastruktur Polens, der Ermordung von 6 Millionen Staatsbürgern (davon 3 Millionen Juden) und der Versklavung und Verstümmelung zahlreicher weiterer Millionen polnischer Staatsbürger wahrscheinlich sogar recht moderat ausfällt (die deutschen Steuereinnahmen eines Jahres belaufen sich gerade mal auf 64 Prozent dieser Summe).

Freilich: Inmitten des Ukraine-Kriegs und angesichts der ohnehin schon bedeutenden Schwierigkeiten, die europäischen Nationen zu einer einvernehmlichen Zusammenarbeit zu bewegen, mögen jene Forderungen seltsam anachronistisch scheinen.

Politische Zerwürfnisse

Allerdings gilt es, den Anlass nicht aus den Augen zu verlieren: Ohne die desaströse deutsche Außenpolitik der Merkelzeit, welche bruchlos auch von Bundeskanzler Scholz fortgesetzt wird, wäre es nie zu den Zerwürfnissen gekommen, welche die Erhebung dieser Forderungen erst möglich machten.

In der Tat hat Deutschland in den letzten 10 Jahren nicht nur gegenüber den USA, dem Vereinigten Königreich, Italien und Griechenland, sondern auch Polen viel Porzellan zerschlagen, ohne sich dessen überhaupt bewusst zu sein.

Die nicht nur im Osten Europas als moralisch überheblich empfundene Forderung, auch Polen müsse einen Anteil der von Angela Merkel ohne Konsultation der Nachbarn nach Europa eingeladenen muslimischen Flüchtlinge aus Nahost ansiedeln, hat zusammen mit den auf die polnische Ablehnung folgenden Repressalien schlimme Erinnerungen an die deutsche Umvolkungspolitik des Weltkriegs aufgeweckt.

Analoges ist von der wiederholten Einmischung in die polnische Innenpolitik zu sagen, bei der die deutsche Regierung sprichwörtlich Steine aus dem Glashaus geworfen hat, indem sie etwa dem polnischen Verfassungsgericht oder den polnischen Medien zu große Regierungsnähe vorwarf und die EU auf Warschau hetzte – als ob die Situation in Deutschland auch nur annähernd besser sei.

Viele Polen sehen zudem einen Widerspruch zwischen dem deutschen Anspruch, aus Verantwortung für die Gräuel des Zweiten Weltkriegs nunmehr überall für Frieden und Freiheit in Europa eintreten zu wollen, und der zögerlichen deutschen Ukrainepolitik, gerade im Rahmen der Waffenlieferungen. Polen hat allein über 300 Panzer in die Ukraine geschickt, während Berlin bis heute trotz regelmäßiger Grundsatzerklärungen nichts Substantielles geliefert hat. Im Mai wurde zwar von Berlin versprochen, sich indirekt an den Anstrengungen zu beteiligen, indem man Polen die an die Ukraine abgegebenen Panzer durch deutsche Modelle ersetzen wolle („Ringtausch“) – bislang wurde dieses Versprechen aber zur großen Enttäuschung Polens nicht erfüllt.

Die gegenwärtigen Bemühungen der Bundesrepublik, nun auch die Zahlung der COVID-Hilfsmittel der EU auszubremsen und sogar, wie Olaf Scholz vor wenigen Tagen in seiner Prager Rede verkündete, das europäische Einstimmigkeitsprinzip aufzuheben, um Polen (und Ungarn) noch einfacher als bisher gängeln zu können, haben das Fass nun gänzlich zum Überlaufen gebracht: Aus polnischer Perspektive zeigt Deutschland ein solches Maß an Feindlichkeit, dass nunmehr auch Warschau die bisherigen Freundschaftsverpflichtungen als hinfällig betrachtet und die eigentlich ad acta gelegten alten Rechnungen präsentiert.

Nun stellt sich dem Analytiker nur noch die doppelte Frage, inwieweit jene Reparationsforderungen nicht nur legitim, sondern gleichzeitig auch angemessen sind.

Sind die Forderungen legitim?

Was die Legitimität betrifft, so besteht auch seitens der Bundesregierung keinerlei Zweifel an der Schuld Deutschlands an den gewaltigen Schäden in Polen, welche keineswegs, wie immer noch im Westen geglaubt wird, „nur“ bloße Kriegsschäden und den Holocaust an den Juden betreffen.

Zum einen wurde überall in Polen eine Politik der verbrannten Erde und der gezielten Vernichtung des Nationalerbes verübt (man denke allein an die militärisch völlig sinnlose Zerstörung Warschaus); zum anderen wurde der erste Holocaust des Weltkriegs nicht am jüdischen, sondern am polnischen Volk verübt – und das nicht erst allmählich im Laufe des Krieges, sondern schon vom ersten Tag an, als im Rahmen der „Intelligenzaktion“, der AB-Aktion und später dem Generalplan Ost die Deutschen daran gingen, die polnische Intelligenz auszurotten und das polnische Volk einzudeutschen, umzusiedeln oder durch Zwangsarbeit zu dezimieren.

Bis auf Pensionszahlungen an KZ-Opfer und Zwangsarbeiter (1,7 Mrd. Euro) wurde auf deutscher Seite bislang keine Reparation geleistet.

Die Gründe der Bundesregierung, keine Reparationen an Polen zu leisten, wo sie doch erst vor wenigen Monaten satte 1 Milliarde Euro nach Namibia für den Völkermord an den Hereros überwiesen hat, sind ausschließlich formalistischer Art: Polen leistete 1953 und 1970 eine offizielle Verzichtserklärung, deren Gültigkeit allerdings von der polnischen Regierung bestritten wird, da das Land damals ein Satellitenstaat der UdSSR war, die Streitigkeiten zwischen Polen und der DDR verhindern wollte.

Auch dass Polen 1990 die Zahlungsfrage nicht in den 2+4-Vertrag aufnahm, gilt aus Warschauer Perspektive als irrelevant, da dieser Text eine ganz andere Zielsetzung als die Reparationen gehabt hatte.

Neben der offensichtlichen Unlust der Bundesrepublik, eine solche nicht unbeträchtliche Summe begleichen zu müssen (und dann auch mit analogen Forderungen der anderen Nationen konfrontiert zu werden), müssen wir auch handfeste außenpolitische Überlegungen unterstellen: Deutschland steht auf Kriegsfuß mit der polnischen Regierung, der einzigen konservativen Regierung eines größeren europäischen Staates, und möchte dieser ungern einen gewaltigen innenpolitischen Erfolg bescheren, der zudem die stetig wachsende polnische Wirtschaft noch mehr zuungunsten der deutschen beflügeln würde.

Und so beteuert die Bundesregierung zwar regelmäßig ihre moralische Schuld, weist deren konkrete Abzahlung aber weit von sich – eine paradoxale Situation, welche auch keinesfalls durch die Übertragung von Schlesien, Pommern und Teilen Ostpreußens an Polen irgendwie „abgegolten“ sei: Zum einen verlor Polen im selben Atemzug seine gesamten Ostgebiete an die UdSSR, zum anderen hatte ja auch Deutschland 1871 nach dem Sieg über Frankreich nicht nur gewaltige Kriegskontributionen eingefordert, sondern gleich auch noch Elsaß und Lothringen annektiert.

Sind die Forderungen politisch angemessen?

Die Reparationsforderungen sind also legitim – aber sind sie auch politisch angemessen, und zwar nicht nur für die Interessen Polens, sondern auch Europas?

Es ist klar, dass die Forderungen zunächst in einem innenpolitischen Kontext verstanden werden müssen und auf eine Stärkung der Popularität der PiS-Regierung abzielen – ein nicht unwesentliches Argument für die 2023 anstehenden Parlamentswahlen, umso mehr angesichts von Inflation und Einbehaltung der COVID-Gelder der EU.

Freilich dürfte allen Beteiligten klar sein, dass Deutschland bestenfalls eine symbolische Geste leisten dürfte. Wäre dies für das ohnehin stark traumatisierte polnische Selbstbild nicht nur eine Erniedrigung mehr und würde es die zwar legitime, aber psychologisch langfristig überaus problematische Selbstwahrnehmung als Opfer nicht noch mehr verstetigen? Forderungen sollte man nicht aus einer Position der Schwäche, sondern nur der Stärke stellen, wenn man Inferiorität nicht zementieren will.

Ein anderer Aspekt ist die außenpolitische Situation. Die Beziehungen zur Bundesregierung sind zwar seit (und dank) Merkel in solchem Maße vergiftet, dass sie durch die Reparationsforderungen nicht wesentlich verschlechtert werden können. Das größere Problem besteht allerdings in der Wahrnehmung durch die restliche Öffentlichkeit: Zumindest in Westeuropa assoziiert diese den Krieg an der Ostfront ausschließlich mit dem Holocaust und dem Einfall in die UdSSR und hat vom Genozid an den Polen sowie dem völlig unterschiedlichen Verhalten der Deutschen in den westlichen und den östlichen besetzten Gebieten keinerlei Ahnung. Die Reparationsforderungen rufen daher weitgehend Unverständnis hervor – und werden in den Medien natürlich mit der stereotypisch negativen Darstellung der gegenwärtigen polnischen Regierung verquickt.

Ein verzwicktes Dilemma

Dieses Dilemma betrifft nicht nur die linksliberalen, sondern auch die konservativen Kräfte in Westeuropa, die im Ukraine-Krieg zumindest teilweise auf russischer Seite stehen und Polen als US-Vasall wahrnehmen, sodass die gegenwärtigen Forderungen Warschaus den gerade erst begonnenen Schulterschluss der konservativen Parteien Europas nicht unbedingt fördern und gerade die deutschen Konservativen zur Solidarisierung mit ihrer ansonsten so ungeliebten Regierung drängen.

Die Lage ist also überaus verzwickt, und es ist kaum abzusehen, wie es möglich sein soll, diesen Gordischen Knoten zu lösen. Dieser wurde freilich nicht von Polen geknotet, sondern ist letzten Endes auf die deutsche Verantwortung für den Zweiten Weltkrieg und die am polnischen Volk begangenen genozidären Gräuel zurückzuführen: Auch der Streit um die Reparationen ist daher nichts anderes als eine späte Folge jener üblen Saat, die gerade heute erneut vergiftete Früchte hervorbringt – wo alle zusammenstehen sollten, denen die Identität und Zukunft des Abendlands am Herzen liegt.

Über den Autor:

Prof. Dr. David Engels hat Geschichte, Philosophie und Volkswirtschaft an der RWTH Aachen studiert. Er folgte 2008 dem Ruf an die Universität Brüssel, an der er zehn Jahre den Lehrstuhl für römische Geschichte innehatte. Seit 2018 lebt er in Polen und arbeitet am Instytut Zachodni in Posen, wo er verantwortlich ist für Fragen abendländischer Geistesgeschichte, europäischer Identität und polnisch-west-europäischer Beziehungen.

Dieser Artikel erschien zuerst in der Epoch Times Wochenzeitung, Ausgabe Nr. 61, vom 10. September 2022.

Dieser Beitrag stellt ausschließlich die Meinung des Verfassers dar. Er muss nicht zwangsläufig die Sichtweise der Epoch Times Deutschland wiedergeben.


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