Griechenland: Kriegsähnliche Zustände an der Grenzmauer zur Türkei – Justiz geht gegen Bürgerwehren vor

In Griechenland werden zurzeit weitere 27 Kilometer des Grenzstreifens zur Türkei entlang des Evros-Flusses mit einer Mauer versehen. Dort war es im März zu schweren Ausschreitungen und Übertrittsversuchen von Migranten gekommen. Anwohner reden von Symbolpolitik.
Von 23. Oktober 2020

Noch zu Beginn des Jahres 2017 hatte die damalige außenpolitische Repräsentantin der EU, Federica Mogherini, scharfe Kritik am Vorhaben des US-Präsidenten Donald Trump geübt, an der US-amerikanischen Grenze zu Mexiko eine hohe Mauer zur Abwehr illegaler Einwanderung zu bauen. Im Vorjahr hatte das Transnational Institute (TNI) einen Bericht veröffentlicht, wonach EU-Staaten selbst seit 2015 ihre Außengrenzen zunehmend durch den Bau von Mauern schützen. Der jüngste Grenzmauerbau findet derzeit in Griechenland am türkisch-griechischen Grenzfluss Evros statt.

Kosten für das Projekt: 63 Millionen Euro

Wie die Zeitung „Ekathimerini“ berichtet, soll bis Ende April 2021 das aktuelle Bauprojekt fertiggestellt sein, das knapp 27 Kilometer lang sein soll und einen bereits bestehenden, zehn Kilometer langen Abschnitt ergänzen soll, der ebenfalls entlang der griechischen Nordostgrenze verläuft. Regierungssprecher Stelios Petsas spricht davon, dass 63 Millionen Euro in das Projekt investiert werden sollen.

Die griechische Regierung sieht die Umsetzung des Vorhabens als dringlich an, seit sich in den Wochen vor der Verhängung der Corona-Lockdowns in Europa zehntausende Flüchtlinge von der Türkei aus an die Grenze begeben hatten. Es kam mehrfach zu Durchbruchsversuchen nahe Edirne, einige versuchten auch mithilfe von Booten auf griechisches Territorium zu gelangen.

Türkei hält Flüchtlingsdeal von 2016 für obsolet

Die griechische Regierung beschuldigte damals die Türkei, angesichts der Übertrittsversuche zu Lande und zu Wasser bewusst untätig geblieben zu sein oder die Migranten teilweise sogar an die Grenze transportiert zu haben. Die Regierung Erdoğan, so der Vorwurf, habe auf diese Weise gegenüber der EU Druck aufbauen wollen, mit der sie 2016 ein Abkommen zur Rücknahme von Migranten und Verhinderung illegaler Grenzübertritte geschlossen hatte.

Erdoğan warf der EU vor, nicht alle Zusagen aus dem Deal erfüllt zu haben, der unter anderem sechs Milliarden an Zuschüssen vorsah, die es Ankara erleichtern sollten, vor allem die Migranten und Flüchtlinge aus dem Irak und Syrien im Land zu betreuen. Mit etwa vier Millionen Schutzsuchenden, die seit Beginn der Kampfhandlungen in Syrien 2011 und dem Vormarsch des „Islamischen Staates“ (IS) 2014 im Irak ins Land gekommen waren, ist die Türkei weltweit eines der bedeutendsten Zielländer.

Dass Ankara im März das Abkommen für obsolet erklärt hatte, war auch dem Umstand geschuldet, dass eine gemeinsame Offensive des syrischen Regimes und der russischen Armee in der Rebellen-Enklave Idlib den Ansturm auf die türkischen Grenzen verstärkte. Zuvor hatte die Türkei sich über Jahre hinweg erfolglos im Westen dafür stark gemacht, im Norden Syriens eine Schutzzone mit Flugverbot zu errichten, wo Binnenflüchtlinge adäquat untergebracht werden könnten.

Griechenland will neben der Mauer auch Zäune verstärken

Zudem gibt es Spannungen zwischen der Türkei und Griechenland sowie dem griechischen Teil Zyperns um Explorationsrechte für Erdgas im östlichen Mittelmeer. Die Türkei wirft Griechenland zudem vor, Flüchtlinge, die bereits griechischen Boden erreicht hätten, ohne Verfahren und damit vereinbarungswidrig wieder zurückzubefördern. Im Athen weist man diesen Vorwurf zurück.

Die Corona-Krise und der Ausbau der Grenzsicherung hat zwar im Laufe des Jahres die Zahl der Übertrittswilligen deutlich reduziert, Anlass für Entwarnung sieht man in Athen jedoch noch nicht. Da die Spannungen zwischen Griechenland und der Türkei nicht abgeflaut sind und es im Mittelmeer teilweise sogar zu wechselseitigen militärischen Provokationen kommt, will Athen nun zumindest bezüglich der Grenzsicherung Nägel mit Köpfen machen. Zu diesem Zweck wurden vier griechische Unternehmen mit dem Bau der Mauer und einer Erweiterung bestehender Zaunanlagen entlang des Grenzflusses Evros betraut. Die bestehenden Zäune sollen mit einer Stahlvorrichtung verstärkt werden, die 4,3 statt wie bisher 3,5 Meter hoch sein werde.

Heimatschutz will 800 weitere Grenzschützer einstellen

Am vergangenen Samstag (17.10.) soll sogar Premierminister Kyriakos Mitsotakis die Grenzregion besucht haben, um die Ergebnisse einer Probeinstallation eines Abschnitts in Augenschein zu nehmen. Der Premier erklärte laut „Focus“, der Bau der Mauer sei erforderlich, „damit die griechischen Bürger sich sicher fühlen“.

Eine weitere Maßnahme sei zudem der Aufbau einer „zweiten Verteidigungslinie“ durch Heimatschutzminister Mihalis Chrisochoidis, der angekündigt hatte, zusätzlich 800 Personen bei der Grenzpolizei einzustellen. Wie griechische Medien berichten, hat der Minister am Mittwoch nach einem Treffen mit der Polizeispitze in Thessaloniki angekündigt, dass 600 davon in Evros, 100 in Rodopi und 100 in Kavala stationiert werden sollen. Dies sei erforderlich, um „sicherzustellen, dass Griechenland seine Grenzen sichern kann, vor allem die sensiblen im Norden, sodass niemand illegal über die Grenze kommt, sondern nur Asylberechtigte“.

Rebecca Sommer berichtet von Skepsis unter den Bürgern

Im Interview mit der Epoch Times bestätigt Rebecca Sommer, Fotojournalistin und langjährige Flüchtlingshelferin, dass im südlichen Evros schon zeitnah nach der Einweihungszeremonie des neuen Zaunes Arbeiten am Ausbau begonnen hatten. Es sollen bis zu fünf Meter hohe Installationen sein, die einen Teil des Grenzstreifens abdecken.

Sommer, die sich zurzeit immer noch in Thessaloniki aufhält, schildert, dass die Stimmung unter den Griechen selbst skeptischer sei als in den häufig regierungsfreundlichen Lokalmedien. Viele hielten den Zaun für Symbolpolitik, manche sprechen von einem „Hühnerzaun“. Der Evros sei lang, die Gegend sei dünn besiedelt, da er nicht an jeder Stelle stabil verlaufe und es auch an mehreren Abschnitten die Gefahr von Überschwemmungen gäbe, sei es illusorisch, eine vollständige Abdeckung des Grenzverlaufs mit Befestigungen zu erwarten.

Bürgerwehren: Täter oder Opfer?

Außerdem sei unter vielen Anwohnern entlang der Grenze Unmut verbreitet, weil jüngst 60 bis 70 Personen ins Visier der Staatsanwaltschaft geraten seien, die während der Vielzahl an illegalen Grenzübertritten als „dritte Verteidigungslinie“ Grenzer und Soldaten unterstützt hätten. Viele von ihnen seien Jäger, Bauern oder Dorfbewohner gewesen, die sich mit selbstgebastelten Waffen gegen marodierende Banden zur Wehr gesetzt hätten, die in Höfe und Gebäude eingedrungen seien.

Die Betroffenen machen die EU und Gesetze aus Brüssel dafür verantwortlich, dass sie nun mit gerichtlicher Verfolgung rechnen müssen. Im März hatten tatsächlich einige Medien von vermeintlichen oder tatsächlichen Übergriffen geschrieben, die sich gegen aufgegriffene Migranten gerichtet hätten. Daran wären neben Armeesoldaten und Grenzwächtern auch Bürgerwehren beteiligt gewesen.

Anwohner sprechen von kriegsähnlichen Zuständen

In der Bevölkerung hingegen herrscht der Eindruck vor, man werde von der eigenen Justiz zum Täter gemacht. In einem Fall, so Rebecca Sommer, richteten sich Ermittlungen gegen einen Bauern, der von einer sieben- bis achtköpfigen Gruppe auf seinem Grundstück angegriffen und verprügelt worden sei, ehe er sich mithilfe einer Schusswaffe zur Wehr gesetzt hätte. Ein anderer sei angezeigt worden, weil er Migranten lediglich bis zum Eintreffen der Grenzpolizei festgehalten habe.

Einige der Migranten seien selbst bewaffnet gewesen, berichten Bewohner der Grenzregion. Von der Türkei aus habe man sogar versucht, mithilfe von Tränengaspatronen, die über die Grenze geschossen wurden, den Grenzwächtern den Aufgriff zu erschweren. Griechische Soldaten hätten mithilfe von Windmaschinen versucht, das Gas umzulenken. Viele Griechen entlang der Grenze sprechen von kriegsähnlichen Zuständen, die im März geherrscht hätten. Die juristische Verfolgung von Bürgern solle nun offenbar, so eine weit verbreitete Meinung, den Willen brechen, sein Land zu verteidigen.



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