Kohl: EU braucht keine weitere Zentralisierung sondern „nationale und regionale Eigenständigkeiten“
Eine Woche nach dem Votum für einen britischen EU-Austritt hat Altkanzler Helmut Kohl vor einer überhasteten politischen Reaktion gewarnt.
Es gelte, einen vernünftigen Weg im Umgang mit dem Referendum der Briten zu finden, sagte Kohl der „Bild“-Zeitung. Von EU-Seite jetzt die Türen zuzuschlagen, wäre ein Riesen-Fehler. Das Wichtigste: Das Land müsse selbst entscheiden, was es wolle, so Kohl.
Der Sonderstatus Großbritanniens sei, so Kohl, schon immer schwierig und eine Herausforderung gewesen. Dies habe etwas mit der Geschichte des Landes zu tun. Es sei aber auch Teil der Vielfalt in Europa. Was in dem Brexit-Referendum zum Ausdruck gekommen sei, ist für Kohl demnach kein rein britisches Phänomen, sondern spiegelt ein allgemeines Unbehagen der Menschen in Europa wider: "Mehr Europa" heißt für Kohl: "Weniger ist mehr".
Europa müsse eine Atempause einlegen, so Kohl, einen Schritt zurückgehen und dann langsam zwei Schritte vorangehen in einem Tempo, das mit den Mitgliedstaaten machbar sei. Das heißt: Zur Eile sieht Kohl bei Integration derzeit keinen Grund, wohl aber zum Beispiel bei notwendigen Korrekturen zurück zur Rechts- und Stabilitätsgemeinschaft.
Und: Statt weiter zu zentralisieren und ein geeintes Europa mit einem vereinheitlichten Europa zu verwechseln, wiederholte Kohl sein Plädoyer, die nationalen und regionalen Eigenständigkeiten und Identitäten der einzelnen Mitgliedstaaten stärker zu achten und im Miteinander auch wieder mehr Respekt vor der Geschichte und Befindlichkeit des anderen zu haben.
Europas Staats- und Regierungschefs hatten am Mittwoch – ohne Großbritannien – über erste Weichenstellungen für die Zukunft der Union beraten. Sie sprachen sich für eine Reform der EU ohne komplizierte Vertragsänderungen aus. Belgiens Ministerpräsident Charles Michel forderte: „Eine Gruppe von Ländern, die schneller vorangehen will, muss die Möglichkeit haben, dies zu tun, ohne von anderen gehindert zu werden.“
Am 16. September ist ein weiteres Gipfeltreffen der EU-Chefs geplant – wieder ohne Großbritannien. Laut Diplomaten wird vom britischen Premier David Cameron erwartet, spätestens bis dahin Klarheit über den Austrittskurs seines Landes zu schaffen.
Mit Blick auf mögliche Dominoeffekte in anderen Mitgliedstaaten sagte Justizminister Maas der Deutschen Presse-Agentur: „Der Brexit-Schock kann heilsame Wirkung haben – mit dem Ergebnis, dass man sich auf ein solches Wagnis eben nicht einlässt.“ Viele, die sich ähnliche Gedanken gemacht hätten, würden aufgeschreckt sein. „Jetzt sieht jeder, was so etwas für ein Land wie Großbritannien bedeutet.“ Das Vereinigte Königreich bröckele. Und anscheinend gebe es nun keinen Plan für den Umgang mit dem Votum.
In Großbritannien hatte es Zuspruch für einen EU-Austritt vor allem in England und Wales gegeben. In Nordirland und vor allem Schottland sprach sich die Mehrheit hingegen für einen Verbleib in dem Staatenbund aus. Schottlands Regierungschefin Nicola Sturgeon brachte daraufhin eine Trennung Schottlands von Großbritannien ins Gespräch.
Vergangenen Donnerstag hatten rund 52 Prozent der britischen Wähler für einen EU-Austritt gestimmt. Die Regierung in London lässt bislang offen, wann sie das EU-Austrittsverfahren anschieben will. Mehrere Teilnehmer des Gipfels der EU-Staats- und Regierungschefs verlangten von Großbritannien, dies zügig zu tun. (dpa/dts)
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