Kein Kriegseintritt der NATO nach Rakete in Polen – Geheimverhandlungen in Ankara?
Nach dem Einschlag einer S-300-Rakete in einem polnischen Dorf am Dienstag (15.11.) spricht der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj weiterhin von „russischem Terror“. Demgegenüber geht die NATO mittlerweile von einer ukrainischen Luftabwehrrakete aus, deren Explosion zwei Todesopfer gefordert hat. Dies verlautbarten die Spitzen des Militärbündnisses nach einem Krisentreffen am Mittwoch.
Ausrufung des Bündnisfalls ausgeschlossen
Der Vorfall hatte vor allem in europäischen Mitgliedsländern des Bündnisses Besorgnis ausgelöst. Polen hatte Konsultationen nach Artikel 4 des Statuts der NATO beantragt. Diese können stattfinden, wenn ein Mitgliedsland die Unversehrtheit seines Gebiets, die politische Unabhängigkeit oder die eigene Sicherheit bedroht sieht.
Ein klassischer Anwendungsfall ist ein bewaffneter Konflikt im Nachbarland eines NATO-Staates, der grenzüberschreitende Wirkungen zu entfalten droht. Dies war etwa im Syrienkrieg der Fall, als verirrte Granaten in grenznahen Dörfern auf dem Territorium der Türkei einschlugen.
Hätte es sich tatsächlich, wie die Ukraine nach wie vor andeutet, um einen absichtlichen russischen Angriff gehandelt, hätte ein Vorgehen nach Artikel 5 im Raum gestanden. Dies hätte eine unausweichliche kollektive Reaktion der NATO zur Folge gehabt. Der Kreml warf deshalb bereits am Dienstag der Führung in Kiew vor, eine „gezielte Provokation“ inszeniert zu haben. Ziel sei es demnach gewesen, die NATO in den Krieg hineinzuziehen.
NATO sieht Ukraine „nicht in der Verantwortung“
Noch am Tag des Vorfalls hatte US-Präsident Joe Biden jedoch deutlich gemacht, dass das Weiße Haus nicht davon ausgeht, dass Russland die Rakete abgefeuert habe. Auch Polens Präsident Andrzej Duda sowie Regierungschef Mateusz Morawiecki mahnten zur Besonnenheit.
Am Mittwoch hieß es aus Warschau, es sei mit hoher Wahrscheinlichkeit eine ukrainische Flugabwehrrakete gewesen, die eingeschlagen hätte. Wie das „Handelsblatt“ berichtet, spricht man in Polen von einem „unglücklichen Unfall“, nicht von einem gezielten Angriff.
Gleichzeitig scheint der Westen bemüht zu sein, der Ukraine einen gesichtswahrenden Ausstieg aus dem widerlegten Narrativ vom „russischen Angriff“ zu ermöglichen. NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg und Polens Präsident Duda erklärten, sie sähen Kiew „nicht in der Verantwortung“ für den Vorfall. Immerhin habe die Ukraine sich lediglich gegen russische Angriffe verteidigt.
Selenskyj klagt über mangelnde Würdigung durch westliche Unterstützer
Einem Bericht der „Welt“ zufolge fordert Selenskyj mittlerweile eine gemeinsame Untersuchungskommission und Zugang zu vorhandenen Daten. Er verweist auf den zeitlichen Zusammenhang des Einschlags mit einer russischen Großoffensive in der Westukraine. Diese hätten erhebliche Schäden an der dortigen Infrastruktur verursacht, sagte er in einer Pressekonferenz.
Allerdings deutete er auch an, dass die Ukraine bereit sei, um Entschuldigung zu bitten, sollte sich tatsächlich herausstellen, dass eine S-300 ihres Luftabwehrsystems die Schäden verursacht habe. Selenskyj beklagte sich jedoch auch, westliche Partner würdigten es nicht ausreichend, dass die Ukraine die „reale Luftabwehr von ganz Osteuropa“ sei. Russland warf er vor, keinen Vorstoß zu Friedensgesprächen mit seiner Regierung unternommen zu haben. Vor einigen Wochen hatte er solche von sich aus kategorisch ausgeschlossen. Gegenüber der Presse äußerte Selenskyj über die russische Regierung:
Sie kommunizieren nicht mit uns.“
Der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba erklärte Hinweise auf eine ukrainische Luftabwehrrakete zur „von Russland gesteuerten Verschwörungstheorie“.
Scholz will Ukraine weiter unterstützen
Die Sprecherin des russischen Außenministeriums, Maria Sacharowa, kommentierte den Vorfall mit Sarkasmus: Die Ukraine habe „immer in die NATO eintreten wollen, nun sei sie mit Gewalt eingedrungen“.
Von Polen forderte sie eine Entschuldigung. Zwar habe Präsident Duda zeitnah von einem „Unglücksfall“ gesprochen. Allerdings hätten andere polnische Politiker „Hysterie“ verbreitet und sich zu „russophoben Ausfällen“ hinreißen lassen. Warschau hatte auch am Dienstag gegen Mitternacht den russischen Botschafter einbestellt.
Deutschlands Bundeskanzler Olaf Scholz mahnte im „heute journal“ Besonnenheit an. Es sei wichtig, eine Eskalation zu einem Krieg zwischen der NATO und Russland zu verhindern. Gleichzeitig hielt er jedoch auch an der Unterstützung der Ukraine fest – „auch mit Waffen und solange wie das notwendig ist“.
Die Erklärung des G20-Gipfels auf Bali zu Atomwaffen wertete er als großen Erfolg:
Es ist klar gesagt worden: Diese Waffen dürfen in dem Krieg nicht eingesetzt werden. Der Einsatz oder die Androhung des Einsatzes von Atomwaffen ist unzulässig.“
Experten: NATO nicht bereit, sich in den Krieg hineinziehen zu lassen
Dass die NATO eine russische Urheberschaft des Raketeneinschlags in Polen rasch zurückgewiesen hat, werten Experten als klares Signal. Gegenüber dem „Handelsblatt“ äußerte Stefan Meister, Russlandexperte der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP):
Die NATO will auf keinen Fall in diesen Krieg direkt hineingezogen werden.“
Die Situation sei jedoch riskant gewesen. Eine „Kurzschlussreaktion“ wäre definitiv möglich gewesen. In diesem Zusammenhang übte Meister auch Kritik an der Rhetorik der Ukraine. Zwar wollte weder er noch Friedensforscher Ulrich Kühn von der Universität Hamburg von einer absichtlichen False-Flag der Ukraine sprechen. Für Meister steht jedoch fest:
Die Ukraine und insbesondere Präsident Selenskyj spielen rhetorisch damit, die NATO stärker zu involvieren. Man erhofft sich dadurch mehr militärische Unterstützung.“
Kühn erklärte zum S-300-System, dieses sei relativ alt und stamme noch aus Sowjetzeiten. Russland habe es seit Jahren an diverse Länder verkauft, unter anderem auch an die Ukraine. Grundsätzlich seien die Raketen „recht zielgenau“. Bei dem 40 Jahre alten System könnten „solche Raketen auch mal in eine andere Richtung fliegen“. Zudem könne man nicht kontrollieren, wo die Trümmerteile hinfielen.
US-General Milley hält militärischen Sieg der Ukraine für unwahrscheinlich
Ob sich die Ukraine mit ihrem Versuch, den Vorfall der NATO als vorsätzlichen russischen Angriff zu verkaufen, ein Eigentor geschossen hat, ist ungewiss. Jedoch mehren sich Hinweise dafür, dass ihre westlichen Unterstützer ihre bedingungslose Rückendeckung zunehmend infrage stellen.
So sprach jüngst sogar der ranghöchste US-General, Mark Milley, von der Möglichkeit einer „politischen Lösung“ des Ukrainekonflikts. Gleichzeitig dämpfte er Hoffnungen auf einen kurzfristigen militärischen Sieg der Ukraine. Russland verfüge trotz der Rückschläge noch über eine bedeutende Kampfkraft in der Ukraine, zitiert ihn die „Welt“. In einer Pressekonferenz erklärte Milley:
Die Wahrscheinlichkeit eines ukrainischen militärischen Sieges – definiert als der Rauswurf der Russen aus der gesamten Ukraine, einschließlich der von ihnen beanspruchten Krim – ist militärisch gesehen nicht sehr hoch.“
Chefs von CIA und SWR persönlich in Ankara
Unterdessen mehren sich Gerüchte, wonach die USA und Russland bereits längst über die Köpfe der Ukraine hinweg über einen Waffenstillstand verhandeln könnten. Der „exxpress“ weist darauf hin, dass sich derzeit Geheimdienstspitzen beider Länder in Ankara befänden. CIA-Chef Williams Burns sei ebenso persönlich in der Türkei anwesend wie dessen russischer Amtskollege Sergei Naryschkin.
Offiziell geht es in den Gesprächen um einen Gefangenenaustausch. Die USA bemühen sich demnach um die Freilassung des ehemaligen US-Soldaten Paul Whelan sowie der Basketballspielerin Brittney Griner. Russland legt diesen Spionage beziehungsweise Drogendelikte zur Last.
Allerdings ist es bei Gesprächen über solche Agenden unüblich, dass die Chefs der Geheimdienste persönlich dafür anreisen. Üblicherweise verhandeln in solchen Fällen Abgesandte mit einem entsprechenden Mandat.
Burns war US-Botschafter in Russland und von 2011 bis 2014 stellvertretender Außenminister unter Präsident Barack Obama. „The Atlantic“ nannte den erfahrenen Russland-Experten einmal „die diplomatische Geheimwaffe des Weißen Hauses”. Seine persönliche Anwesenheit in Ankara nährt Spekulationen, es könne bei den Gesprächen um mehr als nur die Inhaftierten gehen.
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