Homeschooling in Russland: Bereits 100.000 Kinder werden zu Hause unterrichtet
Der US-amerikanische Blogger Dr. Steve Turley hat in einem vielbeachteten Beitrag für das Videoportal YouTube den zunehmenden Trend zum Hausschulwesen in der Russischen Föderation analysiert.
Den Zahlen der US-amerikanischen Bürgerrechtsorganisation Homeschooling Legal Defense Association (HLDA) zufolge werden mittlerweile 100.000 Kinder in Russland – bei insgesamt 140 Millionen Einwohnern – in den eigenen vier Wänden unterrichtet, was europaweit dem zweiten Platz hinter dem Vereinigten Königreich gleichkommt.
Turley führt den Aufstieg des Homeschoolings in der Russischen Föderation zum einen auf familienfreundliche Reformen der Regierung in Moskau zurück, zum anderen auf die zunehmende Zahl an Initiativen der russisch-orthodoxen Kirche in diese Richtung.
In einer radikalen Abkehr von der Staatsideologie der zusammengebrochenen Sowjetunion heißt es im Gesetzesbestand der Russischen Föderation nun, dass die Erziehung „zuerst und zuvorderst die Verantwortung der Eltern“ darstellt. Explizit wird den Eltern die Rolle als primäre Erziehungsinstanz zugedacht, nicht dem Staat.
Zudem hat sich der populäre orthodoxe Geistliche Dmitri Smirnow, der in Russland eine reichweitenstarke Talk-Radio-Sendung betreibt, für die Bildung und Erziehung im eigenen familiären Umfeld ausgesprochen. In seiner Show hatte er zudem eine Reihe von Eltern und Anbietern von Homeschooling-Dienstleistungen interviewt, die Erfahrungen austauschen und Tipps geben sollten, wie ein solcher Hausunterricht organisiert wird und welche Unterlagen dafür zur Verfügung stehen. In den USA, wo Homeschooling in den meisten Bundesstaaten als gleichberechtigte Option neben herkömmlichen öffentlichen und privaten Einrichtungen steht, ist die Herstellung von Lehrmitteln für diese Form von Bildung ein einträglicher Wirtschaftszweig.
US-Anbieter für Hausschulbedarf übersetzt Materialien ins Russische
Neben praktischen Gründen in einem Land mit geringer Bevölkerungsdichte und harten Wintern in vielen Landesteilen sind es vor allem religiöse Gründe, die russische Eltern für den Hausunterricht einnehmen. In westlichen Ländern, wo der Schulunterricht nach Meinung vor allem christlicher und konservativer Eltern zunehmend zum Spielfeld ideologischer Gesellschaftsexperimente wird, spielt dieser Faktor eine ähnlich große Rolle. Klassische und christliche Erziehung wird dort als notwendiger Gegenentwurf zu einer staatlichen Erziehung verstanden, die sich an progressiven, globalistischen und säkular-humanistischen Werten orientiert.
Für den US-amerikanischen Anbieter von Heimschulbedarf, das christlich geprägte Unternehmen Classical Conversations, eröffnet sich mit Russland ein lukrativer neuer Markt. Der Zusammenschluss, der sich nach eigenen Angaben an den Inhalten des klassischen westlichen Bildungskanons orientiert, wie er die mittelalterlichen Universitäten und auch die Erziehung der US-Gründerväter geprägt hatte, übersetzte eine Reihe von Lehrmaterialien ins Russische. Der Erfolg ließ nicht lange auf sich warten.
Auch in den USA selbst ist Homeschooling weiter im Vormarsch. Waren es im Jahr 2003 noch mehr als zwei Millionen Kinder in allen Bundesstaaten – insgesamt zählen die USA 325 Millionen Einwohner -, die in ihrem eigenen familiären Umfeld ihre Bildung genossen, ist diese Zahl bis 2012 auf mehr als drei Millionen angewachsen. Wie das Nationale Zentrum für Bildungsstatistik mitteilt, ist der Gesamtanteil der zu Hause beschulten Kinder in den USA allein im Laufe der 2000er Jahre von 1,7 auf drei Prozent angewachsen. Tendenz: weiter steigend.
Tabuthema in Deutschland
Obwohl auch das Grundgesetz in Deutschland Art. 6 Abs. 2 die Erziehung der Kinder als das „natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht“ definiert und dem Staat im Bereich der Bildung in Art. 7 Abs. 1 lediglich ein „Aufsichtsrecht“ einräumt, sehen sämtliche Landesgesetze eine allgemeine Schulpflicht vor und bestimmt der Staat fast zur Gänze die Inhalte der Schulbildung.
Auch Skandale wie jene um übergriffige Sexualerziehung oder andere ideologische Projekte und Meldungen über Gewalt, Mobbing, Schulversagen oder eine deutliche Zunahme psychischer Erkrankungen unter schulpflichtigen Jugendlichen haben bislang kein Umdenken bewirkt. Stattdessen gehen Schul- und Jugendämter weiterhin mit Zwangsmaßnahmen bis hin zum Kindesentzug gegen Eltern vor, wenn diese ihre Kinder mittels Homeschooling vor den Auswirkungen eines maroden Schulsystems zu bewahren versuchen.
Als eine von wenigen Parteien in Deutschland hat die Alternative für Deutschland (AfD) im Land Sachsen-Anhalt das Thema aufgegriffen und sich dabei offenbar von School-Choice-Programmen in den USA inspirieren lassen.
So sprach sich die AfD in ihrem Landtagswahlkampf 2016 dafür aus, die geltende Schulpflicht durch eine Bildungspflicht zu ersetzen:
„Eltern ist grundsätzlich die Wahlfreiheit zwischen Schul- und Hausunterricht für ihre Kinder einzuräumen. Schulpflicht ist durch Unterrichtspflicht zu ersetzen. Voraussetzung für Hausunterricht ist, dass der Hausunterricht durch Privatlehrer gleiche Qualitätsstandards erfüllt wie Schulunterricht und dabei die gleichen Prüfungen abgelegt werden müssen.“
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