Aufwachsen im Lockdown: Triage-Alarm in Wiener Jugendpsychiatrie

In Deutschland gebe es laut RKI bisher keine Hinweise auf eine Zunahme psychischer Erkrankungen in der Bevölkerung durch die Corona-Maßnahmen, obwohl es durchaus anderslautende Studien gibt. Im Nachbarland Österreich schlug nun die Kinder- und Jugendpsychiatrie am AKH Wien Triage-Alarm: Dringende Fälle können aufgrund fehlender Kapazitäten nicht behandelt werden – Wartezeit: bis drei Monate.
Von 5. Februar 2021

Kürzlich schilderte der Journalist Boris Reitschuster bei der Bundespressekonferenz, dass in der Wiener Kinder- und Jugendpsychiatrie eine „Triage“-Situation entstanden sei. Dabei ging es nicht, wie bei Corona-Patienten, um Beatmungsplätze auf der Intensivstation, sondern um Behandlungsplätze für Kinder und Jugendliche in schweren psychologischen Situationen.

Reitschuster fragte gerichtet an Hanno Kautz, Pressesprecher des Bundesgesundheitsministeriums, wie der psychische Gesundheitszustand der jungen Menschen in Deutschland ist. Kautz antwortete, dass man die „psychischen Folgen dieser Pandemie auf die Bevölkerung sehr genau“ beobachte, es laut RKI jedoch keine Hinweise gebe, dass sich die Zahl der psychischen Erkrankungen der Allgemeinbevölkerung durch die Corona-Krise erhöht habe.

Die „ganz normalen Ängste“ der „Generation Corona“

„Seit März 2020 werden wöchentlich Daten zu Wahrnehmungen, Wissen und Verhalten der Bevölkerung in der Covid-19-Krisensituation erhoben“, so Kautz, der sich damit wahrscheinlich auf die Cosmo-Umfrage (Covid-19 Snapshot Monitoring) der Uni Erfurt bezog.

Zudem sei es wichtig zwischen psychischen Erkrankungen und ganz normalen Ängsten und Sorgen zu unterscheiden, die nicht krankhaft seien, sondern eine angemessene Reaktion auf die Krise darstellen. „Die meisten Menschen finden selbst einen Weg, damit umzugehen“, wer Unterstützung brauche, könne sich an die entsprechenden Beratungsstellen wenden, so der Gesundheitsamtssprecher.

Vergangene Woche kategorisierte der „Bayerische Rundfunk“ Deutschlands Kinder und Jugendliche bereits als „Generation Corona“ und berichtete über eine Kinderärztin, deren Beobachtungen nach, es vor allem die Jugendlichen schwer hätten, mit der Situation fertig zu werden: Einer 14-Jährigen fehlen die Freundinnen und das Kino, das Praktikum beim Tierarzt falle auch aus, eine 16-Jährige beklage den Ausfall des Schüleraustauschs, ein 17-Jähriger, kurz vor dem Abitur, vermisse sein Fußballtraining und das Fitnessstudio. Die ganze Zeit zu Hause bleiben, das sei langweilig und schwierig.

Alarm in der Kinder- und Jugendpsychiatrie am AKH Wien

„Triage“ ist ein Begriff aus der Militärmedizin, aus dem Krieg, wenn es mehr Verletzte gibt, als behandelt werden können.

Die von Reitschuster erwähnte Triage in der Wiener Kinder- und Jugendpsychiatrie ist nicht wegen des Virus entstanden, sondern aufgrund der eingeleiteten Maßnahmen. Aufgrund des Lockdowns und den damit verbundenen schwerwiegenden Veränderungen des sozialen und gesellschaftlich-kulturellen Lebens leiden immer mehr Kinder und Jugendliche an Depressionen.

Laut einem ORF-Videobericht erklärte Univ.-Prof. Dr. Paul Plener, zuständiger Abteilungsleiter des Klinikums, dass auch Menschen ohne Vorbelastungen und aus intakten Familien von schweren Störungen betroffen seien.

Wegen der Vielzahl der Fälle gebe es aber Wartezeiten von bis zu drei Monaten, erklärte Plener im Ö1-Morgenjournal. Man müsse bereits auswählen, welche Fälle „einer stationären Behandlung am dringendsten bedürfen“. Andere Patienten, die das auch brauchen würden, müssten nun nachgereicht werden, so Plener.

Von Essstörungen bis Suizidgedanken

Die Probleme sind ernsthaft, von Essstörungen über Antriebslosigkeit, Erschöpfung und Depressionen, bis hin zu Suizidgedanken. Plener warnt: „Es kommen mehr, die Zustandsbilder sind deutlich akuter und schwerer ausgeprägt“. Man registriere schon im Bereich der Acht- bis Zwölfjährigen „einen deutlichen Anstieg depressiver Symptomatik, was wir bisher so nicht beobachtet haben“.

Gründe für die Phänomene sieht Plener in den Schulschließungen und der sozialen Isolation. Viele würden in eine Abwärtsspirale rutschen. Sie sagten: „Mein Akku ist leer. Ich schaffe diesen Schritt aus dem Bett gar nicht mehr.“ Für diese, so Plener, sei es schon eine große Überwindung, überhaupt zu ihnen zu kommen.

Wie der ORF in seinem Videobeitrag berichtet, leidet einer Studie nach bereits die Hälfte aller Jugendlichen und jungen Erwachsenen in Österreich an Depressionen.

Umfrage-Studie der Uni Hamburg-Eppendorf

Laut einer repräsentativen Studie der Universitätsklinik Hamburg-Eppendorf seit dem ersten Lockdown im Frühjahr 2020 hätten sich psychische Auffälligkeiten bei Kindern nahezu verdoppelt.

Im Juli 2020 veröffentlichte die Universität Hamburg-Eppendorf die Studie und kam zu dem Ergebnis, die „Psychische Gesundheit von Kindern hat sich während der Corona-Pandemie verschlechtert“.

Damals wurden in einer Online-Umfrage zwischen dem 26. Mai und dem 10. Juni über 1.000 Kinder und Jugendliche zwischen 11 und 17 Jahren und mehr als 1.500 Eltern befragt.

„Die Studie hat gezeigt, dass die Herausforderungen der Pandemie und die damit im sozialen Leben einhergehenden Veränderungen die Lebensqualität und das psychische Wohlbefinden von Kindern und Jugendlichen verringern und das Risiko für psychische Auffälligkeiten erhöhen“, hieß es zu diesem Zeitpunkt – nach dem März-Lockdown und vor dem seit November anhaltenden aktuellen Lockdown.

 



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