Kriegsdienstverweigerer stellen EU vor neue Herausforderung
Dass nach der von Russlands Präsidenten Wladimir Putin verkündeten Teilmobilmachung viele Männer das Weite suchen, ist aus Sicht der Bundesregierung erst einmal eine positive Nachricht.
Inwiefern EU-Staaten denjenigen, die nicht in der Ukraine kämpfen wollen, Hilfe anbieten soll, ist aber umstritten. Im Kern geht es darum, ob den Kriegsdienstverweigerern lediglich der Weg über das Asylverfahren offenstehen soll oder ob es eine spezielle Regelung geben sollte, die ihre Einreise in die Europäische Union erleichtert.
Die Bundesregierung wolle auf europäischer Ebene in den nächsten Wochen eine gemeinsame Linie zum Umgang mit russischen Kriegsdienstverweigern erreichen, sagte Regierungssprecher Steffen Hebestreit in Berlin. Es sei „ein gutes Zeichen“, dass nach der am Mittwoch verkündeten Teilmobilmachung viele russische Männer versuchten, sich dem Kriegsdienst zu entziehen. Jetzt gehe es darum, gemeinsam mit den anderen EU-Staaten „eine tragfähige Lösung“ zu finden. In dieser besonderen Situation nur darauf zu verweisen, dass jeder, der es schafft einzureisen, einen Asylantrag stellen könne, sei nicht ausreichend.
EU-Krisentreffen angesetzt
Der Regierungssprecher verwies allerdings darauf, dass aus Sicherheitsgründen in jedem einzelnen Fall die Beweggründe des mutmaßlichen Kriegsdienstverweigerers geprüft werden müssten. Denn es müsse sichergestellt werden, dass derjenige, der aufgenommen werde, niemand sei, der sich im Auftrag der russischen Staatsmacht nach Europa bewege. Die Bundesregierung hatte im April 40 Mitglieder des diplomatischen Personals der russischen Botschaft ausgewiesen, bei denen die hiesigen Behörden von einer Zugehörigkeit zu russischen Nachrichtendiensten ausgingen. Die Sicherheitsbehörden bemühen sich seither, zu verhindern, dass neue Agenten eingeschleust werden.
Ein Sprecher der EU-Kommission sagte, man verfolge die Situation sehr genau. Die Behörde verweist darauf, dass die Betroffenen ein Recht darauf hätten, einen Asylantrag zu stellen. In dieser beispiellosen Situation müssten auch geopolitische Bedenken und Sicherheitsrisiken berücksichtigt werden. Die tschechische EU-Ratspräsidentschaft setzte derweil für kommenden Montag eine Krisensitzung der 27 EU-Botschafter zu dem Thema an. Dies zeige, „wie ernst wir die aktuellen Entwicklungen in Russland und der Ukraine nehmen und wie entschlossen wir sind, eine wirksame Reaktion zu koordinieren“, teilte eine Sprecherin mit.
Finnland will eigene Lösung finden
Russischen Touristen ist es bislang möglich, per Bus oder Auto über die finnische Grenze in den Schengenraum einzureisen. Knapp 6000 Russen kamen am Donnerstag an Grenzübergängen im Südosten Finnlands an, was mehr als einer Verdopplung im Vergleich zum Donnerstag vor einer Woche darstellte. Außenminister Pekka Haavisto kündigte an, Finnland werde eine eigene Lösung finden. Man wolle kein Transitland für Schengen-Visa werden, die andere Länder erteilt haben. Die Grenze zu Russland solle aber nicht komplett geschlossen werden.
Am Freitag informierte auch die zentralasiatische Ex-Sowjetrepublik Kasachstan über vermehrte Migration aus Russland. Die Zahlen der Einreisen mit dem Auto stiegen an verschiedenen Übergängen, teilte der Grenzschutz in der Hauptstadt Astana mit. Zuvor hatten etwa auch die Ex-Sowjetrepubliken Armenien und Georgien im Südkaukasus über massenhafte Einreisen gesprochen. Flüge sind über Tage ausgebucht. Viele Russen fliehen mit dem Auto.
Andere fliegen etwa in die Türkei, wo Russen visafrei einreisen können. Einer von ihnen ist Philip (28) aus Moskau, der am Freitag in Istanbul landet. „Meine Einberufung war nur eine Frage der Zeit, aber ich will nicht Teil dieses Krieges sein“, sagt er der Deutschen Presse-Agentur. Sein 31-jähriger Bruder, ein IT-Spezialist, erwartet ihn. Er hatte Russland schon am 25. Februar – einen Tag nach Beginn des Angriffskrieges gegen die Ukraine – verlassen.
Polen und Tschechien wollen keine Zuflucht gewähren
Pläne für ein Sonderaufnahmeprogramm für russische Kriegsdienstverweigerer gibt es bislang aber weder in Deutschland noch auf EU-Ebene. Über ein Programm, das besonders gefährdeten Dissidenten, Journalisten und Wissenschaftlerinnen Schutz bieten soll, hat Deutschland laut Bundesinnenministerium bisher 438 Menschen aus Russland aufgenommen. Die Entscheidungspraxis des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge für Asylbewerber aus Russland war laut Ministerium bereits im April so geändert worden, „dass im Regelfall die Kriegsdienstverweigerung ein Schutzgrund ist“.
Polen will Kriegsdienstverweigerern aus Russland keine Zuflucht gewähren. „Wir werden keine Gruppe von Russen pauschal nach Polen einreisen lassen, auch nicht solche, die behaupten, sie würden vor der Mobilisierung fliehen“, sagte Vize-Innenminister Marcin Wasik am Freitag dem polnischen öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Es werde in dieser Hinsicht keine Öffnung der Grenze geben. Dies wäre zu gefährlich, da auch diejenigen, die sagten, dass sie nicht in der russischen Armee dienen wollten und vor dem Krieg fliehen, Verbindungen zu russischen Geheimdiensten haben könnten. Nur in Einzelfällen, wenn ein russischer Staatsbürger nachweisen könne, dass ihm in Russland Folter oder Verfolgung aus politischen Gründen droht, könne Polen die Asylvorschriften anwenden und ihm Schutz gewähren, sagte Wasik weiter.
Tschechien steht der Aufnahme von russischen Deserteuren ablehnend gegenüber. „Diejenigen, die aus ihrem Land flüchten, weil sie den Pflichten gegenüber ihrem eigenen Staat nicht nachkommen wollen, erfüllen damit nicht die Bedingungen für die Erteilung eines humanitären Visums“, betonte Außenminister Jan Lipavsky. Später räumte indes Ministerpräsident Petr Fiala ein, dass niemandem das Recht auf ein Asylverfahren abgesprochen werde. Auch Tschechien vergibt bis auf wenige Ausnahmen keine Visa mehr an Russen. (dpa)
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