Die Vergessenen der Krise: Flüchtlingsnot auf Kos
„Es ist sehr gefährlich“, erzählt Mohammed Ismail. „Wir waren 15 Leute, darunter zwei Kinder. Um sechs Uhr morgens hat uns die griechische Marine gerettet.“ Zu essen oder trinken hätten sie aber nichts bekommen – auch keine medizinische Versorgung, sagt der 40-Jährige, der nach eigenen Angaben aus Pakistan stammt.
Täglich kommen laut UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR im Schnitt 50 bis 100 Bootsflüchtlinge auf die kleine Insel. Gegenüber 2014 habe sich die Zahl versechsfacht, sagt der örtliche UNHCR-Verantwortliche Angelos Klinis.
Viele Gestrandete kommen in einem verlassenen Hotel außerhalb der Stadt Kos unter, das vor 18 Jahren geschlossen wurde. Hier liegen Matratzen auf dem Boden, zwischen kaputten Scheiben und bröckelndem Putz. „Das Hotel der Waisen“, nennt es Mohammed Ismail. In dem heruntergekommenen Gebäude schlagen die Menschen die Zeit tot und warten auf eine Gelegenheit, aufs griechische Festland zu kommen und von dort in andere EU-Länder zu ziehen.
„Wir verlangen nichts von Griechenland, wir wollen nur weiter“, sagt Ahmad Safi, der mit anderen Flüchtlingen im Hof des Hotels auf einer alten Matratze liegt. Der 26-Jährige erzählt, er komme aus der syrischen Stadt Dair as-Saur, die von der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) kontrolliert wird. „Ich möchte nach Deutschland, um dort mein Zahnmedizin-Studium zu Ende zu bringen und zu arbeiten.“ Das Leben in dem verlassenen Hotel sei schwierig. Die hygienischen Verhältnisse seien schlimm, es gebe kaum Essen.
Auf Kos gibt es kein Aufnahmelager. Wenn die Flüchtlinge eintreffen, sind sie auf sich gestellt. Die Behörden des klammen Landes fühlen sich nicht verantwortlich, sie mit Lebensmitteln zu versorgen oder ihnen medizinische Hilfe zukommen zu lassen. Darum kümmern sich Hilfsorganisationen oder örtliche Freiwillige.
Mittags kommen UNHCR-Mitarbeiter in das verlassene Hotel, um den Flüchtlingen zu helfen, die nötigen Dokumente zu beantragen, mit denen sie die Insel verlassen können. Sehnsüchtig warten die Menschen jeden Tag darauf, dass ihr Name auf der Liste jener auftaucht, die auf der Polizeiwache ihre Papiere abholen können. Doch die Registrierung zieht sich lange hin.
Eine örtliche Gruppe von Anwohnern bringt Essen für die rund 600 Flüchtlinge, die derzeit in dem alten Hotel ausharren. „Wir haben die Gruppe Ende Mai gebildet, nachdem wir festgestellt hatten, dass diese Menschen hungern“ erzählt Athena, eine der Freiwilligen. Anfangs hätten die Betreiber von Hotels auf der Insel sie mit Lebensmitteln unterstützt. „Aber wegen der Wirtschaftskrise ist die Hilfe stetig zurückgegangen.“ Nun seien es Frauen aus der Umgebung, die zwei, drei Stunden jeden Tag für die Flüchtlinge kochten.
Günter Burkhardt von der Flüchtlingsorganisation Pro Asyl war vor einigen Tagen selbst auf Kos und anderen griechischen Inseln. „Die Lage ist katastrophal“, sagt der Geschäftsführer der Organisation. Es fehle dort an allem – an Essen, Schlafplätzen, Kleidung. Dringend nötig sei ein Hilfsprogramm, um die Menschen mit dem Nötigsten zu versorgen. Außerdem müssten die EU-Staaten den Flüchtlingen erlauben, legal weiterzureisen in andere Teile Europas.
Auch Bernd Pastors vom Medikamentenhilfswerk action medeor ist besorgt. Die Zustände seien dramatisch. Die Flüchtlinge hätten nicht nur Hunger und Durst. Es fehle auch an Medikamenten. Antibiotika, Schmerzmittel, Arzneien gegen Durchfall – all das werde dringend gebraucht. Die Organisation hat deutsche Pharmafirmen zu Spenden aufgerufen und will diese möglichst bald nach Griechenland schaffen. Der griechische Staat habe kein Geld und kümmere sich nicht um die Flüchtlinge, sagt Pastors. „Sie sind völlig auf sich gestellt.“
Fast 80 000 Menschen sind laut UNHCR seit Jahresbeginn über das Meer nach Griechenland gekommen. Die UN-Organisation spricht von einer „ernsten Krise“. Die griechischen Behörden könnten die Lage nicht alleine in den Griff kriegen. Die EU müsse dringend helfen.
Die EU-Innenminister treffen sich am Montag in Brüssel, um über die Umverteilung von 60 000 Flüchtlingen in Europa zu reden. Ziel ist unter anderem, Griechenland und Italien zu entlasten. Doch bislang zankten die EU-Staaten vor allem um Zahlen, Anteile und Quoten. Einige Hilfsorganisationen halten die Pläne ohnehin für unzureichend und kritisieren, dass die Umverteilung nur für bestimmte Gruppen wie Syrer und Eritreer gelten soll. Und die zugespitzte Lage in Griechenland? Die steht nicht auf der offiziellen Tagesordnung der Ressortchefs. Ob und wie sie zur Sprache kommt, ist offen.
Es sei höchste Zeit zu handeln, mahnt Burkhardt. „Es darf nicht sein, dass Menschen in Europa elend zugrunde gehen, weil alle wegsehen.“
(dpa)
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