Haben die USA die Nord-Stream-Zerstörung veranlasst?

Wenn die Beschuldigung sich als wahr erweisen sollte, müsste die Bundesregierung wohl ihre komplette geopolitische Ausrichtung ändern: Die Zerstörung der Nord-Stream-Gaspipelines soll nach Recherchen des US-Starjournalisten Seymor Hersh auf das Konto der USA und Norwegens gehen.
Blasen an der Wasseroberfläche: Dieses vom dänischen Verteidigungskommando verbreitete Foto zeigt das Nord-Stream-2-Gasleck in der Nähe der Insel Bornholm.
Dieses vom dänischen Verteidigungskommando zur Verfügung gestellte Foto zeigt das Nord-Stream-2-Gasleck in der Nähe von Bornholm kurz nach der Sprengung.Foto: Danish Defence Command/dpa
Von 9. Februar 2023


Wer hat Ende September 2022 deutsch-russische Gaspipelines des Projekts „Nord Stream“ in der Ostsee gesprengt? Die amerikanische Reporter-Legende Seymour Hersh (85) hat die Vereinigten Staaten von Amerika und Norwegen als Hauptverantwortliche für die drei Explosionen ausgemacht, die zu insgesamt vier Lecks in den Röhren der Nord-Stream-Trassen 1 und 2 geführt hatten.

Hersh beruft sich in seinem Blog-Eintrag „Wie Amerika die Nord Stream-Pipeline ausschaltete“ allerdings nur auf eine einzige anonyme „Quelle mit direkter Kenntnis der operativen Planung“ aus dem Machtapparat der USA. Den Befehl dazu soll angeblich US-Präsident Joe Biden erteilt haben.

Washington streitet jede Beteiligung ab. Aus Norwegen ist noch keine Reaktion bekannt.

Pläne schon seit Dezember 2021?

Nach Hershs Bericht, den er bislang lediglich auf seinem Internet-Blog veröffentlichte, soll sich der größte Anschlag auf die deutsche Energie-Infrastruktur seit dem Zweiten Weltkrieg wie folgt abgespielt haben:

Präsident Joe Biden soll wie der texanische Senator Ted Cruz und Außenminister Tony Blinken spätestens im Dezember 2021 konkret darüber nachgedacht haben, die Pipelines zerstören zu lassen. Es galt, Gaslieferungen Russlands und damit Milliardengewinne für Moskau zu verhindern und zugleich Deutschland vom billigen russischen Gas abzuschneiden. Nebeneffekt sei gewesen, dass die USA danach selbst mehr Gas nach Deutschland hätten verkaufen können. Außerdem habe Biden dem Kreml ein Druckmittel gegen Deutschland und Westeuropa aus der Hand nehmen wollen, mit dem Moskau deren Engagement im Ukraine-Krieg hätte schmälern können.

Es soll im Weißen Haus bald nicht mehr um das Ob, sondern nur noch um das Wie gegangen sein, so Hersh. Insbesondere um die Frage, wie ein Anschlag unerkannt gelingen könnte. Der Nationale Sicherheitsberater Jake Sullivan, Außenminister Tony Blinken und die Unterstaatssekretärin Victoria Nuland seien in die Pläne eingebunden gewesen, schreibt Hersh. Allen sei klar gewesen, dass ein Anschlag als „Kriegshandlung“ gewertet werden würde. CIA-Leiter William Burns habe eine Arbeitsgruppe zusammengestellt, die die Zerstörung der Pipelines unentdeckt planen und organisieren sollte.

Im März 2022 habe es der anonymen Quelle zufolge ein Treffen von Mitgliedern der Arbeitsgruppe mit dem norwegischen Geheimdienst und der dortigen Marine gegeben. Dabei habe die norwegische Marine als Ort des Anschlags eine geeignete Stelle nahe der Insel Bornholm vorgeschlagen.

Im Juni 2022 sollen dann US-Marinetaucher im Auftrag von Biden Sprengsätze an den Leitungsrohren platziert haben. In der Tat berichtete das „Sea Power Magazine“ am 14. Juni von dem groß angelegten traditionellen US-Navy-Manöver „BaltOps“, das 2022 vom 5. bis 17. Juni unweit der Explosionsorte stattgefunden hatte – offiziell, „um neue Technologien zu testen“. Nach Angaben der NATO hatten „16 Nationen“ daran teilgenommen, nämlich die „14 NATO-Verbündeten und 2 Partnernationen“. Mehr als „45 Schiffe, mehr als 75 Flugzeuge und 7.000 Mitarbeiter“ seien involviert gewesen.

Joe Biden, so Hersh, habe die Gaspipelines ursprünglich schon 48 Stunden nach Ende des Manövers zerstören lassen wollen – dann aber befürchtet, dass der Tatverdacht in Zusammenhang mit der NATO-Übung gebracht werden könnte. Also habe das Weiße Haus auf eine Lösung mit einer späteren Detonation per Fernzündung gedrängt. Bei alldem seien die US-Geheimdienste CIA und NSA involviert gewesen, ohne den US-Kongress einzubeziehen.

Die bereits montierten Sprengsätze seien dann endlich am 26. September 2022 mithilfe Norwegens ausgelöst worden. Dafür habe ein norwegisches Überwachungsflugzeug kurz vor der Sprengung eine Sonarboje ausgesetzt, erklärt Hersh.

Sehr zeitnah hatten übrigens Polen, Dänemark und Norwegen am 27. September ihre neue Gaspipeline „Baltic Pipe“ in Betrieb genommen. Durch die Pipeline fließt nun skandinavisches Gas nach Polen.

Was wussten Norwegen, Dänemark und Schweden?

Wie Hersh schreibt, habe Norwegen mitgemacht, weil Oslo als Teil der NATO gute militärische Beziehungen zu den USA pflege und Amerika für dessen militärische Unterstützung zu Dank verpflichtet sei. Außerdem hätte Norwegen nach der Zerstörung der deutsch-russischen Pipelines sein eigenes Erdgas leichter nach Europa verkaufen können.

Dänemark und Schweden seien im Vorfeld von der US-Regierung informiert worden, dass „Tauchaktivitäten“ in der Nähe ihrer Ostsee-Gebiete geschehen könnten, schrieb Hersh unter Berufung auf seine anonyme Quelle. Weitere Einzelheiten seien Kopenhagen und Stockholm aber nicht mitgeteilt worden. Die beiden Länder sollten aber stillhalten, hätten die USA verlangt. Ihr Schweigen zu erreichen, sei für die USA damals nicht schwer gewesen: Dänemark gehöre ebenfalls zur NATO und unterhalte zudem eine „Geheimdienstgemeinschaft mit dem Vereinigten Königreich“. Schweden hatte sich gerade um einen NATO-Beitritt beworben.

USA: Anschuldigungen „vollkommen falsch“

Ein Sprecher des amerikanischen Auslandsgeheimdienstes CIA wies die Anschuldigungen Hershs am 8. Februar nach Informationen der Zeitung „Welt“ klar zurück: „Diese Behauptung ist völlig und vollkommen falsch“. Die Sprecherin des Nationalen Sicherheitsrates, Adrienne Watson, sagte, die Darstellungen Hershs seien „absolut falsch und eine vollständige Erfindung”. Auf ähnliche Schuldvermutungen, die wie Hersh von einer US-amerikanischen Urheberschaft der Sprengungen ausgegangen waren, hatte das Weiße Haus schon früher mit dem Hinweis auf „russische Desinformation“ reagiert.

Nach Einschätzung des deutschen Nord-Stream-Managers Matthias Warnig, der Wladimir Putin nach einem „Zeit“-Artikel näher steht als sonst irgendjemand im Westen, könnte auch Großbritannien hinter dem Anschlag stecken.

Dass London zumindest beteiligt gewesen sein könnte, vermutete nach einem Bericht der „Deutschen Wirtschaftsnachrichten“ bisher auch Russland. Präsident Wladimir Putin habe bereits am 30. September 2022 „angelsächsische“ Mächte für die Organisation der Nord-Stream-Explosionen verantwortlich gemacht. Das britische Verteidigungsministerium habe die Anschuldigungen aus Moskau Ende Oktober damit erklärt, dass Russland „von den militärischen Fehlschlägen Russlands in der Ukraine ablenken“ wolle.

Das russische Außenministerium wiederum habe auf Hershs Bericht verlautbart, dass es für die USA nun an der Zeit sei, Fragen zu beantworten, schreibt der „Nordkurier“.

Anfangs stand Russland im Verdacht

Schon kurz nach den Anschlägen vom 26. September 2022 war klar, dass wegen des großen logistischen und technischen Aufwands nicht irgendein einzelner Terrorist, sondern staatliche Kräfte dahinter stecken mussten. Schnell wurde Russland von vielen internationalen Politikern zum Hauptverdächtigen erklärt, nach Informationen der Nachrichtenagentur „Reuters“ beispielsweise von Polens Ministerpräsident Mateusz Morawiecki. Die Hauptargumente: Russland wolle Deutschland und Europa durch den Ausfall von Gaslieferungen schwächen und deren Entschlossenheit als Unterstützer der Ukraine untergraben.

In einem Interview im ARD-„Morgenmagazin“ vom 29. September sagte beispielsweise Roderich Kiesewetter (CDU), Mitglied im Parlamentarischen Kontrollgremium des Bundestags für die Nachrichtendienste, er halte es für „naheliegend“, dass die Sabotageaktion von Russland ausgeführt worden sein könnte. Die Londoner Zeitung „The Times“ hatte bereits tags zuvor spekuliert, dass „Russland heimlich eine Unterwasser-Drohne mit einer Sprengladung an verschiedenen Stellen der Pipelines abgesetzt“ haben könnte, wie „n-tv.de“ berichtete. Auch die ukrainische Regierung sei damals von einem russischen „Terrorangriff“ ausgegangen.

Kreml-Sprecher Dmitri Peskow hatte daraufhin sämtliche Beschuldigungen als „dumm und absurd“ zurückgewiesen. Die „Washington Post“ hatte bereits am 22. Dezember berichtet, dass „keine schlüssigen Beweise“ dafür existierten, dass Russland etwas mit den Sprengungen zu tun haben könnte. Die Zeitung berief sich auf einen europäischen Beamten und „23 Diplomaten und Geheimdienstmitarbeitern in neun Ländern“, die zum selben Schluss gekommen seien. Dennoch bleibe Russland „ein Hauptverdächtiger“, hieß es in der „Washington Post“.

Anderthalb Monate später liegen dem deutschen Generalbundesanwalt Peter Frank allerdings noch immer keinerlei Belege für eine Tatbeteiligung Russlands vor. Das berichtete unter anderen die Zeitung „Welt“ jüngst am 4. Februar. Die Ermittlungen von Bundespolizei und Bundeskriminalamt dauerten jedoch noch an, betonte Frank.

Schweigen aus Gründen des „Staatswohls“

Franks Äußerungen hatten lange auf sich warten lassen: Nachdem Schweden die deutsche Bundesregierung einige Wochen nach dem Anschlag über ihren Ermittlungsstand informiert hatte, ordnete die Bundesregierung an, nichts davon an die Öffentlichkeit dringen zu lassen.

Es handele sich um Informationen, die „den Restriktionen der ,Third-Party-Rule’“ unterlägen und somit „den internationalen Austausch von Informationen der Nachrichtendienste“ beträfen. „Weitere Auskünfte [können] aus Gründen des Staatswohls nicht – auch nicht in eingestufter Form – erteilt werden“, lautete die Antwort der Bundesregierung auf eine entsprechende Anfrage des Linken-Bundestagsabgeordneten Zaklin Nastic. Auch die AfD hatte am 1. November eine Kleine Anfrage (PDF-Datei) an die Ampelregierung gestellt. Nach Informationen von „linkezeitung.de“ verweigerte die Regierung die Antwort auf 18 von 55 AfD-Fragen, berief sich abermals auf ihr „Geheimhaltungsinteresse“.

Was spricht nun für die Täter- beziehungsweise Mittäterschaft der USA? Nach Informationen verschiedener Medien so einiges, wenn man den Grundsatz „Cui bono“ („Wem nützt es?“) beherzigt:

  • Bereits am 27. Januar 2022 erklärte Victoria Nuland, Unterstaatssekretärin im US-Außenministerium, dass „Nord Stream 2 nicht passieren“ werde, falls Russland in die Ukraine einmarschieren werde. Das berichtet das Onlineportal „Jouwatch“.
  • US-Präsident Joe Biden hatte am 7. Februar während eines Besuchs von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) in Washington angekündigt, dass es „kein Nord Stream 2 mehr geben“ werde, wenn Russland in die Ukraine einmarschieren würde. „Wir werden dem ein Ende bereiten“, versprach Biden laut „faz.net“ (Video auf YouTube).
  • Zwei Tage vor Beginn des Ukraine-Kriegs, nämlich am 22. Februar, stoppte die Bundesregierung das Genehmigungsverfahren der brandneuen Pipeline NS2 – offiziell als Reaktion „auf die Anerkennung der Unabhängigkeit der Separatisten-Gebiete in der Ostukraine durch den russischen Präsidenten Wladimir Putin“.
  • Am Tag nach der Sprengung, nämlich am 27. September, soll der polnische EU-Abgeordnete Radek Sikorski ein Foto des aufgewühlten Meeresspiegels mit den Worten „Danke, USA“ getwittert haben. Kurz darauf soll er den Tweet wieder gelöscht haben. Sikorski sei mit der Atlantic-Redakteurin Anne Applebaum verheiratet, berichtet „Jouwatch“. Beide gölten „als Hardliner im Ukraine-Krieg“.
  • US-Außenminister Antony Blinken nannte den Anschlag am 30. September 2022 laut „Jouwatch“ „eine enorme Chance, die Abhängigkeit von russischer Energie ein für alle Mal zu beseitigen und damit Wladimir Putin die Instrumentalisierung der Energie als Waffe zu nehmen, um seine imperialistischen Pläne voranzutreiben“.
  • Der international bekannte Hacker Kim „Dotcom“ Schmitz setzte am 30. Oktober laut „Express.at“ einen Tweet ab, indem er behauptete, die ehemalige britische Premierministerin Liz Truss habe kurz nach den Explosionen eine Nachricht an US-Außenminister Blinken abgesetzt. Der Inhalt habe „It’s done“ („Es ist erledigt“) gelautet.
  • Hersh berichtet, dass Unterstaatssekretärin Victoria Nuland erst Ende Januar 2023 bei einer Anhörung des Ausschusses für auswärtige Beziehungen des US-Senats betont habe, wie zufrieden sie darüber sei, dass nun „ein Stück Metall auf dem Meeresgrund“ liege.

Whodunit? Wie in einem Agatha-Christie-Krimi

Unstrittig ist, dass sowohl die USA, als auch Norwegen, Schweden, Dänemark, Polen, Großbritannien, die baltischen Ländern und nicht zuletzt die Ukraine, womöglich auch andere Länder teils unterschiedliche, teils ähnliche Interessen daran gehabt haben könnten, dass die Nord-Stream-Gaslieferungen nach Deutschland grundsätzlich verhindert werden. Das bestätigte unter anderen das Schweizer Portal „Watson.ch“  bereits kurz nach den Explosionen.

Auch die Grünen hatten sich für das „Energiewendeland“ Deutschland stets gegen die Gaspipelines stark gemacht: Noch im Oktober 2021 wollte Außenministerin Annalena Baerbock die Inbetriebnahme verhindern, wie beispielsweise der NDR berichtete. Später gab sich Baerbock allerdings kompromissbereiter, bevor Kanzler Scholz das Projekt im Februar 2022 schließlich doch auf Eis legte.

Am 26. September 2022 wurden in der Ostsee Fakten geschaffen. Russland dagegen hätte nicht nur Deutschland und Europa, sondern auch sich selbst damit geschadet. Denn die Röhren gehören auch Russland, und der Absatzmarkt Deutschland gilt als lukrativ.

Nach Informationen der „Deutschen Wirtschaftsnachrichten“ wären die über 1.200 Kilometer langen unterseeischen Leitungen von Nord Stream 1 und 2 in intaktem Zustand in der Lage, 110 Milliarden Kubikmeter Gas pro Jahr nach Deutschland zu liefern. Das entspreche über 50 Prozent der „normalen russischen Gasexportmengen“.

Heute wäre grundsätzlich nur noch ein einziger NS2-Strang technisch in der Lage, Gas von Russland nach Deutschland zu transportieren. Doch sowohl Deutschland als auch Russland lehnen eine Lieferung inzwischen strikt ab – der Gegnerschaft im Ukraine-Krieg wegen. Zuletzt hatte Wladimir Putin Deutschland Mitte Oktober 2022 angeboten, Gas über eine noch intakte NS2-Leitung zu liefern.

Zur Person: Wer ist Seymour Hersh?

Seymour Myron Hersh, genannt „Sy“, Jahrgang 1937, erlangte als investigativer Journalist 1969 internationalen Ruhm wegen seiner Berichterstattung zu den Verbrechen der US-Armee im „Massaker von My Lai“ während des Vietnam-Krieges. Dafür erhielt Hersh 1970 den Pulitzer-Preis, die wichtigste Ehrung im amerikanischen Journalismus überhaupt.

2004 half Hersh mit, Folterungen im irakischen Abu-Ghraib-Gefängnis aufzudecken, die durch Angehörige des US-Militärs während des Dritten Golfkrieges stattgefunden hatten. Hershs Gegner bemängeln nach Angaben des „Nordkurier“ vor allem den „freizügigen Rückgriff auf anonyme Quellen“, denen sich der Reporter zuweilen bedient. Viel Kritik erntete nach Angaben der „Welt“ auch ein Artikel Hershs aus dem Jahr 2013, in dem er infrage gestellt habe, „dass die syrische Regierung für einen tödlichen Giftgaseinsatz verantwortlich war“.



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